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Kapitel 7 – Levi Auf die Plätze, fertig, los!
Оглавление»Levi! Hörst du mich?«, dröhnt Max’ Stimme aus dem Flur. Natürlich höre ich ihn, ich bin ja nicht taub. Wenn er so weitermacht, wird er noch heiser vom Schreien. »Levi! Beweg deinen Arsch endlich hierher, sonst fahren sie ohne dich.« Seine Schritte kommen näher, sie klingen wie Fußgetrappel und dann dauert es keine fünf Sekunden, bis seine Faust ohne Unterlass gegen meine Tür hämmert. Mein Rücken schmerzt davon, weil ich an ihr gelehnt auf dem Boden sitze, damit niemand reinkann.
Meine Sachen sind gepackt. Das sind sie seit zwei Wochen. Heute geht’s endlich los und es fühlt sich an wie das erste Mal, als ich ins Camp fuhr: absolut beschissen! Ich habe keine Lust. Ich will nicht, dass das letzte Mal schon heute beginnt, obwohl es zuvor nicht schnell genug gehen konnte.
Die Gitarre liegt neben mir, ebenso wie die geliebte Patriots-Cap meines Bruders und meine große Reisetasche. Bereiter geht es nicht.
»Levi, ich schwör dir, ich trete dir in deinen Arsch, wenn du da nicht sofort rauskommst!« Ich muss auflachen, weil ich mir vorstelle, wie Max das versucht. Er ist kleiner als ich und immer noch sehr schmächtig trotz Therapie und regelmäßigem Essen. Er würde nicht mal in die Nähe meines Hinterns kommen.
»Max, was schreist du denn so? Es gibt hier im Gebäude noch andere Schüler.« Oh nein! Ich schließe kurz die Augen. »Levi? Bist du da drin?«
»Ja«, krächze ich, bevor ich ein Stück rutsche, sodass die Tür aufgemacht werden kann. Ben drückt sich hindurch und schließt sie danach sofort wieder, was Max frustriert aufstöhnen lässt.
»Hey! Das ist nicht fair!«
»Komm, Max! Das lernt ihr schon, bevor ihr an die Schule kommt«, sagt Ben freundlich mit einem Lächeln im Gesicht, während er vor mir in die Knie geht.
»Alles okay?«, fragt er mich und es ist nett, dass er diese Frage stellt, obwohl er längst weiß, dass nichts okay ist. Er gibt mir damit das Gefühl eine Wahl zu haben. Zu entscheiden, was ich sage und wie viel – ob ich überhaupt etwas sage.
Bens Augen fixieren mich, sein grauer Bart steht in starkem Kontrast zu seiner gebräunten Haut und seinen noch fast schwarzen Haaren. Er ist um die 50 und der Leiter von Sankt Anna. Benedikt Franke, den alle nur Ben nennen. Er hat uns erklärt, dass dieser Ort nun ein Teil unserer Heimat wäre und jeder, der hier lebt, ein Teil unserer Familie. Es gäbe keinen Grund, unnötig Distanz zu schaffen, wenn wir eigentlich nach Nähe suchen. Distanz ist keine Garantie für Respekt, sagt Ben immer. Ihr würdet mich nicht automatisch mehr respektieren, wenn ich darauf bestehen würde, wieso sollte ich es also verlangen?
»Ich weiß es nicht«, sage ich vorsichtig. Es ist nur halb gelogen.
»Ich verstehe«, sagt Ben und er ist wohl der Einzige, dem ich das auch glaube. »Und was weißt du?«
Ich fahre mir durchs Haar und weiche seinem Blick aus. Ich will es nicht sagen, will die Worte nicht aussprechen. Noch weniger, da Ben ganz genau weiß, was los ist.
»Es wird nicht besser, wenn man es ausspricht.«
»Vielleicht nicht. Aber es wird auch nicht besser, wenn man es in sich reinfrisst. Manchmal muss man seine Ängste aussprechen, um zu merken, dass man vor ihnen keine Angst zu haben braucht.«
»Ich verstehe gar nicht, warum du deinen Lehrstuhl für Philosophie aufgegeben hast«, sage ich leicht bissig.
»Weil ich lieber hier bei euch den Klugscheißer spiele«, gibt er lachend zurück und erinnert mich damit an unser erstes Gespräch. Damals habe ich ihn einen Klugscheißer genannt und beschimpft.
»Heute startet das Camp«, spreche ich das Offensichtliche aus und verdrehe von mir selbst genervt die Augen. Wie immer, wenn ich nervös bin, kaue ich auf meinem seitlichen Lippenpiercing herum, was Ben regelmäßig in den Wahnsinn treibt und ihm auch jetzt einen genervten Blick entlockt. Doch er lässt sich nur neben mir nieder, lehnt sich an die Tür und ich nehme meine alte Position ein und tue es ihm gleich. Seite an Seite starren wir mit angezogenen Beinen auf meine gepackten Sachen.
»Du musst nach dem Camp nicht gehen.« Bens Stimme ist leise, aber fest. Er würde für mich eine Ausnahme machen, das ist mir klar. Aber ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann. Genauso wenig, wie ich weiß, was nach Sankt Anna passieren wird. Mit mir, meinem Leben. Man hat sich bereits um eine neue Wohnung gekümmert, um ein Zimmer, in einer Einrichtung, die nicht so geschlossen und strikt ist, aber die hilft, in dem neuen Alltag anzukommen und sich in der echten Welt zurechtzufinden. Mit der Volljährigkeit sagt man dem Leben hier Adieu, ob man will oder nicht. Spätestens aber mit neunzehn. Man kann bis zu einem Jahr verlängern, nicht mehr. Dieser Ort ist eine Hilfe für Kinder und Jugendliche, nicht für Erwachsene. Ich bin letzten Monat neunzehn geworden.
»Wo ist Tom? Ohne Tom gehe ich nirgendwohin! Auch nicht auf diese blöde Schule. Wo ist meine Mum? Sie braucht mich!«, schreie ich und versuche den großen Mann vor mir wegzuschieben. Er redet beruhigend auf mich ein und irgendwann werden aus meiner Wut Verzweiflung und aus den Schreien Schluchzer.
»Mein Name ist Benedikt, aber du kannst mich Ben nennen. Deine Mum und Tom passen gut auf sich auf und du bist hier, damit es dir auch gut gehen kann.«
»Mir ist egal, wer Sie sind. Mir ist das scheißegal! Mir geht es gut! Ich muss auf Mum und Tom aufpassen.«
»Aber zuerst musst du auf dich selbst aufpassen, Levi!«
»Halten Sie den Mund, Sie blöder Klugscheißer! Halten Sie den Mund! Was wissen Sie schon?«
Bens große Hand auf meinem Knie reißt mich aus der Erinnerung. Er klopft kurz darauf.
»Mit dir ist alles okay, Levi«, sagt er schließlich. »Das war es immer. Du warst hier, damit du das erkennst. Und du bist noch hier, weil du es längst weißt. Du warst nie das Problem.«
Tief einatmend gebe ich mir einen Ruck und stehe auf, ich schnappe mir die Cap, setze sie verkehrt herum auf, nehme die Gitarre und werfe mir meine Tasche über die Schulter. Ich hoffe, Ben hat recht. Ich hoffe, dass ich es längst weiß.