Читать книгу Geschichten von A bis Z - Autorengemeinschaft Aussagekräftig - Страница 14

Gut gewürzt muss es sein Edda Kedzior

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Seine Frau wünscht sich mehr Aufregung im Leben. Hannes schluckt schwer, umfasst kraftvoll das Lenkrad, während er seinen Wagen auf den Firmenparkplatz lenkt. Im Geist rekapituliert er das gestrige Gespräch.

»Wir unternehmen kaum noch etwas gemeinsam«, sagte Inga. »Es ist so, als säßen wir beide in einer virtuellen Waschmaschine, die immer wieder das gleiche Programm durchläuft.« Sie räusperte sich, fügte leise hinzu: »Mit lauwarmem Wasser.«

Das saß. Er hatte vor, zu protestieren, doch die Worte wollten sich nicht zu Sätzen verbinden. Sie blieben in seinen Gedanken verfangen.

Das Gefühl, grundlos angegriffen worden zu sein, breitet sich nun aufs Neue in ihm aus. Auf dem Firmengelände angekommen, steigt er langsam aus, beobachtet die weißen Wölkchen seines Atems und spürt den beißendenden Wind im Gesicht. Augenblicklich schlägt er den Kragen des Mantels hoch, dann geht er vorsichtig über das rutschige Kopfsteinpflaster in Richtung des hohen Gebäudes, in dem er bereits seit über dreißig Jahren arbeitet. Es ist noch keine sieben Uhr und alles um ihn herum hüllt sich an diesem eiskalten Januartag in finstere Dunkelheit.

Wie jeden Morgen ist er einer der Ersten. Es ist ihm einfach wichtig, in Ruhe zu frühstücken, bevor der allmorgendliche Trubel losgeht.

»Guten Morgen, Herr Holm«, hört er die raue Stimme des Pförtners, sobald er den Eingang passiert.

»Morgen«, erwidert Hannes und betet innerlich darum, der Mann möge heute ausnahmsweise einfach nur schweigen.

»Schon wieder Montag.« Der Pförtner seufzt. »Das ist so hart, nicht wahr? Das Wochenende vergeht einfach viel zu schnell! Wenn wenigstens schon Mittwoch wäre!« Hannes nickt. Tatsächlich hasst er Montage auch. Aber wer tut das nicht? Eine Menge Arbeit wartet schon auf ihn.

Als Produktdesigner hat er spätestens zum Ende dieser Woche die vorhandenen Zeichnungen der neuen Anlage zu überarbeiten. Jetzt entfährt ihm ebenfalls ein tiefer Seufzer. Manchmal wünscht er sich, obwohl er erst knapp über fünfzig ist, er wäre bereits Rentner. Um auf andere Gedanken zu kommen, beschwört er in seinem Geist das Bild von einem Brötchen mit einer doppelten Portion Rührei, das er gleich in der Kantine holen wird. Schwerfällig steigt Hannes die Stufen bis zur zweiten Etage hoch. Als er sich schnell atmend der Betriebskantine nähert, vernimmt er plötzlich laute Musik. Abrupt bleibt er stehen, sieht sich verdattert um und lauscht. Was ist denn das? Je näher er kommt, desto lauter werden die Klänge. Es hört sich nach südamerikanischen Rhythmen an. Unglaublich! Und das zu einer so frühen Stunde!

Er schüttelt den Kopf. Was hat sich Helmut dabei bloß gedacht? Der Kantinenbetreiber ist normalerweise ein sehr ruhiger Mensch. Ärgerlich stößt Hannes die Tür zur Kantine auf und bleibt wie angewurzelt im Türrahmen stehen.

Ein großgewachsener dunkelhäutiger Mann mit krausem Haar tanzt da mitten im Raum! Zwischen all den Stühlen und Tischen bewegt er seine Hüfte im Takt der Musik und dreht sich dabei in regelmäßigen Abständen um die eigene Achse. Er tanzt mit geschlossenen Augen! Seine Armbewegungen machen fließende Verrenkungen, was sogar anmutig wirkt.

