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FANNEY

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Mit geschlossenen Augen warte ich auf den Akkord des Pianos, der meinen Einsatz vorgibt. Jede Zelle meines Körpers nimmt die gespannte Erwartung des Publikums auf. Das kräftige Schlagen meines Herzens peitscht Adrenalin durch die Venen. Ich liebe diese Sekunden auf der Bühne, bevor die Hölle losbricht und die Band eine verlässliche Einheit bildet.

Der Akkord kommt und meine eigene Stimme schallt mir aus dem Monitor am Bühnenrand verstärkt entgegen. Wir starten mit einer Coverversion von Kaleos ‚Way down we go’. Der Song einer isländischen Band, die in den letzten Jahren Furore gemacht haben. Kein einfaches Stück und eine Herausforderung für mich, diese satten Töne mit meinem zierlichen Körper zu erzeugen. Jon und ich haben diesen Song als Einstieg gewählt, weil die Einheimischen diese Art von isländischem Lokalpatriotismus lieben. Außerdem ist dieses soulige Stück der beste Kontrast zur Folkmusik von zuvor. Die Rechnung ist aufgegangen. Begeistertes Kreischen braust auf, als ich voller Inbrunst den Refrain singe. Elins Rufen ist so deutlich rauszuhören, dass ich schmunzle und jetzt doch die Augen öffne und Elin im Publikum suche.

Durch das blendende Licht des Spots schaue ich direkt in Christians Gesicht. Er mustert mich intensiv. Noch eindringlicher, als beim letzten Mal. Während ich mich auf den Text konzentriere, sehe ich seinen Blick über mein Dekolleté fahren, hinab zum auffälligen Gürtel. Er verweilt auf dem winzigen Stück Stoff, das mir die Verkäuferin in der Boutique in Reykjavik als Minirock verkauft hat. Ich sehe, wie sich seine Augen weiten, als er meine nackten Beine scannt, bis er die Chucks erreicht und sich ein überraschtes Grinsen in seine Züge legt. Ich habe dieses Outfit eigentlich wegen Jon gekauft. Ich kann es nicht lassen, eine Reaktion von ihm herauszufordern. Er soll mich einmal als Frau wahrnehmen. Das nennt man dann wohl Querschläger, so wie Christian mich mit Blicken verschlingt. Eindeutig der falsche Mann.

Warum also bringt dieser Blick mich so aus dem Konzept?

Normalerweise bin ich die Ruhe selbst, sobald ich singe. Doch heute ist es anders. Durch meinen Tunnelblick kann ich deutlich sehen, wie sich Christians ausgeprägter Adamsapfel durch die Schluckbewegung einmal seinen Hals hinauf und hinabbewegt. Dieses Detail fasziniert mich. Ich kann nicht aufhören, ihn anzustarren. Dieser Auszieh-Blick verursacht mir eine Gänsehaut am ganzen Körper. Mein Herz rast und aus unerfindlichen Gründen sammelt sich eine pochende Hitze in meinem Bauch. Fast verpatze ich den Einsatz des zweiten Refrains.

Christian hebt unvermittelt den Kopf. Mit so unverhohlenem Verlangen versenkt er seine Augen in meine, dass mein Herzschlag einen Moment aussetzt. Nun komme ich doch aus dem Takt. Ich reiße mich zusammen und improvisiere. Endlich bin ich aus Christians Bann befreit. Entschuldigend blicke ich zu Jon, der fragend die Brauen hebt.

Dem Publikum ist der Patzer offenbar nicht aufgefallen. Völlig außer Rand und Band braust Applaus auf. Lachend hebe ich die Arme.

„Hey, Vík. Schön, dass ihr alle zu unserem Konzert gekommen seid! Wir sind ‚Stripped’ und werden heute unserem Namen alle Ehre machen.“ Pfiffe branden auf. Ich bin die anzüglichen Bemerkungen wegen unseres Bandnamens gewöhnt, provoziere sie sogar und grinse lasziv in die Runde.

„Okay. Ich finde, ich habe heute wenig genug an.“ Die erhofften Lacher ertönen. Die Pfiffe verstärken sich und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Jon die Augen verdreht. Ich kann es nicht lassen, ihn zu provozieren und ihm zu zeigen, dass mich die Männer attraktiv finden.

„Wir haben einige wunderbare Songs ausgesucht, die wir heute covern. Mal sehen, ob ihr die Originale erkennt.“ Wie abgesprochen, startet Jon mit einem Trommelwirbel den nächsten Song. Ich animiere die Gäste, mitzuklatschen und verliere mich die nächste Stunde in meiner Leidenschaft. Wie ein Derwisch fege ich über das Podest, hüpfe, tanze und singe, singe, singe.

