Читать книгу Die Stille meiner Worte - Ava Reed - Страница 20
Kapitel 8 – Hannah Manchmal ist das, was wir wollen,
nicht das, was wir brauchen.
ОглавлениеFreudlos lache ich auf, als ich meinen Koffer aus dem Auto ziehe, an dem mein Schlafsack hängt, und auf den Asphalt plumpsen lasse. Vor ein paar Wochen habe ich erst die wenigen Sachen, die ich noch besitze, aus Umzugskisten geholt, jetzt befinden sie sich wieder weggepackt in diesem Koffer. Ich fühle mich wie eine Puppe in einem Theater und das Leben zieht an meinen Fäden, hin und her, als könne es sich nicht entscheiden, was es mit mir machen soll.
Dad will mir helfen, aber ich ignoriere ihn und ziehe mit zusammengekniffenen Lippen das schwere Ding hinter mir her. Die Rollen versagen, der Koffer ist zu alt, die Straße zu ramponiert. Nur ein paar Eltern stehen auf dem Parkplatz oder vor dem kleinen gelbweißen Bus mit der Aufschrift Sankt Anna, dessen Motor bereits läuft. Die letzten Jugendlichen steigen ein und während ich immer näher komme, richten sich ihre Blicke auf mich, weil mein Gepäck zu viel ist und die Rollen so laut quietschen und klappern. Es ist mir egal. Ich bin zu wütend. Ich bin zu enttäuscht. Trotzdem spüre ich, wie mir die Röte in die Wangen steigt. Meine Eltern sind mir dicht auf den Fersen und weil sie mich loswerden wollen, steigt in mir auch der Wunsch auf, sie loszuwerden. Es ist kindisch, irrational und schlicht blöd, aber ich kann es nicht ändern.
Meinen Rucksack trage ich vorsichtig vor mir anstatt auf dem Rücken und der Reißverschluss ist nicht ganz zu. Mein linker Arm liegt halb darüber. Ich muss aufpassen! Der Schweiß steht mir bereits auf der Stirn und ich versuche die Panik zu unterdrücken, als ich neben dem Bus zum Stehen komme.
Ein älterer Mann mit grauem Bart und drahtiger Figur begrüßt uns. Er ist größer als Dad und strahlt eine gewisse Autorität aus, ohne einschüchternd zu wirken. Ich mustere ihn und die Frau neben ihm kurz, bevor ich den Blick senke und abwarte.
Die Kraft zu kämpfen ist mir abhandengekommen. Ich könnte losrennen, aber wohin?
»Herr Franke, schön Sie kennenzulernen«, sagt Mum und sie geben sich die Hand. Dad folgt.
»Danke, dass Hannah so kurzfristig Ihre Schule besuchen darf.«
Bei Dads Worten male ich mit dem Kiefer.
»Willkommen, Hannah. Mein Name ist Ben, ich bin der Leiter von Sankt Anna. Wenn es irgendetwas gibt, worüber du reden möchtest, komm immer zu mir.« Seine freundliche Stimme sorgt dafür, dass ich den Kopf hebe und in seine dunkelblauen Augen blicke. Dort finde ich nichts. Keine Erwartungen, keine Feindlichkeit, keine Distanz. Und diese Erkenntnis gibt mir den Mut, ihm die Hand zu geben und kurz zu nicken. Ein Nicken, das er erwidert, bevor er sich an meine Eltern wendet.
»Jana ist eine der Betreuerinnen für das Camp, ich werde nicht daran teilnehmen. In drei Wochen finden die Schüler hierher zurück, können sich noch eine Woche einleben, bevor die Schule beginnt.«
»Und was ist mit den …?«
»Alles andere wird sich schon fügen«, unterbricht Ben Dad, der anscheinend mehr versteht als ich.
