Читать книгу Die Stille meiner Worte - Ava Reed - Страница 8
Kapitel 1 – Hannah Die Stille kann lauter sein
als der Sturm.
ОглавлениеDas war sie – die letzte Kiste, die mein altes Leben in mein neues bringt. Die letzte Kiste voller Erinnerungen.
Mein Blick schweift durch das Zimmer, über das fröhliche Pastellgelb der Wände und den alten Holzboden, bis hin zu meinem neuen Bett und den Kommoden in Weiß, die Dad bereits aufgestellt hat. In Gedanken höre ich ihn und Mum sagen: Neuer Ort, neues Heim, neuer Anfang. Alles wird besser werden, Hannah!
Aber heißt neu auch immer besser?
Mit zitternder Hand wische ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel, schiebe einzelne Strähnen meines Haares zur Seite und atme tief ein, denn eines ist sicher: Es gibt keine Möglichkeit, dass all das noch schlimmer werden könnte. Es ist bereits schlimm, es tut weh und es ist real. Mein Leben ist die Steigerung von allem Schlechten, der Superlativ von einsam und verloren sein. Weil Izzy weg ist und weil auch ein neues Haus, ein neues Zimmer und ein neues Leben daran nichts ändern können. Erinnerungen kann man nicht löschen. Man kann sie nicht einfach vergessen. Man kann sie nicht ändern. So wenig, wie ich das mit diesem einen Tag kann. Egal, wie neu alles um mich herum ist – ich werde es nie sein.
Dutzende von Kartons stehen wild durcheinander, voll mit Dingen, die mir mal etwas bedeuteten. Jetzt sind es nur noch irgendwelche Dinge. Austauschbar, bedeutungslos, zerbrechlich.
Nur eine Kiste ist die Ausnahme. Eine einzige. Sie enthält nichts, außer eines von Izzys Lieblingsshirts mit der Aufschrift Hakuna Matata, meinen Notizblock samt Füller, ein gerahmtes Bild von Izzy und mir, eine Kerze und Streichhölzer.
Langsam steuere ich auf sie zu, sie steht etwas abseits. Vor ihr sinke ich auf die Knie und schiebe die zwei Hälften des Deckels auseinander, ziehe sie nach oben. Die Pappe knarzt dabei und gibt nur widerwillig nach.
Ich greife vorsichtig hinein, lege meinen Block und den Füller neben mich, ebenso das Shirt mit seinen Löchern, in das ich kurz mein Gesicht vergrabe. Es riecht längst nicht mehr nach Izzy. Das gerahmte Bild wiegt schwer in meinen Händen, wirkt, als wäre es aus einer anderen Welt, aus ferner, vergangener Zeit. Meine Fingerspitzen berühren den weißen, verschnörkelten Rahmen, den ich erst neu kaufen musste, und das kühle, glatte Glas darüber. Ich erinnere mich an den Tag, an dem das Bild geschossen wurde, und es ist fast, als könnte ich Izzys Lachen hören. Ich sehe sie und ich sehe mich – ich sehe sie in mir und mich in ihr. Meine Hand legt sich wie von selbst flach auf das Glas, auf das Stück über Izzy. Sie verschwindet. Nein, sie ist schon seit Monaten fort.
Schwer atmend kneife ich die Augen zusammen, schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und vertreibe die Gedanken, die so viele Gefühle und Worte hervorrufen. So vieles, das sowieso nie hinauskann.
Alles in mir schmerzt. Es ist die Art von Schmerz, die so stark ist, dass man ihn nicht mehr zeigen kann, weil er eine Grenze überschritten hat. Die Art, die man nicht herauslassen kann, weil jeder Schrei, jedes Wort und jede Träne zu wenig wären für ihn.
Als etwas Weiches meinen Arm streift, zucke ich zusammen. Meine Augen finden die von Mo, der mich neugierig ansieht. Mo ist Izzys Kater. War es. Und ich kann über die Ironie nicht lachen, dass er aufgrund seines gemusterten Fells und seiner drei Farben als Glückskatze gilt. Vielleicht brauchte er es selbst, vielleicht hatte er Glück, weil er nur ein halbes Ohr verloren hat und etwas Fell und es ihm sonst gut geht.
Maunzend setzt er sich neben mich und beginnt zu schnurren. Manchmal beruhigt es mich und vertreibt alles in meinem Kopf, bis nur noch eine Leere darin ist, in der sich das Echo des Schnurrens sammelt und zu einer Melodie wird. Manchmal hilft es. Und dieses Manchmal ist nicht mehr als ein bunter Punkt auf einer monochromen Leinwand. Ein Stück Farbe, das in dem Meer aus Schwarz und Weiß zu ertrinken droht.
Die Schritte und das Knarzen der Treppe dringen an mein Ohr und geben mir Zeit, mich zu fassen, bevor es dreimal an der Tür klopft, die ohnehin offen ist. Ich lasse meine Hand weiter über Mos Fell streichen, spüre, wie meine Muskeln sich anspannen, wie jede Zelle meines Körpers sich wünscht, dass Izzy zurückkommt, nie wieder alleine zu sein. Weil allein sein nichts anderes bedeutet, als ohne Izzy zu sein. Für immer. Ohne daran etwas ändern zu können. Ohne es anders verdient zu haben.
