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SCHWINGUNGEN


CHRISTIAN

Stimmengewirr schlägt mir entgegen, als ich die Tür zur Bar öffne. Ein kantiger Kerl hinter dem Tresen, ein Bier zapfend, hebt den Kopf. Er ist nicht der Einzige, der mich neugierig mustert. Zögerlich trete ich ein und nicke unverbindlich in die Runde. Dieser Ort ist exakt so, wie ich ihn mir vorgestellt habe. In dem nüchternen Schankraum sitzen Grüppchen von Isländern, leicht erkennbar an dem erhöhten Strickpulli-Aufkommen. Der Raum, an dessen hinterer Wand ein Podest zu sehen ist, wirkt multifunktional. Sofort denke ich mir, dass hier auch politische Versammlungen, Wahlen, Hochzeitsfeiern oder Aufführungen des Schulchors stattfinden könnten.

Verwunderlich, dass dennoch durch die eng stehenden Tische und das gedimmte Licht eine gemütliche Atmosphäre herrscht. Atli winkt mich zu sich. Erleichtert, ein Ziel zu haben, steuere ich auf ihn zu. Als ich einen Tisch mit jungen Mädchen passiere, erkenne ich Elin. Ich nicke ihr zu, was eine kichernde Salve von Elins Freundin auslöst. Elin selbst senkt errötend den Blick. Schmunzelnd erreiche ich Atlis Tisch.

„Christian! Wir haben dich die letzten beiden Freitage schon vermisst. Setz dich zu uns.“ Ich rolle innerlich mit den Augen. Als ob mich diese Dorffolklore reizen würde. Aber nach drei Wochen hier in Island wollte ich mir das Nachtleben mal anschauen, sofern man das, was mich hier erwartet, so nennen kann. Meine Schreiblust ist zurückgekommen. Doch die Tage damit zu verbringen, Fanney stündlich abzupassen, um mir Inspiration zu holen, kann ja nicht ewig so weitergehen.

Atli stellt mich seinen Freunden vor. Kantige Isländer mit herben Gesichtern, die man vom Fleck weg als Zwerge für eine Tolkien-Verfilmung casten könnte. Er rückt mir einen Stuhl zurück und nickt mit dem Kinn Richtung Bühne.

„Du kommst gerade richtig, Christian. Die Musik geht gleich los.“ Ich drehe mich zu dem Podest, auf dem drei Mikrofone aufgebaut sind. Im hinteren Winkel steht ein altes Piano. Der Wirt stellt mir mit einem kurzen Zwinkern ein frisch gezapftes Bier vor die Nase. Einstök Ale lese ich auf dem kondensierten Glas. Ich hatte mir über meine Getränkebestellung noch keine Gedanken gemacht. Aber ich mag Bier. Jetzt fällt mir auf, dass fast alle Gäste Bier trinken. Mit einem Schulterzucken proste ich Atli und seinen Freunden zu und nehme den ersten Schluck des Bräus. Nicht schlecht.

Auf der Bühne rührt sich etwas und ich drehe den Stuhl zur Seite, um bessere Sicht zu haben. Das hatte ich jetzt nicht erwartet: Ich hatte mir vorgestellt, einheimische Folkmusik zu hören. Aber bestimmt nicht, Fanney auch dann zu treffen, wenn ich sie nicht extra abpasse.

Fanney tritt hinter das mittlere der Mikrofone. Sie trägt eine Art langes Dirndl, das an der Front mit Stickereien versehen ist. Ihr Haar ist ausnahmsweise geflochten und am Hinterkopf hochgesteckt, was ihr sehr gut steht. Mein Blick klebt an dem schwanenhaften Hals. Ich fühle mich beim Gaffen ertappt, als sie mir lächelnd zunickt.