Hannes kann nicht anders, als den Unbekannten mit offenem Mund anzustarren. Doch einen kurzen Augenblick später bleibt der Tänzer mitten in der Bewegung stehen, sein Blick bleibt auf ihm hängen.

»Hallo«, ruft Hannes so laut, wie er nur kann, um den Lärm zu übertönen, während er auf den Unbekannten zusteuert.

»Hi«, tönt es ihm entgegen. »Du jetzt schon hast Hunger?« Seine Stimme hat ein angenehmes dunkles Timbre. Aus der Nähe betrachtet ist der Mann um einiges älter, als Hannes ihn ursprünglich geschätzt hat. Im Gesicht sind ausgeprägte Falten zu erkennen und seine Locken, die wie die Ranken einer Kriechpflanze aus dem Kopf sprießen, sind zum Teil silbergrau.

»Könnten Sie bitte die Musik ausschalten«, sagt nun Hannes mit Nachdruck.

Sein Gegenüber stutzt, fischt aber dann sein Smartphone aus der Hosentasche heraus und stellt damit die Musik leiser. Breit lächelnd, wodurch er eine Reihe wunderbar weißer Zähne entblößt, bewegt er sich wieder fast unmerklich zum Rhythmus der Musik.

»Du magst Bossa Nova? Die Musik ist gut, ist gut für… «, er kräuselt die Stirn, sucht offenbar nach einem passenden Ausdruck. Als der ihm anscheinend einfällt, hellt sich sein Gesicht blitzartig auf. »Gut für Seele«, ergänzt er und grinst.

Hannes geht darauf nicht ein. »Wo ist Helmut?«, fragt er stattdessen.

»Helmut nicht da. Ich jetzt hier Koch.«

»Ach so.« Hannes macht sich nicht die Mühe, seine Verblüffung zu verbergen.

»Nur paar Tage Vertretung«, informiert ihn der Neue. »Ich bin Avid aus Brasilien«, stellt er sich nun vor und rollt währenddessen seine Hemdsärmel bis zu den Ellbogen hoch. »Was möchtest du essen?«

»Wo sind die Brötchen mit Rührei?« Hannes nimmt die Verkaufstheke ins Visier, doch er kann in keinem der Regale belegte Brötchen finden. Ärger überrollt ihn. Anstatt seinen Hintern in der Gegend zu schwingen, sollte der Typ lieber seiner Arbeit nachgehen! Und respektlos ist er auch! Hannes kann sich nicht erinnern, ihm das Du angeboten zu haben.

»Ich mache dir Brötchen. Also mit gerührtem Ei, richtig?«

»Ja, zwei helle Brötchen mit doppelter Schicht Rührei.«

Avid nickt und verschwindet im hinteren Bereich der Kantine, wo er nicht mehr zu sehen ist. Nur die Geräusche des klappernden Geschirrs, der aufschlagenden Eier auf der Pfanne und des Brutzelns sind zu vernehmen. Ein herrlicher Duft steigt Hannes in die Nase, das Wasser läuft ihm im Mund zusammen.

Früher als erwartet ist Avid wieder zurück, drückt ihm eine gefüllte braune Papiertüte in die Hand.

»Ich brauche Salz«, fällt Hannes noch ein. Von Helmut bekam er immer automatisch zwei Tütchen mit Salz kostenlos dazu.

Avid schüttelt energisch mit dem Kopf.

»Ach, das Ei ist schon gesalzen?«

Wieder schüttelt Avid mit dem Kopf.

Einige Sekunden lang herrscht Stillschweigen, dann bekommt Hannes endlich die Antwort. »Das Ei hat Würze bekommen. Kein Salz. Wie Leben, auch Ei muss gut gewürzt sein.« Es klingt wie eine sachliche Feststellung.

Noch bevor Hannes reagieren kann, dreht sich der neue Koch um und verschwindet erneut im Küchenbereich. Kurz darauf ertönt wieder ganz laut die brasilianische Musik.