Und vermeide den Blick zu dem Mann, der mich aus dem Konzept bringt.

Unser Cover-Repertoire ist einmal querbeet durch alle Musikrichtungen der letzten dreißig Jahre. Die Interpretationen, die daraus entstehen, lassen sich grob unter ‚Indie-Rock’ oder ‚Indie-Pop’ zusammenfassen. In Island ist ‚Stripped’ mittlerweile bekannt. Wenn die Arbeit im Bed & Breakfast und auf dem Pferdehof mehr Zeit lassen würde, wären Jon und ich öfter auf Tour. Mir allerdings reicht der wöchentliche Auftritt in Vík. Die Freitagskonzerte haben sich rumgesprochen und teilweise nimmt das Publikum den Weg aus Reykjavik auf sich, um uns zu hören. Samu, dem Wirt, kann es nur recht sein. Sein Umsatz hat sich verdoppelt. Er macht wahrscheinlich heute noch drei Kreuze, dass er vor einem knappen Jahr unserem Betteln nachgegeben hat, im Anschluss an den traditionellen Folk-Abend mit der Band auftreten zu dürfen. Ziemlich schnell haben die älteren Gäste die Flucht ergriffen, wenn die Bar von der Jugend eingenommen wurde, die hier in der Umgebung nicht viel Auswahl hat.

Die Zeit verfliegt. Ich ringe nach Luft und ein leichter Schweißfilm liegt auf meiner Haut. Es ist stickig in der Bar. Zum Glück stört mich das in meiner Euphorie nicht.

Diese Auftritte sind mein Lebenselixier. Ich liebe die Arbeit mit den Pferden und eine Zeitlang dachte ich, dass Voltigieren neben der Schwärmerei für Jon die einzige Leidenschaft in meinem Leben bleibt. Bis Jon auf meine Stimme aufmerksam wurde. Ich habe schon immer gerne gesungen. Also habe ich beim Stallausmisten laut meine Lieblingssongs vor mich hingeschmettert. Himmel war mir das peinlich, als Jon plötzlich klatschte, nachdem ich einen Red Hot Chili Peppers-Song beendet hatte. Seit er bei uns lebt, hat sich zwischen uns eine vertraute Nähe und eine schöne Freundschaft entwickelt. Trotz meiner Schwärmerei für ihn. Aber mich singen zu hören, ist dann doch etwas Anderes. Am liebsten wäre ich vor Schreck und Scham in eine Pferdebox gesprungen und nie wieder dort rausgekommen.

Jon hat mich lachend zu sich gewunken. Gott er ist so cool!

„Komm mal mit“, ist alles, was er sagt. Seufzend lehne ich die Heugabel an die Stallwand. Meine Neugierde, was er vorhat, treibt mich ihm hinterher.

Dass er mich offiziell in seine Bude über dem Stall einlädt, ist eine Seltenheit. Ich bleibe im Türrahmen stehen.

Jon sitzt bereits auf einem seiner Küchenstühle, eine Gitarre auf dem Schoß. Er nickt zur Tür.

„Ich beiße nicht, komm rein.“ Mein Herz schlägt mir vor Aufregung fast bis zum Hals. Jon hat meine Schwärmerei wohl nie mitbekommen. Er ist der Sohn von Atlis bestem Freund und wir verbringen schon seit frühester Kindheit Zeit zusammen. Nach seiner Schulzeit war er dann einige Jahre im Ausland. Als er zurückkam und meine Mutter durch ihren Tod eine große Lücke hinterlassen hat, bot er wie selbstverständlich seine Unterstützung an und seither arbeiten wir zusammen auf dem Hof. Für mich ging die Sonne auf. Die frische Narbe, die sich vom Jochbein bis zum Kinn zog, machte ihn nur noch attraktiver für mich.

Blöd, dass er mich wie ein kleines Mädchen behandelt. Wie eine jüngere Schwester. Dabei bin ich nur vier Jahre jünger als er.

Ich schließe die Tür hinter mir und mein Herz klopft erwartungsvoll. Wird er mich jetzt zum ersten Mal als Frau sehen? Mich sogar verführen? So, wie er das mit den anderen Frauen tut, die er von Zeit zu Zeit in sein Reich über dem Pferdestall mitnimmt? Jons Bude ist nicht wirklich schalldicht, schon gar nicht wenn man direkt darunter den Stall ausmistet. Die lustvollen Schreie der Frauen ließen mich nicht nur vor Neid zerfließen. Jon wurde mit jedem Mal unerreichbarer und gleichzeitig interessanter für mich.

