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Bedeutende Schließung Anja Brand

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Es war eine andere, eine neue Zeit.

Was ich nie zu träumen gewagt hatte, trat plötzlich ein. Ein unbekanntes Virus lähmte die Welt und es kam mir so vor, als würde sich der Erdball eine Spur langsamer drehen.

In China hatte dieser Albtraum begonnen, aber da war es ja noch weit entfernt von uns, und ich war der Meinung, wir hätten noch viel Zeit, um auf die neue Situation zu reagieren. China, am anderen Ende der Welt, weit weg und doch so nah. Ich hatte mich getäuscht.

In der heutigen Zeit, in der es nur kurze Distanzen zu überbrücken gibt, auch wenn die Länder weit voneinander entfernt liegen, war die bedrückende Situation schneller da, als ich es mir ausgemalt hatte. Die ersten Kranken waren nach einer Karnevalsveranstaltung zu verzeichnen und kurze Zeit später beklagten wir die ersten Toten. Unsere Regierung beriet sich mit Wissenschaftlern, man stand im engen Kontakt zum Robert Koch Institut. Um diesem Virus Herr zu werden, wurde einige Wochen später ein Lockdown verhängt. Lockdown, das hört sich harmlos an, ist es aber nicht. Das gesamte öffentliche Leben wurde heruntergefahren. Bars, Restaurants und Cafés mussten zusperren, keiner wusste, wie lange, Existenzangst machte sich breit.

Einzelhandel und Gastronomie mit ratlosen Betreibern. Kinos, Theater, Museen, Sportstätten, alles geschlossen wie auch Schulen, Kindergärten und Universitäten. Nur Apotheken und Lebensmittelgeschäfte zur täglich nötigen Versorgung durften weiterhin ihre Kundschaft bedienen. Ärzte und Krankenhäuser versahen ihre Dienste, wobei die Krankenhäuser und Altenheime keine Besucher mehr einließen.

Keine Besucher, unvorstellbar! Ein alter Mensch in der letzten Phase seines Lebens war eingesperrt. Hatte nur telefonischen Kontakt zu seinen Liebsten, ohne zu wissen, ob man sich jemals wiedersieht. Ein kranker Mensch, vor oder nach einer schweren Operation, mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung, vielleicht ohne Hoffnung auf Besserung oder Genesung, manchmal sterbend ohne seine Familie, ohne Beistand, ohne Abschied. Die Grausamkeit hatte einen Namen: LOCKDOWN.

Dazu kamen Maskenpflicht, Abstände einhalten und hygienische Maßnahmen. Es begannen Hamsterkäufe. Hefe, Mehl, Toilettenpapier wurden zu Mangelwaren.

Aber bei all dieser Dramatik schien ein Thema unser Land besonders zu beherrschen: Der Lockdown für Friseure.

Kaum war der Tag der Schließung bekannt gegeben, wurden Termine verschoben, kurzfristig noch die Kolleginnen und Kollegen reaktiviert. Freie Tage wurden gestrichen, gab es ja bald mehr als genug davon. Lang geplante Urlaube wurden einige Tage nach hinten gelegt, um alle Kunden und Kundinnen noch vor der großen Schließung mit einem frisch gestylten Kopf zu versehen. Wir lernten, wie wichtig Aussehen und Wohlbefinden sind. Es gab lange Warteschlangen vor den Friseurlokalen. Ganz Deutschland schien noch einen Haarschnitt zu brauchen. Und ich mittendrin!

»Schatz, ich muss zu Gloria, noch bevor dieser Lockdown kommt.« Mit diesen Worten setzte ich mich an unseren Küchentisch, warf mit Schwung meine Handtasche auf die Eckbank.

»Na komm«, beschwichtigte mein Ehegespons, »so schlimm ist es nun auch wieder nicht.« Er lächelte mich an, fügte dann verständnisvoll hinzu: »Aber ich kenne dich ja, wenn du meinst, ruf Gloria doch kurz an.«

»Sag nicht, dass du auch noch einen Termin brauchst«, waren Glorias erste Worte, als ich sie an der Strippe hatte.