Am darauffolgenden Morgen schneit es. Die Schneeflocken, die während der Autofahrt zur Arbeit noch träge im Licht des Scheinwerfers getanzt haben, fallen jetzt in dichten diagonalen Schwaden auf die Erde. Schnellen Schrittes überquert Hannes den Firmenparkplatz. Wieder im Trockenen klopfte er seinen Mantel ab.

»Morgen, Herr Holm.«

»Morgen«, antwortete Hannes, während er versucht, sich schnell an dem Pförtner vorbeizuschleichen.

»Heute ist erst Dienstag. Die Woche ist noch lang. Und dann noch dieses Mistwetter dazu.« Mit jedem Wort ändert sich seine Stimme, als würde die Batterie zu Ende gehen.

Hannes schweigt und entfernt sich rasch. Er fühlt sich innerlich wie ausgedörrt. Zwischen seiner Frau und ihm herrscht immer noch angespannte Stimmung. Schlecht geschlafen hat er auch. Wenn er gleich gegessen hat, wird es ihm besser gehen, tröstet er sich. Vielleicht sollte er sich heute drei Brötchen gönnen? Wie schon gestern hört er in der Nähe der Kantine laute Musikklänge. »Copacabana«, dringt es ihm diesmal ins Ohr. »At the copa, Copacabana.«

Er schüttelt missbilligend den Kopf. Doch zu seinem Erstaunen merkt er, dass die Musik ihn erheitert. Seine Laune bessert sich.

»Ei schmeckte gut gestern?«, fragt ihn Avid zur Begrüßung. Unaufgefordert dreht er die Lautstärke herunter.

»Ja«, gibt Hannes zu. Er muss sich eingestehen, dass es in der Tat mehr als gut schmeckte. Einfach köstlich, auch ohne Salz. Es war mit irgendwelchen Kräutern gewürzt. »Ich nehme heute drei Brötchen mit viel Rührei, wie gestern.«

Avid lacht leise auf, sieht ihm unerwartet eindringlich in die Augen, betrachtet ihn dann einige Sekunden lang forschend. Der Blick ist so intensiv, als sei er darauf aus, jede von Hannes’ Zellen kennenzulernen, jede einzelne. Dann lacht er nochmals auf, diesmal schallend, und klopft sich dabei mit dem rechten Zeigefinger auf die Stirn, als wäre plötzlich eine überraschende Erkenntnis über ihn gekommen.

»Zwei Brötchen reichen. Aber mache Ei anders heute«, verkündet er. »So ganz gut gefällst du mir immer noch nicht«, setzt er nach.

Hannes verschlägt es die Sprache. Er will eigentlich widersprechen, entgegnen, dass er wohl selbst in der Lage wäre, über sich zu bestimmen, doch er bringt kein Wort heraus. Die Verrücktheit dieses Mannes macht ihn einfach sprachlos.

Als er nach einer Weile seine Brötchen entgegennimmt, erkundigt er sich nach Helmut.

»Ihm geht super«, berichtet Avid. »Ich habe ihm gesagt, mache Urlaub, Helmut, und Helmut jetzt glücklich.«

Schon wieder hat ihn der Mann überrascht. »Du kennst Helmut gut?«

»Ja, ich bin sein Freund. Viele Jahre schon sein guter Freund. Helmut früher nie Pause gemacht.«

Hannes durchforstet sein Gedächtnis und muss tatsächlich zugeben, dass er sich nicht daran erinnern kann, wann der Kantinenbetreiber zuletzt Urlaub gehabt hat.

»Jetzt lacht Helmut wieder. Er ist am Meer. Hier in Deutschland kalt am Meer, aber Seele trotzdem glücklich.«

»Schön«, erwidert Hannes. Er kennt Helmut nur als einen angespannten, wortkargen Mann. Insgesamt zweifelt er daran, dass die beiden so gute Freunde sind. Sie passen nicht zusammen. Es kann ihm aber auch egal sein, was der Brasilianer erzählt.

»Helmut muss jetzt aber arbeiten«, fügte der Vertretungskoch danach an.

