Читать книгу Die Stille meiner Worte - Ava Reed - Страница 10

Kapitel 2 – Hannah Nicht jedes Ende ist ein neuer Anfang
und nicht jeder Neuanfang
bedeutet das Ende.

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Mum und Dad haben gesagt, alles würde anders werden. Sie wollten neu anfangen, nein, sie mussten es, weil sie es sonst nicht ausgehalten hätten. Aber ich denke, sie wissen wie ich, dass es nichts gebracht hat. Dass alles eine große Lüge war – dass es das noch ist. Es wird mir richtig klar, als wir das erste Mal zusammen zu Abend essen. Genau jetzt. An diesem neuen Ort, in diesem neuen Haus. Es gibt Lasagne. Izzys Lieblingsessen. Und genau da liegt das Problem: Izzy ist fort und doch immer noch hier und wir werden nicht weit und schnell genug rennen können, um das zu vergessen.

Izzys Geschichte ist geschrieben und sie kann nicht gelöscht werden. Sie steckt tief in uns und jede Erinnerung, jeder Moment ist eingebrannt, jedes Wort und jedes Lachen wurde gehört, jeder Streit gespeichert, jede Träne geteilt und jede Angst. Als Izzy da war, war mein Leben wie eine Fahrradfahrt mit Stützrädern – jetzt muss ich lernen, wie man ohne sie fährt …

Gedankenverloren stochere ich in den verschiedenen Nudellagen herum, zwischen der Béchamel- und Bolognesesoße. Die letzten Sonnenstrahlen scheinen durch das große Esszimmerfenster. Das Licht spielt mit den Schatten, während ich darum kämpfe, Gabel um Gabel zum Mund zu führen und etwas herunterzuschlucken.

Ich denke an mein neues Zimmer. Alle Kisten sind leer, alles ist eingeräumt. Alles, bis auf diese eine Kerze in dieser einen Kiste.

»Hast du keinen Hunger? Ist etwas nicht okay?« Meine Mutter sieht mich besorgt an und irgendwie beschämt, denn sie weiß, wie blöd diese Frage klingt. Sie ist so einfach, wie sie schwer ist. Natürlich ist nichts okay. Das wird es nie wieder sein. Ich habe einen Teil von mir verloren – und sie? Sie mussten ihr eigenes Kind begraben. Das ist nicht richtig!

Die Gabel entgleitet mir, fällt mir aus der Hand und klirrend auf den Teller. Einzelne Tropfen der Soße landen auf der Tischdecke. Rot beißt sich mit Orange und ich kann meinen Blick nicht abwenden von diesem Gemisch, das nicht zusammenpasst, aber gerade keine andere Wahl hat, als zusammen zu sein.

Es ist so still. Wenn es nur nicht so still wäre.

Ich knete meine schweißnassen Hände, versuche mich zu beruhigen. Eins, zwei, drei, klingt es in meinem Kopf, zählen und atmen – und versuchen zu vergessen.

»Iss schneller! Sonst schnappe ich dir deine Lasagne vor der Nase weg«, höre ich Izzy mit vollem Mund sagen. Sie hat einen grässlichen Bolognesesoßenbart und die Wangen vollgestopft wie ein Hamster. Dass sie noch mit vollem Mund kauen kann, gleicht einem Wunder.

»Niemals! Finger weg!« Mein Essen verteidigend beuge ich mich leicht über den Teller und schiebe meinen Arm vor. Und dann grinsen wir. Wir beide. Dabei fällt Izzy ein Stück Lasagne aus dem Mund und landet klatschend auf Mums neuer Decke. Wir prusten los, bis wir kaum noch Luft bekommen, und halten unsere Bäuche vor Lachen.

»Wie wäre es, wenn du dir eine neue Mannschaft suchst?«, fragt Dad und reißt mich damit aus meiner Erinnerung. Er sagt es so, als wäre nichts passiert. Als hätte Mum nicht gefragt, ob alles okay wäre, als hätte ich nicht meine Gabel fallen lassen und als wäre alles normal, während er sich ein fettes Stück Lasagne in den Mund schiebt. Meine Mutter sieht ihn dankbar von der gegenüberliegenden Seite an mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Ihre Züge werden erkennbar weicher, die Spannung verschwindet aus ihrem Gesicht.

»Ja, das wäre vielleicht eine gute Idee! Schließlich sind Sommerferien, das Wetter ist perfekt und es sind noch fünf Wochen, bevor die Schule wieder beginnt.«

Unmerklich schüttle ich den Kopf, meine Finger verkrampfen sich, meine Lippen sind fest aufeinandergepresst. In meinem Kopf geht alles drunter und drüber, weitere Erinnerungen wollen an die Oberfläche kommen. Aber ich kämpfe dagegen an.