»Doch, liebe, ach, was sage ich, liebste Gloria. Es muss sein. Ich habe den Termin eigentlich übermorgen und ich habe ihn geschoben, weil ich wenig Zeit hatte. Aber jetzt noch wochenlang mit dem Kopf und den Haaren. Das geht gar nicht!«

Was soll ich sagen? Meine gute Gloria machte es möglich, ich bekam einen Termin »mit etwas Wartezeit«. »Etwas« war in dem Fall eine Stunde, aber ich war froh und dankbar, dass es überhaupt zu diesem Termin kam.

Und dann war er da, der 23. März 2020, der Tag, an dem die Friseure schließen mussten. Das würde schnell vorbei sein, meinte man. Diese Schließung könne ja nicht ewig dauern. Anfangs bemerkte man an den Frisuren kaum Unterschiede. Einige zerzauste Köpfe derer, die keinen rechtzeitigen Termin mehr bekommen hatten, fielen kaum auf. Nach drei Wochen sah man nur noch selten Kurzhaarfrisuren, Drei-Millimeter-Schnitte gab es nicht mehr, außer bei unseren Fußballspielern und bei den Herren, die schon immer ihre Haare von ihren Frauen kurzscheren ließen. Auffallend war, dass die Zweifarbigkeit der Damenfrisuren zunahm.

»Wie gut, dass du schon seit Jahren das Färben deiner Haare aufgegeben hast«, meinte meine Arbeitskollegin und zeigte auf den grauen Ansatz ihrer sonst kastanienbraun gefärbten Haare. Schnell enttarnte man viele der vermeintlich nie alternden Köpfe.

Doch es kam noch schlimmer.

»Rita, wie siehst du denn aus«, entfuhr es mir, als ich eine gute Freundin traf. Eine undefinierbare grünliche Haarfarbe und eine Strubbelfrisur zeugten von einem Färbeversuch in Eigenregie.

Rita schaute auf den Boden und murmelte etwas von »hab ja nur mal versucht« oder vielleicht auch »wollte ja nur versuchen«. Bei dem Gestammel war es nicht so genau auszumachen. Der Versuch war jedenfalls gründlich misslungen, ihre Haare teilweise abgebrochen und der Rest der Pracht in diesem grünlichen Farbton.

Die Renaissance der Kopftücher und Hüte. Tutorials zum Binden von Tüchern zu angesagten Kopfbedeckungen sprossen aus dem Boden. Hüte kamen wieder in Mode und Käppi zu tragen war plötzlich moderner denn je.

Vor allem ältere Männer versteckten gerne den zu lang gewordenen Haarkranz unter einer Schlägermütze. Prominente wie Otto Waalkes machten es vor und Mann machte es begeistert nach.

»Schatz, wo ist meine Kappe?«, rief mein Mann und ich kramte bereitwillig und ohne jegliche Aufforderung die Haarschneidemaschine aus dem Schrank. Selbst ist die Frau! Das wollte ich mir nicht ansehen, er und Käppi …

Nach Wochen war der Spuk endlich vorbei und ein Aufatmen ging durch unser Land.

Nach und nach verschwanden die unfrisierten Köpfe und es hatte etwas von Normalität. Nur vorbei war der Spuk noch lange nicht. Nach einem etwas gelockerten Sommer und ersten Versuchen, das Kontaktverbot teilweise aufzuheben, kam die zweite Welle.

Heftiger als die erste, mit vielen Kranken auf den Intensivstationen und leider auch mit vielen Todesopfern. Nur zurecht hieß es erneut, alles zu tun, um dieser Lage Herr zu werden.

Und wieder LOCKDOWN!

Die, die gerne Weihnachten mit tollen Frisuren verbringen wollten und deshalb ihren Friseurbesuch bis kurz vor das Fest schieben wollten, hatten das Nachsehen.