»Arbeiten? Im Urlaub?«

Avid lässt sich Zeit mit der Antwort. Erst als er Hannes anblickt und seinen erstaunten Gesichtsausdruck bemerkt, ergänzt er: »Nein, nein! An sich selbst arbeiten. An Energie.«

»An Energie?«, Hannes ist noch irritierter als zuvor. Er versucht, die aufsteigende Ungeduld niederzuringen. Warum unterhält er sich mit diesem Verrückten? Er könnte sich einfach umdrehen und gehen. Doch da ist auch Neugierde und eine unerklärliche Faszination, die von diesem Mann ausgeht und ihn fesselt.

Nun stehen sie beide für eine Weile stumm und regungslos da.

Als Hannes schon mutmaßt, das Thema wäre beendet, unterbricht Avid die Stille. »Energie wichtig im Leben.« Er macht eine fließende Bewegung mit seiner rechten Hand in Richtung der Decke. »Energie vom Leben«, erklärt er. Obwohl sein Gesicht ernst wirkt, leuchten seine Augen, als versprühten sie Funken. »Energie ist wertvoll. Energie von Gott! Nicht wegschütten! Im Jetzt leben! Aufwachen und leben!« Avids Blick bohrt sich in seinen. Dann fährt er fort: »Wenn ich koche, dann koche ich, wenn ich tanze, dann tanze ich! Im Jetzt! Jeder selbst Schöpfer! Du auch Schöpfer!«

Hannes hört ihm aufmerksam zu. Obwohl er normalerweise von derartigen Parolen nichts hält, kann er diesmal die Augen nicht von dem Brasilianer abwenden. Er kommt sich vor, als wäre er hypnotisiert. Die Erinnerung an die erste Begegnung mit Avid drängt sich in sein Gedächtnis. Wie wild und lebendig er beim Tanzen ausgesehen hat! So leidenschaftlich. Leidenschaft, die Hannes fehlt.

»Jetzt geh«, hört er Avid sagen. »Sag morgen, wie Ei geschmeckt.«

Als Hannes schnellen Schrittes am Mittwochmorgen die Stufen im Firmengebäude erklimmt, wird ihm bewusst, dass die Lethargie, die ihn in der letzten Zeit fest im Griff hatte, allmählich zu schwinden beginnt. Er fühlt sich nicht mehr so zerschlagen wie sonst. Seit gestern kann er an fast nichts anderes denken als an Avids Worte über die Lebensenergie. Er versteht es selbst nicht, denn er ist eigentlich ein bodenständiger und pragmatischer Mensch, der nicht schnell beeinflussbar ist. Es ist beinahe so, als hätte sich sein Geist mit einem merkwürdigen Virus infiziert, der seither in seinem Blut kreist. Mit einem wohltuenden Virus, der das Leben intensiver macht. Als der Pförtner ihm vorhin davon erzählte, dass am Mittwoch immer das Bergfest wäre, weil dann die Spitze der Wochenmitte erreicht sei und es wieder bis zum Wochenende bergab gehe, verspürte er plötzlich ein Gefühl vom aufkommenden Bedauern. Es kam ihm in den Sinn, dass die meisten Menschen, ihn selbst eingeschlossen, den gesamten Tag auf den Abend warten, die gesamte Woche auf den Freitag, auf das Wochenende und dann auf ihren Urlaub. Ist das nicht so etwas wie verschwendete Energie, fragt er sich nun. Das ganze Leben lang wartet man auf bessere Zeiten, und in all dem Warten verpasst man zu leben.

»Aufwachen und leben«, sagte Avid gestern.

Hannes merkt, wie sehr er sich heute auf die Begegnung mit diesem Mann freut. Seine Verrücktheit hat eine Weisheit inne, von der er tatsächlich mehr erfahren möchte. Avid ist ein besonderer Mensch und auch seine Brötchen schmecken ganz besonders.

»Ei geschmeckt?«, ist das Erste, was Hannes zu hören bekommt, als er die Kantine betritt.

Hannes nickt und schmunzelt.

»Du siehst besser aus«, murmelt der Koch, während er ihn mit zusammengekniffenen Augen konzentriert betrachtet. Auch diesmal ist sein Blick sehr eindringlich.