Flankiert wird Fanney von zwei Frauen in ähnlichem Outfit. Die Dunkelhaarige hält eine Geige in der Hand, die rundliche Rothaarige hebt eine Flöte an die Lippen, als der Applaus des Publikums abebbt. Das scheint ein traditionelles Folk-Konzert zu werden. Ich lehne mich zurück, nippe am Bier und konzentriere mich ganz auf Fanney. Ob es zu auffällig war, wie ich in den letzten Tagen ihre Nähe gesucht habe? Mir ist es selbst peinlich, wie ich sie ... brauche. Ich weigere mich, es als Besessenheit einzuordnen. Es ist nur so, dass es mir beim Schreiben hilft. Seit ich bei ihrer Reitvorführung den entscheidenden Funken für die Geschichte um Atlisdal hatte, geht es nicht mehr ohne sie. Die Wörter fliegen von meinem Kopf, durch meine Finger, auf die digitalen Seiten. Immer wenn das Schreiben ins Stocken gerät, reichen ein paar Minuten zusammen mit ihr und meine Fantasie schäumt über. Ich hänge an ihren rosigen Lippen, versinke in den klaren Augen oder verfolge Lichtreflexe in ihrem hellblonden, fast weißen Haar. Alles völlig unschuldig, versteht sich. Reine Inspiration für die Hauptfigur in meinem neuen Roman ‚Das Tor nach Atlisdal’. Die Elfenprinzessin Fannlag, die sich in den Menschling verliebt.

Ich schlucke trocken, als ich mir eingestehe, dass es einen Moment gibt, auf den ich weniger stolz bin. Das kann ich nicht als unschuldige Inspirationssuche abtun. Die Erinnerung ist heiß. Ein Prickeln fährt durch meinen Körper, wenn ich wieder dieses Bild von ihr vor Augen habe. Sicherheitshalber schlage ich die Beine übereinander. Verstohlen blicke ich zu Atli, dessen Augen stolz auf seiner Tochter ruhen, unwissend, welcher erotische Sturm in seinem Tischnachbarn tobt. Und so soll es auch bleiben.

Sie ist nur meine Inspiration, meine Muse.

Meine Elfenprinzessin schließt die Augen und zählt den Takt durch Schläge mit der Handfläche auf ihren Rock vor. Geige und Flöte beginnen eine Melodie, in die Fanneys Stimme nach dem zweiten Takt hell und klar einsteigt. Wow! Sie hat eine einzigartige Tonfärbung und ihre Stimme hat etwas Übernatürliches, Bewusstseinveränderndes. Am liebsten hätte ich es Atli neben mir gleichgetan, der leise vor sich hinseufzt. Ich sehe Stolz und Liebe für die Tochter in seinen Augen. Ein Blick in die Runde zeigt mir, dass auch die übrigen Gäste von Fanneys Stimme verzaubert sind. Umso verwunderter bin ich, als die Gäste nach dem ersten Stück, das mit viel Applaus beendet wird, ihre Gespräche wieder aufnehmen. Die drei Mädchen und ihre Musik rücken in den Hintergrund. Ich verkneife mir ein lautes Psst. Denn außer mir scheinen das alle für selbstverständlich zu halten. Es kostet mich Überwindung, den Stuhl wieder zurückzudrehen und auf Atlis Fragen nach Deutschland einzugehen. Er erzählt seinen Freunden von meiner Vorliebe für isländische Geschichten. Fanneys tragende Stimme im Ohr, versuche ich mich auf die einzelnen Beiträge zu konzentrieren.

So vergeht eine Stunde. Die Musikerinnen verbeugen sich und verlassen unter kurzem Klatschen der Anwesenden die Bühne. Ich reiße mich zusammen, nicht aufzuspringen und in Standing Ovations zu verfallen. Die Einheimischen sind wahrscheinlich zu verwöhnt, um die Qualität des Gehörten beurteilen zu können. Etwa eine Viertelstunde nach dem Auftritt, schnalzt Atli mit der Zunge, blickt auf die Uhr und erhebt sich. Seine Freunde tun es ihm gleich. Atli legt die Hand auf meine Schulter.

„Zeit für uns Ältere, sich zurückzuziehen. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend, Christian.“ Ich stürze den Rest des Biers hinunter und erhebe mich ebenfalls.

„Nein, für mich reicht es. Ich muss morgen früh raus.“ Atli mustert mich stirnrunzelnd, dann zuckt er mit den Schultern und strebt dem Ausgang zu. Sämtliche Einheimische über Fünfzig scheinen aufzubrechen. Als Elin mich im Tross von Atli entdeckt, springt sie auf. Sie holt mich ein, legt die Hand auf meinen Unterarm und schaut mich mit großen Augen an.

„Du gehst doch nicht etwa schon, Christian?“

Irritiert bleibe ich stehen.

„Doch, ich wollte mir nur die Musik anhören und ein Bier trinken.“ Sie schüttelt ungläubig den Kopf.