Am 16. Dezember schlossen die Friseursalons ein zweites Mal und dieses Mal auf unbestimmte Zeit. Wieder begann alles ganz harmlos, die Haare wurden länger bei allen oder besser, bei fast allen. Einige Politiker allerdings hatten auf wundersame Weise immer dieselbe gut gestylte Frisur.

»Ob die Haare wohl bei denen, immer wenn sie eine bestimmte Länge erreichen, einfach abfallen«, fragte ich meinen Gatten eines Abends beim Fernsehen.

»Die, die immer schon lange Haare hatten, fallen erst recht nicht auf, manchmal noch nicht einmal durch das, was sie sagen,« meinte mein Mann.

Auf jeden Fall Glück für jene, die Zopf-, Knoten- oder Pferdeschwanzträger waren. Die veränderten sich nicht. Auch gerne genommen wurde glatt nach hinten gegelt, oder »aalglatt«, wie ich immer sagte.

Der nächste Slogan machte die Runde: Weg mit der Corona-Matte! Einfacher gesagt als getan.

Alle möglichen und unmöglichen Onlineanleitungen füllten das Netz. »Haare selbst schneiden, leicht gemacht für jedermann«, hielt leider nicht, was es versprach.

Sogenannte Treppenfrisuren oder Prinz-Eisenherz-Schnitte waren keine Seltenheit. Einmal mit der Schere vor dem Spiegel schienen manche Menschen überhaupt keine Skrupel mehr zu kennen. Aber es gab ja noch die Tutorials »Tuch drauf – Mütze auf« aus dem ersten Lockdown.

Für Leute, die auf professionelle Hilfe zurückgreifen wollten, boten manche Friseure an, ihre Produkte an der Ladentür kaufen zu können. Zusätzlich gab es beim Einkauf wertvolle Tipps gratis vom Fachmann.

Eine Nachbarin begegnete mir mit geröteten Augen auf der Straße und mit einer Mütze auf dem Kopf.

Auf meine Frage, was denn los sei, antwortete sie: »Mir sind fast alle Haare direkt am Ansatz abgebrochen. Ich habe versucht zu blondieren. Dabei steht auf der Gebrauchsanweisung genau, wie man es machen soll. Na ja, ich habe wohl bei dem Telefonat die Zeit etwas vergessen und dann«, fügte sie weinerlich hinzu, »dann hat es angefangen zu brennen. Sofort habe ich das Zeug abgewaschen und hatte fast alle meine Haare in der Hand.«

Da bekommt der Spruch »wer schön sein will, muss leiden« eine ganz andere Bedeutung.

Mein Arbeitskollege meinte sarkastisch, natürliche Schönheit käme von innen. Leicht gesagt, er trug Glatze, auch eine nette und besonders pflegeleichte Frisur.

Mein Kurzhaarschnitt begann zu wuchern. »Vielleicht doch ganz gut, dass du das schon früher an deiner Puppe versucht hast und später an deinem Mann«, sprach ich mir selbst Mut zu, als ich mit der Schere bewaffnet vor dem Spiegel im Badezimmer stand. Zum Glück wusste ich, dass sich Haare nach dem Trocknen hochziehen, also kürzer erscheinen. Diese leidvolle Erfahrung hatte ich im Frühjahr schon gemacht. Also schnitt ich mir nur trocken die Haare, um die Länge besser beurteilen zu können.

Dann wurde in einer Nachbarstadt ein illegaler Friseursalon entdeckt. Sein Inhaber betrieb im Keller einen gut florierenden Salon. Man fand nicht nur das Handwerkszeug, sondern auch ungefähr zwanzig Leute, die sich dort aufhielten. Bezeichnend war, dass es sich hier ausschließlich um Männer gehandelt hatte.

»Ne, ne«, sagte mein Mann zu mir, als ich ihm davon berichtete, »dann doch lieber eine Frisur wie ein Wiedehopf.« Recht hatte er.

Bei aller Not, der Lockdown dauerte an. Man hatte einen Impfstoff gefunden, die Erleichterung war groß. Der Protest wuchs und die Zahlen der Infizierten sanken. Das lag auch an den immer mehr in Anspruch genommenen Impfungen. Langsam nahm die Sache Fahrt auf. Lange Warteschlangen gab es jetzt zur Abwechslung mal vor den Impfzentren.