»Du siehst mich an, als wolltest du herausfinden, was sich unter meiner Haut verbirgt«, sagt Hannes und kann sich dabei das Grinsen nicht verkneifen.

Doch Avid bleibt ernst. »Ich noch etwas anderes probieren«, informiert er ihn, nachdem seine Musterung abgeschlossen ist.

»Wie meinst du das?«, möchte Hannes wissen. Der Brasilianer erstaunt ihn immer wieder aufs Neue.

Seiner Frage folgt eine Gegenfrage: »Wer bist du? Ich möchte dich besser kennen.« Erwartungsvoll sieht er ihn an.

Hannes räuspert sich. »Also, ich bin Projektmanager. Ich beschäftige mich mit technischen Zeichnungen.«

»Und mehr?«

In ein paar Sätzen schildert er ein paar Einzelheiten aus seinem Leben. Doch dann hält er plötzlich mitten im Satz inne. »Warum interessiert dich das?«

»Ich will helfen.« Dann, ohne eine Rückmeldung abzuwarten, verschwindet Avid in der Küche und übergibt ihm nach einer Weile kommentarlos die Brötchen.

»Danke.« Hannes brennt noch eine Frage auf der Zunge: »Wie meintest du das gerade? Ich brauche nämlich keine Hilfe.«

»Du am Anfang sehr angespannt. Deine Seele war …«, er überlegte kurz »… war voll Dichte.«

»Okay«, meint Hannes zögerlich.

»Durch meine Gewürze jetzt besser. Noch nicht perfekt. Heute aber wird noch besser. Ich für dich großartige Gewürzmischung gefunden!« Während er spricht, strahlen seine Augen.

»Du experimentierst an mir mit Gewürzen?«

»Ich suche Gewürz passend zur Seele«, verrät Avid. »Gott uns Kräuter gegeben für Heilung.«

»Und du würzt einfach mein Ei mit irgendwelchen Kräutern, damit ich geheilt werde?« Er spürt auf merkwürdige Weise keine Verärgerung bei dieser Erkenntnis, sondern fühlt sich gut aufgehoben bei Avid. »Du hättest mich vorher fragen können.«

»Ich helfe, nicht frage«, lautet seine knappe Antwort. »Warum dich fragen? Du kennst nicht Antwort.«

Hannes starrt ihn perplex an, wieder mal unfähig, etwas zu sagen.

Avid starrt zurück und schon im nächsten Augenblick wirft er den Kopf in den Nacken und bricht in schallendes Gelächter aus.

Hannes’ Lippen zucken. Er versucht, noch ein Lachen zu unterdrücken, doch es gelingt ihm nicht. Ein unkontrolliertes und wirres Kichern entspringt seiner Kehle.

Am Donnerstagmorgen hört Hannes seinen Wecker nicht. Als er aufwacht, dämmert es bereits. Er hat seit langer Zeit nicht mehr so tief geschlafen. Der Blick auf die Uhr zwingt ihn zur Eile.

Insbesondere möchte er Avid noch unbedingt einige Fragen stellen, herausfinden, ob er wirklich der Meinung ist, dass er mit seinen Kräutermischungen die seelische Verfassung beeinflussen kann. Die ganze Situation kommt ihm so grotesk vor.

Vielleicht nutzt Avid lediglich seine momentan labile Verfassung und macht sich insgeheim nur lustig über ihn?

In der Firma angekommen, bewältigt Hannes die vielen Stufen mühelos, als hätte er Sprungfedern unter den Schuhsohlen. Er ist hellwach und fühlt sich so lebendig, wie schon lange nicht mehr. Ist es etwa diese Art von Lebensenergie, von der Avid sprach, die ihn jetzt erfüllt? Dann scheint das Rührei mit Kräutern geholfen zu haben.

Als er in die Kantine stürmt, ist er aufgrund der späten Stunde leider nicht der einzige Besucher. Ungeduldig stellt er sich in die Schlange und beobachtet den Koch bei seiner Arbeit. Er kann aufgrund der Entfernung und der lauten Musik nicht immer genau hören, was Avid mit den Kunden bespricht, doch er merkt, dass manche Mitarbeiter nicht nur wegen des Frühstücks da sind. Offensichtlich haben sie auch viele Fragen an ihn und der Brasilianer hat keine Eile. Hin und wieder lacht er und strahlt dabei im Gegensatz zu ihm selbst eine faszinierende innere Ruhe aus.