»Es würde dir guttun! Du spielst gut, hast Spaß daran. Du könntest sofort neue Freunde finden.« Ein weiteres Stück Lasagne landet in seinem Mund, seine Miene ist ausdruckslos. Schwer schluckend starre ich auf den Tisch, vorbei an dem orange-roten Fleckduett, auf die besondere Struktur des Leinentischtuchs. Und das Einzige, was ich denke, ist: Es hat mir gutgetan! Ich habe gut gespielt und hatte Spaß daran. Ja, das hatte ich. Aber manche Dinge sind einfach vorbei. Nicht jedes Ende birgt einen neuen Anfang.

»Hörst du mir überhaupt zu? Izzy!«

Ruckartig hebe ich den Kopf, blicke meinem Vater in die Augen. Mein Atem stockt, meine Augen sind weit aufgerissen. Ich kann nicht glauben, was er gesagt hat – wie er mich genannt hat. Diese vier Buchstaben, die alleine keinen Sinn ergeben. Diese vier Buchstaben, die zusammen für mich die Welt bedeuten. Izzy.

Ich bin nicht sie.

Meine Mutter zieht hörbar die Luft ein, aber ich kann nicht ablassen vom Gesicht meines Vaters. Ich atme schwer, in mir tobt ein Sturm aus Wut und Trauer, aus Enttäuschung und Schuld, aus Unglauben und Schmerz.

Er lässt die Gabel sinken und ich sehe es ihm an – die Erkenntnis, dass gerade etwas schiefgelaufen ist, trifft ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Seine Augen wandern unruhig umher, seine Schultern verspannen, sein Gesichtsausdruck ändert sich. Aber welche Erkenntnis ist es wohl genau? Dass Izzy tot ist oder dass er mich eben verletzt hat? Mehr als ich zugeben will.

Ich warte. Auf irgendeine Reaktion. Kurz schaue ich zu meiner Mutter, der es genauso geht, die meinen Vater beinahe flehend ansieht. Aber nichts geschieht. Nein, überhaupt nichts. Er schafft es nicht einmal mehr, mich anzusehen, und für den Moment könnte man glauben, dass er seine Sprache verloren hat – er und nicht ich.

Die Sekunden verrinnen, aber sie fühlen sich wie Minuten an. Wie eine quälende Ewigkeit, in der Izzys Name gesprochen widerhallt, immer wieder, und in der Dad es nicht schafft, ihn zurückzunehmen.

Laut und schnell schabt der Stuhl über das Parkett, als ich ruckartig aufstehe. Mir ist schwindlig und schlecht, mein Brustkorb droht zu explodieren, weil dahinter all meine aufgestauten Gefühle sitzen und darauf warten, ausbrechen zu können. Aber ich kann nicht schreien, nichts sagen. Also können sie nur auf einem Wege hinaus und das Letzte, was ich jetzt will, ist, dass jemand meine Tränen sieht. In diesem Moment schäme ich mich dafür, ich selbst zu sein, und ich kann nicht glauben, dass mein eigener Vater daran schuld ist.

Fast über meine eigenen Füße stolpernd laufe ich die Treppen hinauf, höre die Stimme meiner Mutter wie ein Hintergrundrauschen, das Zerbrechen von Geschirr wie eine schiefe Melodie. Keuchend lande ich in meinem Zimmer, schließe die Tür hinter mir und versuche, zu Atem zu kommen. Ich raufe mir die Haare, gebe ein leises Wimmern von mir und breche zusammen.

Hannah, Hannah, Hannah. Das ist mein Name. Auch wenn ich mir gewünscht habe, Izzy zu sein. Auch wenn ich alles tun würde, um mit ihr tauschen zu können … Jetzt schmerzt es einfach nur, dass man mich angeblickt und sie gesehen hat.

Es fühlt sich so an wie an dem Tag, an dem man mir sagte, dass man Izzy nicht retten konnte. Ich spüre die gleiche Schwere, den gleichen Schmerz. Ich spüre wieder diese tiefe Verlorenheit und Machtlosigkeit.

Irgendwann finde ich die Kraft aufzustehen. Meine Beine sind taub, meine Augen brennen, sie sind trocken, genauso wie mein Hals. Die Sonne ist untergegangen, doch das Dämmerlicht genügt. Mit kribbelnden und wackligen Beinen schwanke ich zu dem großen Spiegel am anderen Ende des Zimmers. Und ich sehe genau hin. Leicht gebräunte Haut, blondes langes Haar, blaue Augen. Eine Stupsnase. Ich sehe Izzy so ähnlich, dass es wehtut.

