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ELIN


FANNEY

Während ich Saga und ihr Junges auf die Weide führe, beobachte ich Christian, wie er in einem der nagelneuen Goretex-Outfits in Richtung Meer joggt. Er hat Humor, denke ich, als ich mich daran erinnere, wie er am Morgen vor ein paar Tagen in mein Lachen eingefallen ist. Seitdem hat sich der Deutsche rargemacht. Sein Tag scheint einem streng durchstrukturierten Ablauf zu folgen, was für Urlauber ungewöhnlich ist. Nach dem Frühstück zieht sich Christian Helm ins Zimmer zurück. Am frühen Nachmittag geht er joggen oder erkundet die unmittelbare Umgebung von Vík. Jon hat ihn zu der großen Höhle, den Skógafällen und sogar dem Flugzeugwrack, das seit dem Absturz von 1973 auf dem Lavafeld liegt, geführt. Also zeigt er doch Interesse an den Sehenswürdigkeiten. Vielleicht schreibt er einen Reiseführer über die Region um Vík í Mýrdal?

Meist putze ich in Christians Abwesenheit Zimmer vier, das außergewöhnlich ordentlich ist. Für einen Mann. Kein Vergleich zu Jons Bude über dem Stall, die ich mich weigere zu betreten, wenn er nicht für mindestens eine halbe Stunde gelüftet hat. Und das, obwohl ich seinen Geruch sonst sehr männlich und angenehm finde.

Nach den Ausflügen verzieht sich Christian bis zum Abendessen wieder in sein Zimmer. Nach acht Uhr sehe ich ihn nicht mehr. Und das, wo er am ersten Morgen das fehlende Nachtleben von Vík verspottet hatte. In der Bar hat er sich jedenfalls noch nicht blicken lassen.

Jon scheint diesem Deutschen misstrauisch gegenüberzustehen. Mich wurmt, dass er sich schon wieder so aufführt wie mein großer Bruder. Wie es seine Art ist, sagt er nichts. Jon würde niemals über andere lästern. Aber ich kenne ihn zu gut. Ein leichtes Zusammenkneifen der Nasenwurzel, ein kurzes Zucken im Mundwinkel, wenn er von dem Schriftsteller spricht, verraten ihn. Ich frage mich, warum das so ist. Ich finde den Deutschen ganz okay. Also, wenn ich mit ihm zu tun habe. Er taut langsam auf und wir haben interessante Gespräche bei den Mahlzeiten. Aber er wirkt nicht glücklich. Etwas scheint ihn zu bedrücken. In Momenten, in denen er sich unbeobachtet fühlt, liegt sogar etwas Trostloses in seinem Blick. Obwohl es mich nichts angeht, ich kenne ihn ja kaum und er ist nur ein Gast, habe ich das Bedürfnis, ihn aufzuheitern.

Weil ich gemerkt habe, es interessiert ihn, kratze ich in meiner Erinnerung isländische Sagas zusammen und erzähle sie ihm. Es hat etwas sehr Gemütliches, Ursprüngliches, wenn wir, zusammen mit Atli, Jon und oft auch Elin, bei den Mahlzeiten sitzen und jeder eine isländische Geschichte vorträgt.

Saga und ihr Fohlen freuen sich an dem herrlichen Wetter und tollen herum. Ich halte das Gesicht in die Junisonne und atme tief durch. Wie immer erfüllen mich die Klänge meiner Heimat mit Zufriedenheit. Das stetige Meeresrauschen, der leichte Wind, das Wiehern der Pferde, das rhythmische Schlagen der Drums, das aus Jons Zimmer zu mir herüberweht. Er probt für den Auftritt am Freitag und automatisch summe ich den Song mit, als ich ihn erkenne. Ich freue mich auf die Probe heute Abend.

Plötzlich nehme ich ein Geräusch wahr, das mich sofort in Alarmbereitschaft versetzt. Ist das ein Schluchzen? Nach einem kurzen Blick auf die Pferde folge ich dem besorgniserregenden Wimmern. Hinter der großen Birke, etwa zwanzig Meter vom Stall entfernt, treffe ich auf Elin. Das Mädchen hat die Stirn auf ihre angewinkelten Beine gelegt und umschlingt diese mit beiden Armen, während sie sich dem Weinkrampf hingibt, der mich hergelockt hat. Sofort knie ich mich neben sie. Was hat sie? Ich hoffe nicht, dass es sich um Liebeskummer wegen unseres deutschen Gastes handelt. Behutsam berühre ich ihr Haar.

„Elin“, flüstere ich. Sie zuckt ertappt zusammen. Ihr Weinen wird stärker. Eine Weile sitzen wir nur da und ich streichle sie. Mit beruhigender Stimme fange ich an zu erzählen, was mir gerade in den Sinn kommt.