Für einen Moment pirscht sich an Hannes ein unbehagliches Gefühl wie ein Raubtier heran. Ungeduldig und genervt schaut er ständig auf die Uhr. Seine gute Laune von vorhin ist wie weggeblasen. In einer halben Stunde würde die Konferenz mit seinem Vorgesetzten beginnen. Er hat gestern voller Tatendrang um einen Besprechungstermin gebeten, da er einige Verbesserungen an den Anlagen ausgearbeitet hat und sie nun heute vorstellen wird. Obwohl die Zeit drängt, ist es keine Option, auf die Brötchen mit Rührei zu verzichten. Und noch vielmehr ist es ihm wichtig, Avid kurz für sich allein zu haben.

Als er dann endlich an die Reihe kommt, sprudelt es aus ihm heraus: »Avid, du musst mir mehr über die Gewürze verraten!«

Der Koch geht auf seine Frage nicht ein. »Ich mich freue sehr, dass dir gut geht!«, sagt er, nachdem er ihn kurz, aber eindringlich taxiert hat. »Mach weiter so, alles mit Liebe.«

»Ich brauche ganz kurz deinen Rat«, sagt Hannes gehetzt.

»Nicht jetzt«, unterbricht ihn Avid, legt die Tüte mit dem Frühstück auf der Theke ab und begrüßt schon den Nächsten, der hinter Hannes steht. Er würdigt ihn keines Blickes mehr. Das ursprüngliche Unbehagen springt in Enttäuschung über.

Mit der flachen Handfläche schlägt sich Hannes auf die Stirn. Am liebsten würde er sich selbst ohrfeigen! Avid ist doch nur ein Koch, genau genommen nur eine Vertretung eines Kochs! Warum lässt er sich von diesem Mann herumkommandieren? Alles mit Liebe, äfft er ihn wütend in Gedanken nach. Warum ist es wichtig, was dieser merkwürdige Kauz sagt? Warum eigentlich ist seine Ablehnung so verletzend?

Mit aller Kraft reißt sich Hannes zusammen. Er wird sich jetzt auf das bevorstehende Meeting konzentrieren. Und Avid kann ihm gestohlen bleiben. Er wird heute die Kantine nicht nochmals betreten.

In der Nacht zu Freitag hat es geregnet. Vom Schnee ist weit und breit nichts mehr zu sehen. Während Hannes auf dem Weg zur zweiten Etage jeweils drei Stufen auf einmal nimmt, lässt er nochmals den gestrigen Tag kurz Revue passieren. Die Besprechung verlief gut. Sein Vorgesetzter war von den Vorschlägen begeistert und versprach, sich für die Umsetzung der Pläne einzusetzen. Gelang es ihm, so überzeugend zu wirken, weil er für dieses Projekt brennt? Weil er die Leidenschaft wieder spürt? Fast wie damals als Student, der vorhatte, die Welt zu verändern? Das muss es sein. Das innere Feuer brennt wieder in ihm! Wie konnte das bloß in so einer kurzen Zeit passieren? Er ertappt sich dabei, dass er diesen Erfolg mit Avid teilen möchte. Seine Verärgerung ist längst verflogen.

Beschäftigt mit diesen Gedanken fällt es Hannes zunächst gar nicht auf, dass an diesem Morgen etwas anders ist. Erst als er die Kantine betritt, realisiert er eine merkwürdige Stille. Wo ist denn die brasilianische Musik?

»Hallo«, ruft er. »Avid?«

»Hallo«, antwortet eine weibliche Stimme. Eine stämmige Frau mit weißer Schürze kommt hinter der Theke hervor.

Suchend blickt sich Hannes um.

»Kann ich helfen?«

»Ich dachte, ich würde hier auf Avid treffen«, gibt er verunsichert von sich. »Den neuen Koch, Avid«, fügt er rasch hinzu.