Während ich mein zerzaustes Haar zur Seite streiche, das letzte Licht des Tages mein Zimmer erhellt und ich die Spuren meiner Tränen von meinem Gesicht wische, ändert sich plötzlich etwas. Ich stelle mich aufrecht hin, hebe das Kinn, straffe die Schultern und zum ersten Mal, seit Izzy nicht mehr da ist, habe ich einen inneren Antrieb. Ich weiß, was ich tun muss. Morgen früh werde ich das tun, was meine Eltern wollten: neu anfangen.

Ein Lächeln zupft an meinen Lippen, ich kann es nicht nur spüren, sondern sehe es vor mir im Spiegel. Ein Funken nistet plötzlich in mir. Und es ist mir egal, woraus er besteht. Es ist ein Funke. Mehr als jemals da war, seit Izzy fortging.

Meine Beine tragen mich zum Bett, meine Hand greift mechanisch nach dem Block und dem Füller. Ich schalte die Nachttischlampe an und streiche Mo übers Fell, der sofort anfängt zu schnurren.

Kurz verharre ich, hole zitternd Luft. Dann spüre ich das vertraute Gefühl, sehe Tinte auf Papier, höre Worte, die geschrieben und nicht gesagt werden.

Ein großer Tintenfleck prangt auf dem Papier, der Füller ruhte zu lange an dieser Stelle. Ich war in Gedanken versunken. Entschlossen lege ich ihn weg, reiße die Seite mit einem Ruck heraus, genauso wie die Seiten davor, die ich heute Morgen schrieb, und lege den Block aufs Bett. Er ist jetzt wieder leer und unbeschrieben. So als hätte er nichts zu erzählen und als wäre ihm nie etwas erzählt worden. Doch der Schein trügt. Ich habe ihm schon so vieles anvertraut, habe es niedergeschrieben, nur um es ihm Stück für Stück wieder zu entreißen. Habe ihn für einen Moment vervollständigt, nur, um ihm danach so viel mehr zu nehmen. Und manchmal, wenn ich ihn ansehe, sehe ich mich. Ich bin der Block. Ich bin das weiße Papier. Mir hat das Leben etwas erzählt, mir hat das Leben Izzy geschenkt – und dann mit einem Ruck genommen. Stück für Stück reißt es etwas aus mir hinaus, ohne dass ich es verhindern kann …

Mit all den Worten in meiner Hand gehe ich zur Kommode und greife nach den Streichhölzern. Im schwachen Licht der Nachttischlampe öffne ich die Tür zu meinem kleinen Balkon. Noch immer ist es angenehm warm, nur eine leichte Brise weht mir um die Nase und lässt mich kurz die Augen schließen. Ich gehe in die Knie, lege die Blätter auf den Boden. Woche um Woche tue ich das bereits und trotzdem wird mir jedes Mal schwer ums Herz. Jedes Mal zittern meine Hände. Jedes Mal, wenn die Flamme auf das Papier trifft, wenn sie sich ausbreitet, hell aufleuchtet und all meine Worte an Izzy zerstört.

Ein Ratschen, das Streichholz geht an, die Flamme lodert, so klein und trotzdem so mächtig. Sie züngelt, als ich sie an das Papier halte, und dann beobachte ich, wie sie ihr Werk tut. Wie nichts als Asche bleibt. Aus meinen Gedanken wurden Worte, die nun verbrennen und wieder zu Gedanken werden. Aber jetzt habe ich das Gefühl, sie gesagt zu haben. Still und doch so laut.

Als die letzte Flamme erlischt und mich im Halbdunkel zurücklässt, als ein Windhauch die letzten Fetzen mit sich fortträgt, gehe ich zurück ins Zimmer. Lauschend stehe ich da, aber es ist vollkommen ruhig im Haus. Meine Eltern haben nicht versucht, mit mir zu reden, sie kamen nicht nach oben. Vielleicht geben sie es jetzt auf, weil ich sowieso nicht antworte. Weil ich es nicht kann. Ich glaube, ich kann meine Gedanken nicht mehr aussprechen, ich glaube, ich würde die Töne nicht mehr finden. Ich weiß nicht mehr, wie man spricht, es fühlt sich an, als hätte ich es nie gewusst. Es ist kein Automatismus mehr. Nein, es ist etwas, für das mir die Anleitung fehlt.

Die Stille meiner Worte

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