Trotz meiner Verknalltheit habe ich mich immer zurückgehalten, ihm meine Gefühle zu offenbaren. Obwohl es mich in sehnsuchtsvollen Nächten zerreißt. Aber die Freundschaft mit Jon ist mir so viel wichtiger. Die Vorstellung, dass er mich verführen will, ist total unangebracht.

Trotzdem ist der Gedanke reizvoll, dass Jon diese spitzen Laute bei mir auslösen könnte. So wie Andri damals. Die Zerrissenheit zwischen Verlangen und Vernunft bringt mich noch um den Verstand!

Was will er denn jetzt mit der Gitarre? Abwartend setze ich mich auf den Stuhl, auf den er mit dem Kinn deutet.

„Was ist dein Lieblingssong?“ Damit erwischt er mich kalt. Ich runzle nachdenklich die Stirn.

„Das kommt darauf an.“ Er grinst. Nicht spöttisch. Eher erfreut über meine Antwort. Er legt die Hand, die bisher tonlos über den Gitarrensteg strich auf seinen Oberschenkel und neigt sich interessiert vor.

„Worauf?“

Ist das ein Test?

„Na, auf die Stimmung.“ Er nickt und benötigt offenbar keine weitere Erklärung.

„Okay, Fanney, und was ist dein Lieblingssong in deiner derzeitigen Stimmung?“ Jon schmunzelt und ich rolle mit den Augen.

„Na, ja. Der, den ich im Stall gesungen habe, gefällt mir. Und ...“, ich halte inne und bin unsicher, ob das sein Stil sein könnte.

„Nur zu. Ich liebe Musik. Nur ganz wenige Songs kann ich nicht ertragen.“

„Also in den Charts läuft gerade ein Lied. Es heißt: ‘Cake by the Ocean’. Das finde ich ganz gut.“ Er nickt und zu meinem Erstaunen, schlägt er ein paar Töne auf der Gitarre an, die ich als Refrain des genannten Songs identifiziere. Ich wusste zwar, dass Jon ein toller Musiker ist, aber dass er aus dem Stehgreif gleich einen beliebigen Song auf der Gitarre greifen kann, finde ich beeindruckend. Ich werde aufgeregt. „Ja, genau das ist der Song.“

„Okay, Fanney. Ich möchte etwas ausprobieren. Du hast eine richtig tolle Stimme. Das hast du mir nie erzählt.“

Ich spiele mit einer Haarsträhne. Das habe ich schon einmal gehört. Und wenn der musikalische Jon das sagt, wird es wohl stimmen. Andri mochte meine Stimme auch. Dennoch haben wir nie zusammen gesungen und er hat allein Karriere gemacht. Ich zucke mit den Schultern.

„Na ja. Du weißt doch, dass ich schon seit meiner Kindheit im Kirchenchor in Vík singe. Hauptsächlich Kirchen- und Volkslieder.“ Ich lache. „Wenn du sonntags nicht so lange schlafen würdest, hättest du mich vielleicht mal singen hören.“ Jon lächelt und mein Herz trommelt.

„Schon. Aber im Kirchenchor singen auch Leute, die nichts von Musik verstehen. Lass uns diesen Song zusammen singen. Kennst du den Text?“ Ich nicke. Das Lied läuft rauf und runter im Radio und hat sich längst in meinem Hirn verewigt.

Jon beginnt. Er hat eine raue Stimme. Aber das hält ihn nicht davon ab, inbrünstig zu singen. Er ist so sexy, dass mir der Atem stockt. Mit seinen Augen gibt er mir zu verstehen, dass er auf meinen Einsatz wartet.

Nach anfänglichem Stocken, komme ich aus mir heraus. Das macht Spaß! Es ist so anders, als die traditionellen Lieder. Ich werde mutiger, schere aus dem gewohnten, glockenhellen Singsang aus und wage es, meine Stimme der Aussage des Liedes anzupassen. Bereits nach wenigen Takten vergesse ich meine Befangenheit und gehe ganz in der Musik auf. Ein Glücksgefühl rauscht durch meinen Körper und selten ist mir etwas so leichtgefallen. Als die letzte Note ertönt, lachen wir beide befreit.

„Das war super. Hast du jemals darüber nachgedacht, in einer Band zu singen, Fanney?“ Ich will seine Frage schon als lächerlich abtun, als ich es unvermittelt weiß: In einer verrauchten Location zu stehen und die Gefühle über meine Stimme in die Herzen des Publikums zu transportieren, liebe ich noch mehr als das Reiten.