Dann, die Erlösung!

Nach fast elf Wochen war es vorbei. Die Friseure durften unter strengen Hygieneauflagen wieder öffnen. Eilig wurden neue Konzepte erstellt und die alten Hygienekonzepte angepasst. Händehygiene, genug Abstand auch zum Nebenstuhl, FFP2-Maske, immer eine Haarwäsche vor jeder Behandlung.

Der erste Haarschnitt war wahrhaftig um null Uhr und wurde sogar mit einer Fernsehkamera dokumentiert.

Die Telefone in den Salons standen nicht mehr still, auch schon Tage vor der Öffnung versuchten die Menschen Termine für einen Friseurbesuch zu bekommen. Es schien, als brauchte das ganze Land einen neuen Haarschnitt. Die Scheren klapperten, literweise Haarfarbe wurde angerührt und auf Köpfe verteilt. Unsere kleine Einkaufsstraße mit mehreren Friseursalons roch wie eine einzige Farbmeile. Chemische Mischungen, wie die zur Dauerwelle, verbreiteten zusätzlich ihre ganz eigenen Gerüche. Lange Schlangen bildeten sich vor den Ladenlokalen, trotz telefonischer Terminvergabe. Fast jeder Termin zog sich in die Länge, weil es nicht immer einfach war, die Unglücksfrisuren zu beseitigen oder wenigstens zu kaschieren.

»Was meinst du, was ich alles gesehen habe«, erzählte Gloria lachend. »Da ist dein Versuch harmlos und ganz gut ausgefallen. Hier ist jede Frisur eigentlich ein Neuschnitt, weil alle so wild aussehen. Jeder Termin dauert länger als früher, jede Frisur muss neu kreiert werden. Ganz zu schweigen von Färbungen und Dauerwellen. Ich habe gerade noch einen radikalen Schnitt machen müssen, bei dem auch Tränen geflossen sind. Aber das war so schlimm, da konnte ich beim besten Willen nichts mehr retten. Gut, dass Haare nachwachsen.«

Da war er wieder, ihr unerschütterlicher Optimismus, wegen dem ich Gloria so mochte. Sie war immer fröhlich und gut gelaunt, trotz vieler Entbehrungen, die die Coronazeit für alle, auch in diesem Handwerk Beschäftigte, mit sich gebracht hatte. Die Gehälter waren und sind hier alles andere als üppig. So manche Fachkraft lebte auch von Trinkgeldern oder Boni, die von den Betreibern gezahlt wurden. Dann der plötzliche Fall von Normalverdienst auf Kurzarbeitergeld und dazu noch die fehlenden Sonderzahlungen. Das war ein hartes Brot für alle Beschäftigten dieser Branche.

Da wunderte es mich auch nicht, als Gloria von vielen privaten Anfragen erzählte, die sie in dieser Zeit erhalten hatte. Für sie ein No-Go. Der Lockdown war dazu da, auch sie und ihre Kolleginnen und Kollegen zu schützen, das war ihr immer bewusst.

Schwarzarbeit, wie viele sich dazu haben hinreißen lassen wird wohl nie bekannt werden. Schlimm, vor allem wenn man bedenkt, dass diese Menschen alle ein großes Risiko eingegangen sind, ungeimpft und das bei einer solchen Pandemie.

Heute ist von Lockdown keine Rede mehr. Auch in der Politik ist man sich einig, dass man einen erneuten Stillstand nicht mehr riskieren darf, denn sonst stünden etliche Unternehmen auf der Kippe, stehen sie doch schon jetzt mit dem Rücken zur Wand.

Wie wichtig unsere Friseursalons sind, wissen wir seit spätestens diesem Jahr. Dabei geht es nicht nur darum gut auszusehen, sondern auch um körperliches und seelisches Wohlbefinden.

Wir werden uns sicher immer an den Tag erinnern, an den Tag, an dem die Friseure schließen mussten.

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