„Weißt du, das ist auch mein Lieblingsplatz hier unter dem Baum. Wenn ich als Kind traurig war, bin ich oft hierhin gekommen. Den Baum haben meine Eltern gepflanzt, als ich zur Welt kam. Und trotz des Meerwinds hat er sich prächtig entwickelt, oder? Ich glaube, das ist sogar der einzige Baum in Vík. Ach nein, die Eberesche bei der Kirche ist älter als diese Birke hier.“ Elins Schluchzen wird leiser. Ich seufze. „Das letzte Mal habe ich hier gesessen, als meine Mutter gestorben ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Baum heilende Kräfte hat. Spürst du es, Elin?“

Als sie den Kopf hebt, entfährt mir ein entsetzter Laut. Ihre Wange ist geschwollen und es zeichnet sich eindeutig der Abdruck einer Hand ab. Ich hätte mich zusammenreißen sollen, denn Elin wirft sich in meine Arme und weint hemmungsloser als zuvor.

„Was ist passiert? Wer hat dich geohrfeigt?“

Elin antwortet eine lange Weile nicht. Ich spüre, wie sie sich in meinen Armen langsam beruhigt. Als ihr nur noch vereinzelte Schluchzer entfahren, sagt sie: „Dagur.“ Ich ziehe scharf die Luft ein. Ihr Vater hat sie bestraft? Die süße, friedfertige Elin! Wie konnte er nur? Während ich mich zusammenreißen muss, nicht sofort zu Dagurs Haus zu laufen, um ihm die Polizei oder Jon oder mich selbst auf den Hals zu hetzen, erzählt Elin mit monotoner Stimme: „Er hat behauptet, ich wäre eine Hure.“ Ich tätschle beschwichtigend ihren Arm.

„Wie kommt er darauf?“, frage ich.

„Weil ich Samstagnacht nicht daheim war.“ Nach kurzem Nachdenken fällt es mir ein. Samstag hat Elin die Nacht in Sagas Box verbracht, damit sie mir Bescheid geben kann, wenn die Geburt beginnt. Ich war so müde vom Freitags-Gig in der Bar, dass ich dankbar Elins Angebot angenommen hatte und früh zu Bett ging. Ich bin davon ausgegangen, dass ihr Vater Bescheid wüsste. Jetzt ärgert mich meine Gedankenlosigkeit.

„Hast du es ihm denn nicht gesagt?“ Elin zuckt mit den Achseln.

„Er bekommt normalerweise sowieso nicht mit, ob ich da bin oder nicht. Seit Mama wegging ... ist er meistens betrunken.“ Ich seufze. Das letzte Mal, als ich Dagur erlebt habe, es muss vor ungefähr zwei Monaten gewesen sein, war er sturzbesoffen und musste aus der Bar entfernt werden, bevor er eine Schlägerei angezettelt hat. Seitdem hat er dort Hausverbot. Seinen Job hatte er bereits kurz nach dem Fortgang von Elins Mutter verloren. Er muss sozial total isoliert leben. Kein Wunder, dass Elin immer mehr Zeit auf unserem Hof verbringt. Jetzt mache ich mir Vorwürfe. Ich hätte früher erkennen müssen, dass Dagur kurz vor dem Ausrasten steht. Aber Elin hat mit keinem Wort erwähnt, wie schlimm es bei ihr Zuhause zugeht.

Zuhause? Ein Zuhause sollte ein Ort der Geborgenheit sein.

Ich verstärke meine Umarmung.

„Du wohnst ab heute bei uns. Wir haben genug Platz.“ Elin hebt den Kopf und reißt die Augen auf.

„Ehrlich?“ Ich nicke. Ihre Gesichtszüge entgleisen.

„Das wird er niemals dulden. Er braucht mich doch für den Haushalt, die Wäsche und um seinen Dreck wegzumachen.“ Ich schnaube abfällig.

„Pah, dann muss er dich schon holen kommen. Und an mir kommt er nicht vorbei. Und an Jon und Atli.“

Wie erleichtert bin ich, als Elin sich entspannt.

„Und an Christian“, wispert sie und ein Hauch ihres üblichen Lächelns zeigt sich in ihren Augen. Ich seufze und streiche ihr über den Arm.

„Du bist echt verknallt in den Typen, oder?

„Ich weiß nicht. Er ist einfach soo süß.“

„Na ja, süß ist nicht alles.“

„Ja, aber er ist auch so aufmerksam und klug und kann so gut erzählen. Und er ist der netteste Typ, den ich je getroffen habe. Findest du nicht?“ Ich grinse Elin an, froh, sie ablenken zu können.

„Neee, der ist so was von nicht mein Typ.“

„Aha, wie ist denn dein Typ?“ Ich stoße die Luft aus. Worauf habe ich mich da nur eingelassen? Elin schaut mich so erwartungsvoll an, dass mir nichts Anderes als die Wahrheit übrigbleibt. Na sagen wir mal: die halbe Wahrheit.