„Aber jetzt geht es doch erst richtig los!“ Elin deutet in Richtung Podest, auf dem gerade ein Schlagzeug installiert wird. Vielleicht hat sie recht, und es tritt noch eine lokale Band auf. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass irgendjemand Fanneys Auftritt heute noch toppen kann.

„Lass mal, Elin. Mein Pensum an isländischer Folkmusik ist für heute voll. Ich bin nicht so der Fan.“

„Aber jetzt kommt doch gar kein Folk mehr. Fanney wird enttäuscht sein.“ Fragend hebe ich meine Brauen.

„Fanney? Tritt sie noch einmal auf?“ Elin kichert.

„Ja, wusstest du das nicht? Sie singt in der Band, die jetzt kommt. Das solltest du dir nicht entgehen lassen.“ Elin hat ein leichtes Spiel, mich zu ihrer Gruppe Mädchen zu ziehen, die unweit der Bühne ungeduldig auf uns wartet. Jemand hat die Tische an die Seite geschoben und eine Fläche vor der Bühne freigeschaufelt. Das Licht ist heruntergedimmt und ich bin verblüfft, wie dieser Schankraum plötzlich einem meiner liebsten Musikclubs in Frankfurt ähnelt.

„Hier!“ Der Wirt drückt mir ein weiteres Bier in die Hand. Vor der Bühne herrscht Gedränge und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie immer mehr junge Gäste in die Bar strömen. Fanneys Band scheint beliebt zu sein.

„Wie heißt die Band?“, rufe ich Elin gegen den steigenden Lärmpegel ins Ohr.

Stripped’, sagt das schüchterne Mädchen neben Elin, das noch roter wird, als ich ihr die Hand hinhalte und mich vorstelle. Elin räuspert sich so lautstark, dass die zusammenzuckende Frau kaum ihr ‚Solveig’ herausbringen kann.

„Sie tritt aber nicht nackt auf, oder?“, sage ich lachend in die Runde, um die plötzlich angespannte Stimmung aufzulockern.

Die Mädchen giggeln, als hätte ich den Witz meines Lebens gerissen.

„Nein, das ist eher im übertragenen Sinn gemeint. Gelöste Fesseln, ungeschminkt und so“, antwortet Elin.

Der Aufbau scheint beendet zu sein, ganz professionell richten sich Spots auf die Bühne und der Saal brodelt. Jubel und Pfiffe zerschneiden die Luft. Ich kann nicht leugnen, dass sich die Aufregung auf mich überträgt. Nervös trinke ich einen Schluck Bier. Zum ersten Mal seit ich in Island bin, ist mir warm. Wer hat schon jemals eine Elfenprinzessin in einer Rockband gesehen? Ich drücke Elin das Bier in die Hand.

„Halt bitte mal.“ Mit einem Griff in den Nacken ziehe ich den Fleecepulli über den Kopf. Das graue T-Shirt rutscht dabei hoch. Elin starrt auf das nackte Stück Haut an meinen Bauch, als hätte sie eine Erscheinung. Ihre Freundinnen wirken ähnlich paralysiert. Meine Güte. Ich bin einiges von Frauen, insbesondere weiblichen Fans, gewöhnt, aber selten habe ich mich wie ein Rockstar gefühlt, dem gleich Höschen an den Kopf fliegen werden. Ich werfe den Pulli auf einen der Tische am Rand und nehme Elin, deren Zunge über ihre Unterlippe schnellt, kopfschüttelnd das Bier aus der Hand. Okay, ich sollte mich künftig von ihr fernhalten. Demonstrativ gehe ich zwei Schritte weiter Richtung Bühne.

Das Licht geht aus und wie bei einer großen Bühnenshow nehmen die Musiker, von denen wir nur die Silhouetten sehen, ihre Plätze ein. Ein leises Anzählen, begleitet von Drumsticks, dann flammen Spots auf und die Band legt los.

Das Glas, das ich gerade zum Mund führen will, stoppt auf halbem Weg und so ungefähr muss es sich anfühlen, wenn die Lichter eines Schnellzuges mit rasender Geschwindigkeit auf einen zurasen. Es gibt kein Entkommen!

Ab diesem Moment ist nichts in meinem Leben mehr so, wie es war.

Island Sommer Liebe

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