Mein Vater steht unschlüssig im Türrahmen, ich kann es aus dem Augenwinkel sehen. Was möchtest du?, schießt es mir durch den Kopf, aber ich sage nichts. Ich kann nicht.
»Gefällt dir das Zimmer?« Er klingt erschöpft und dennoch bemüht fröhlich. Sein lautes Räuspern und seine zaghaften Schritte in meine Richtung verraten ihn. Er will nicht hier sein. Nicht wirklich. Nicht nach dem, was war.
»Das Bett sieht fast so aus wie dein altes und in den Kommoden hast du jetzt mehr Platz. Deine Mutter und ich sind unten dabei, die ersten Kisten auszuräumen. Möchtest du uns vielleicht helfen?«
Ich kann nicht anders, ich hebe den Blick, lege den Kopf in den Nacken und erforsche sein Gesicht. Er sieht blass aus, die ersten grauen Strähnen durchziehen sein dunkelblondes Haar. Mit den Händen in den Hosentaschen steht er vor mir, versucht sich an einem Lächeln. An einem bittenden, flehenden Lächeln, von dem er weiß, dass es zu nichts führt. Ich frage mich, was mehr wehtut: das Scheitern an sich oder das Wissen, dass man scheitern wird, noch während man es versucht. Ich frage mich, was ihm durch den Kopf geht und wie sehr es ihn schmerzt, mich anzusehen. Hannah, nicht Izzy. Und ob es die gleiche Art von Schmerz ist, die ich kenne.
In diesem Moment wünsche ich mir, die Mauern in mir wären fort, damit ich ihn anschreien kann. Ihn und die ganze Welt. Aber es funktioniert nicht, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Weil keines der unzähligen Worte etwas ändern würde. Kein einziges! Nichts, außer dass sie gesagt wurden und nicht zurückgenommen werden können. Sind sie einmal gesprochen, hallen sie nach und verklingen nie, denn Worte sind Kinder der Ewigkeit.
»Vielleicht … Vielleicht ist es besser, du kommst erst richtig an und packst deine Sachen aus.« Unbeholfen fährt er sich über die Haare, weicht meinem Blick aus und geht schließlich.
Enttäuschung. Sie wabert in meinem Zimmer umher und erdrückt mich, treibt mir erneut die Tränen in die Augen. Izzy und mein Bild gleitet von meinen Beinen, die ich an mich ziehe, um meinen Kopf darauf zu betten. Ich weine leise, aber deshalb tut es nicht weniger weh.
Ich sitze auf dem Boden meines neuen Lebens – und zerbreche. Immer und immer weiter wird jede Scherbe gebrochen, die mich ausmacht. Sie werden kleiner und kleiner, denn es gibt nichts und niemanden, der sie zusammenflickt. Seit Izzy weg ist, kann ich das besonders gut – das Zerbrechen. Seit Izzy weg ist, weiß ich, wie das ist.
Irgendwann versiegen die Tränen, werden zu einem dumpfen Gefühl, zu etwas, das sich schlafen legt. Wenigstens für einige Stunden. Mo schnurrt noch immer neben mir und ich drücke ihn sanft weg, bevor ich aufstehe, mir einmal übers Gesicht wische und nach meinem Notizbuch samt Stift greife.
Es ist Zeit.
Mo hebt sofort verschlafen den Kopf, maunzt laut, folgt mir zum Bett und lässt sich erneut neben mir nieder. Seit Izzy fort ist, weicht er nicht von meiner Seite. Ich weiß nicht, ob er versteht, dass ich nicht sie bin.
Als ich das Büchlein öffne, schlägt mir eine gähnende Leere entgegen. Weiße Seiten ohne Inhalt. So, als hätte ich Izzy noch nie geschrieben, dabei waren es bereits Dutzende Briefe. Dutzende Sätze, Worte und Gedanken. Dutzende Gefühle und Dinge, die ich ihr nicht sagen konnte.
Ich ziehe den Deckel des Füllers ab, atme tief ein und setze ihn auf das Papier, bis der erste blaue Fleck entsteht, das erste bisschen Farbe. Das leichte Schaben der Füllfeder auf Papier beruhigt mich ebenso wie die Tinte, die sich in geschwungenen Linien ausbreitet. Zeile um Zeile füllt sich und es fühlt sich gut an, es ist mehr als eine Regelmäßigkeit, mehr als etwas, an dem ich mich festhalte. Es wird zum Rausch. Es ist ein Stück Hoffnung. Darauf, dass Izzy auf irgendeine Art und Weise diese Worte liest. Irgendwann. Dass diese Worte sie finden und umarmen, ihr Wärme schenken, wo auch immer sie ist. Dass diese Worte nicht ungesagt bleiben.
Sterben müssen wir alle und wahrscheinlich macht uns diese Gewissheit mehr Angst als der Tod selbst. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir nicht einfach Izzys Leben zurückwünschen, nein, ich würde mir wünschen, mehr Zeit mit ihr gehabt zu haben.
Ich würde mir Zeit wünschen. Unendlich viel davon.