Ich nehme einen Schluck aus der Wasserflasche. Dann greife ich nach der Gitarre und warte, dass es still wird im Saal. Das letzte Stück von uns ist immer eine ruhige Ballade. Der akustische Leckerbissen ist Höhepunkt und Abschluss zugleich. Jon und ich übertreffen uns jedes Mal gegenseitig, wenn es darum geht, die Songs dafür auszuwählen. Der Effekt ist umso größer, je wilder die Originalversion ist. Ich rücke das Mikro zurecht und blinzle in das Licht

„Hey, Leute, ihr seid ein super Publikum. Stripped sind: am Piano: Gunnar, an der Flöte und E-Gitarre: Karin, an der Geige: Inga und an Gitarre und Drums: Jon.“ Begleitet von Applaus stelle ich jedes einzelne Mitglied der Band vor.

„Ich bin Fanney und es würde mich freuen, wenn ihr nächste Woche wieder dabei seid. Hier kommt unser letzter Song.“

Es wird still im Saal und ich räuspere mich. Einen Moment wandert mein Blick ins Leere und dann geht es los. Die Geige beginnt und spielt die markante Eingangssequenz, nur viel langsamer als im Original.

Die Reaktion kommt verzögert. Jon wirft mir einen triumphierenden Blick zu. Zwischen uns läuft eine geheime Wette, wie lange die Leute jedes Mal brauchen, das Original zu erkennen. Je länger, desto besser.

Heute ist es besonders schwer und erst als ich mit dem Gesang einsetze, kommen die ersten Rufe. Es ist gar nicht so einfach, den Dancehit ‚Sugar’ von Robin Schulz in dieser langsamen, sinnlichen Version zu singen. Ein Raunen geht durch die Menge, als endlich der Groschen fällt. Als ich die Liedzeile ‚Before you play with fire, do think twice’ singe, gebe ich dem Drang nach, der mich seit einer Stunde umtreibt. Christian zuckt zusammen, als ich ihm endlich direkt in die Augen schaue. Der Text ‚Wenn du mit dem Feuer spielst, sei nicht überrascht, wenn du dich verbrennst’ erscheint mir wie eine stille Warnung an ihn. Dabei habe ich gar nicht vor, ihn sich verbrennen zu lassen. Ich will doch gar nichts von ihm!

Rasch senke ich meinen Blick. Innerlich bin ich so aufgewühlt, dass ich das Ende des Songs herbeisehne. Mit dem letzten Ton tobt das Publikum. Ich schaue meine Bandkollegen an und kann das Glück in ihren Augen sehen. Obwohl wir nur eine kleine Lokalband sind, verpassen uns diese Auftritte einen gehörigen Adrenalinkick, nach dem wir mittlerweile süchtig sind. Wir legen die Arme über die Schultern der anderen und verbeugen uns. Aus dem Augenwinkel sehe ich Christian klatschen.

Elin strahlt mich an und macht eine Handbewegung auf ihre Armbanduhr. Ah, ja! Jetzt fällt es mir wieder ein.

„Jon, noch nicht abbauen. Es gibt heute eine kleine Zugabe.“ Die Bandmitglieder sind verwirrt. Zugabe ist bei uns nicht üblich. Vor allem, weil wir dem Wirt versprochen haben, dass er spätestens um halb eins zusperren kann. Und wir brauchen noch eine Weile, bis wir alles abgebaut haben.

„Elin hat gleich Geburtstag“, flüstere ich Jon ins Ohr. Es wird knapp. Jon schafft es kaum, hinter dem Schlagzeug Platz zu nehmen, als ich bereits den Countdown herunterzähle. Elins glückliches Strahlen, als wir Happy Birthday anstimmen und die anderen Gäste einstimmen, verschwimmt zu einem verzerrten Grinsen, als sie versucht, ihre Ergriffenheit zu verbergen. Später, in meinen Armen, lässt sie sich gehen und schluchzt herzzerreißend an meiner Schulter.

„Alles Gute, Elin. Jetzt bist du volljährig und kannst deine eigenen Entscheidungen treffen. Auf dass all deine Wünsche in Erfüllung gehen.“ Ihren Tränenschleier fortwischend, schnieft sie und wirft einen raschen Seitenblick zu Christian, der wenige Meter von uns entfernt seine Rechnung bei Samu begleicht.

Ich runzle die Stirn. Gestern fand ich es noch rührend, dass Elin so auf den deutschen Gast steht. Jetzt irritiert es mich mehr als mir lieb ist.

Island Sommer Liebe

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