„Ich steh` eher auf Musikertypen.“

„Ah, Musiker. So wie Jon?“, fragt Elin mit einem interessierten Schniefen nach. Verdammt!

„Nein, wie Andri. Das ist ein Gitarrist, mit dem ich mal zusammen war und der mir gezeigt hat, dass Männer dir viel erzählen, wenn der Tag lang ist.“ Elin kneift nachdenklich die Augen zusammen.

„Was hat er getan?“, fragt sie und ich registriere zufrieden, dass mein Ablenkungsmanöver geholfen hat. Seufzend zucke ich mit den Schultern.

„Fragt sich, wer was getan hat. Ich habe lange gebraucht, mich auf ihn einzulassen, obwohl ich total auf ihn stand. Als ich endlich so weit war, hat er wohl nicht mehr an unsere Liebe geglaubt. Vielleicht war ihm aber auch seine Karriere wichtiger. Er hat um die Zeit einen Plattenvertrag bekommen.“

„Wow. Ist er ein berühmter Musiker? Kenne ich was von ihm?“ Ich wuschle Elins Haar. Sie ist so süß und unschuldig.

„Nein, das ist nicht dein Musikgeschmack. Er macht eher Indie-Zeugs. Nichts aus den Charts.“ Elin legt neugierig den Kopf schief.

„Und dann? Hatte er ein Groupie?“

„Groupie? Kann sein. Auf jeden Fall eine Managerin. Er hat mich von heute auf morgen verlassen. Das Schlimmste war, dass er vorher kein Wort gesagt hat und einfach weg war. Dabei hat er kurz vorher noch gesagt, er liebt mich.“ Nachdenklich schaue ich auf den Kirchturm. „Irgendwie war es okay so. Ich war nicht ganz bei der Sache“, murmele ich vor mich hin.

„Ach, lass mich raten: Du hast für Jon geschwärmt? Warum seid ihr zwei eigentlich kein Paar? Ihr wärt echt süß zusammen.“

Ich verdrehe die Augen. Das wird mir nun zu bunt.

„Jon ist mein bester Freund. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“ Ich erhebe mich, klopfe die Jeans ab und halte Elin die Hand hin.

„Komm, Elin. Lass uns deine Wange kühlen und dann zeige ich dir etwas, was dich ablenken wird.“ Sie ergreift die Finger und lässt sich von mir hochziehen. Als sie steht, lächelt sie mich an.

„Christian würde sicherlich keine Herzen brechen. Dafür ist er einfach zu toll. Mir wird etwas einfallen, dass er auf mich steht.“ Ich zucke mit den Schultern.

„Viel Erfolg, dabei, Elin!“, lasse ich ihr die Illusion.

Als wir an der Pferdekoppel ankommen, schnaubt Saga und schnüffelt auf der Suche nach Leckerbissen an meiner Jackentasche. Elin sinkt auf die Knie und vergräbt einen Moment die Stirn am Hals des jungen Tiers. Ich schmunzele, weiß ich doch, wie gut das tut.

„Hier, du Vielfraß!“ Ich halte Saga eine Karotte hin und kraule ihr über die weiße Blesse.

„Lilia“, sagte Elin plötzlich. Erst begreife ich nicht, bis mir aufgeht, das könnte der Name für das Fohlen sein. Einen Moment lang bin ich sprachlos. In meinem Inneren wütet ein Sturm seit Jahren unterdrückter Gefühle. Ich wende mich ab, um mich zu sammeln.

„Ein schöner Name, Elin“, sage ich mit zittriger Stimme.

„Ja, mir ist aufgefallen, dass die Blesse wie eine Lilie ausschaut, findest du nicht auch, Fanney?“ Sie erhebt sich.

„Ja, das stimmt. Der Name ist perfekt. Du kannst es nicht wissen, aber damit machst du mir eine große Freude, Elin. Lilien waren die Lieblingsblumen meiner Mutter. Die Geburt von Saga haben meine Mutter und ich zusammen erlebt. Kurz darauf ist sie gestorben. Du hättest keinen besseren Namen wählen können.“

„Oh Fanney, das wusste ich ja nicht. Es tut mir leid, wenn ich dich traurig gemacht habe. Das wollte ich nicht!“ Elin fällt mir um den Hals und drückt mich fest. Einen Moment lang genieße ich ihre Zuwendung. Elin ist einfach toll und ich wünsche mir so sehr, dass sie ihr Glück findet.

„Ist schon okay, Elin. Das Leben geht weiter, wie du siehst.“ Mit einem Kopfnicken deute ich auf das Fohlen, das, den Kopf gegen Sagas Flanke gepresst, gierig Milch saugt.

Jetzt hat das Fohlen also einen Namen. Lilia.

Ein sehr schöner Name.

Island Sommer Liebe

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