»Avid arbeitet hier nicht mehr«, informiert ihn die Frau.

»Er ist nicht mehr hier?« Er hört, wie schrill seine eigene Stimme klingt.

Sie schüttelt den Kopf. »Helmut, der ursprüngliche Betreiber, hat die Kantine an mich übergeben. Allerdings hatte ich noch bis heute andere Verpflichtungen, sodass sein Freund Avid Pandeiro eingesprungen ist«, berichtet sie.

»Und er kommt heute gar nicht mehr?«

»Nein, leider nicht.«

Hannes fährt zusammen. Kurz und heftig, als hätte sie ihm eine Brennnessel ins Gesicht geschlagen. Er spürt eine tiefe Traurigkeit.

Auch die neue Kantinenbetreiberin macht eine traurige Miene. »Er ist wieder nach Brasilien zurück. Ich hätte diesen faszinierenden Mann sehr gerne kennengelernt. Ich habe ein Buch von ihm gelesen und war so begeistert.«

»Avid ist ein Autor?«

»Autor? Viel mehr als ein Autor! Er ist einer der bekanntesten südamerikanischen Schamanen. Ein Therapeut, ein wahrer Heiler«, schwärmt sie. »Er kann sogar die menschliche Aura lesen.« Sie beäugt ihn plötzlich argwöhnisch. »Sagen Sie bloß, Sie wussten das nicht?«

»Nein«, gibt Hannes zu. »Ich hielt ihn für einen Aushilfskoch.«

Die Frau schmunzelt. »Wie machte er sich eigentlich als Koch?«

»Hervorragend«, erwidert Hannes nachdenklich. »Er arbeitete mit großer Leidenschaft.« Auch er lächelt wieder. »Ich werde nie seine Brötchen mit doppelter Schicht Rührei vergessen«, murmelt er und bedauert sehr, dass er sich bei Avid nicht mehr bedanken kann.

Als Hannes am Ende des Arbeitstages an dem Pförtnerhäuschen vorbeigeht, hört er den Pförtner rufen und stöhnt innerlich auf. Er hat wahrlich keine Lust auf ein Gespräch mit diesem andauernd jammernden Mann. Egal, was kommt, wird er versuchen, Avids Lehre zu befolgen und die eigene Lebensenergie nicht mehr zu vergeuden.

»Herr Holm, hier ist ein großer Umschlag mit einem Brief für Sie!« Der Mann ist ihm nachgelaufen.

»Ein Brief?«, fragt Hannes irritiert. »Von wem?«

»Ich habe den Namen vergessen. Es war so ein Ausländer. Dunkelhäutig und merkwürdig gut gelaunt.«

Aufgeregt nimmt Hannes einen gelben dicken Umschlag entgegen.

»Danke«, presst er hervor und hat es plötzlich sehr eilig, das Firmengebäude zu verlassen.

Sobald er im Auto sitzt, öffnet er den Umschlag. Zwei prall gefüllte Säckchen kommen zum Vorschein. Daneben ein Kärtchen.

Gierig beginnt er zu lesen: Lieber Hannes. Hier habe ich für dich richtige Würze. Aber denke daran. Kraut nicht nur für Rührei gut. Auch Leben braucht richtige Würze! Gut gewürzt muss es sein. Und immer alles mit Liebe! Viele Grüße Avid Pandeiro.

Hannes schließt für einen Moment die Augen und spürt, wie ihn tiefe Dankbarkeit durchflutet. Durch Avid hat sein Leben eine Wendung bekommen.

Und bereits ein paar Sekunden später kommt ihm die zündende Idee: Heute Abend wird er seine Frau mit der Anmeldung für einen Samba-Tanzkurs überraschen! Das war lange schon ihr Wunsch. Wenn das nicht ein guter Auftakt zum Leben mit mehr Würze ist? Und die Trommel der virtuellen Waschmaschine, in der sie beide sitzen, wird vor Hitze Funken versprühen und sich im Karussell des Lebens drehen und abheben! Zufrieden lächelt Hannes in sich hinein, macht den Motor an und fährt los.

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