»Schön, dass du da bist, Hannah«, sagt Jana, die nicht älter als zwanzig sein kann und ein einnehmendes Lächeln besitzt. Ihre lange Mähne erinnert mich an meine alten Haare, an Izzys. »Alle anderen, die das Schuljahr hier mit dir beginnen und uns auch begleiten, sind schon im Bus. Wie wäre es, wenn du auch einsteigst? Dann können wir gleich los. Ich sorge dafür, dass dein Koffer verstaut wird.« Am liebsten würde ich etwas sagen. Sagen, dass ich ohnehin keine Wahl habe, aber es würde nichts bringen. Kurz huscht mein Blick zu Mum und Dad und all die Gefühle, die in mir brodeln, bereiten mir Übelkeit. Es tut mir leid, ich wollte nichts von dem, ich bin Hannah, ich bin noch ich, warum werft ihr mich weg, es tut mir leid. Das will ich schreien. Und sosehr ich ihnen Auf Wiedersehen sagen, sie umarmen will zum Abschied, sosehr mich der Anblick von Mum schmerzt, die ihre Hand nach mir ausstreckt, so sehr kann ich es nicht.
Ich lasse Jana meinen Koffer nehmen, halte meinen Rucksack fest und drehe mich einfach um. Auf halbem Weg passiert es. Er bewegt sich. Mein Blick schnellt hoch und der Einzige, der meinem begegnet, ist der von Ben. Aber er sagt nichts, auch wenn ein Grinsen an seinen Lippen zupft. Ich schaue schnell weg, beuge mich tief über den Rucksack und steige die drei Stufen des Busses hinauf.
Der Fahrer ist eine Frau mit süßem Gesicht und großen Hamsterbacken. Ihre braunen Locken stehen kreuz und quer von ihrem Kopf ab. Mein Puls rast, mein Mund ist staubtrocken. Der Bus ist klein und trotzdem nicht voll. Vorne, von mir aus links, sitzt jemand, er hat sich die Cap ganz ins Gesicht gezogen und es sieht aus, als würde er schlafen, seine Beine hängen über dem Geländer, das zur Tür runterführt, ich sehe ein paar Tattoos, eine verschlissene Jeans, kaputte Chucks. Hinter ihm entdecke ich ein Mädchen, das mich ansieht und dabei die Augen gefährlich zusammenkneift, ihre Haare sind kurz geschoren, sie hat riesige Ringe unter den Augen. Sie wirkt so jung! Dahinter kommen zwei Jungs, sie sehen sich ähnlich, hellblondes Haar, das lockig auf die Schultern fällt, freundliches Gesicht. Sie wirken schüchtern. Auf der anderen Seite blicken mir noch weitere sechs Augenpaare entgegen, eines davon aus der letzten Reihe, weit abgeschlagen von den anderen. Vorne rechts nickt mir eine Frau zu, bevor sie sagt: »Such dir einen Platz, wo du dich wohlfühlst. Wir werden ungefähr eine Stunde unterwegs sein.« Sie ist wohl die andere Betreuerin neben Jana.
Tief einatmend versuche ich die musternden Blicke der anderen Jugendlichen zu ignorieren. Mit klopfendem Herzen und höllisch lautem Rauschen in den Ohren schiebe ich mir eine Strähne meines kurzen Haares aus dem Gesicht und gehe, bis ich nicht mehr weiterkomme, bis zum Ende des Busses. Ich lasse mich auf der Rückbank nieder, an der entgegengesetzten Seite zu dem Mädchen in der Ecke links von mir. Sie sieht aus dem Fenster und beachtet mich nicht, zieht nur ihren Pullover an den Ärmeln noch weiter nach unten. Wie hält sie das aus? Obwohl die kleinen Klappfenster offen stehen, weht kein Wind, es sind gefühlt fünfunddreißig Grad, die Luft ist stickig und ich drohe in meinem Top und meiner langen Jeans beinahe zu zerlaufen. Ich will nicht wissen, wie nass ihr Nacken ist, dort, wo ihre schweren und dicken braunen Haare liegen und sich wie ein Fächer über ihre Schultern ausbreiten.
Ich schaue an ihr vorbei, aus dem Fenster und sehe, dass meine Eltern noch immer mit dem Schulleiter reden. Jana betritt dafür gerade den Bus und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie sagt ein paar Worte zur Busfahrerin, bevor sie sich neben den schlafenden Jungen in der ersten Reihe setzt. Dann röhrt der Motor des Busses auf und die Türen gleiten zu.
Erleichtert und nervös zugleich atme ich ein und aus, halte den Rucksack auf meinem Schoß fest, öffne den Reißverschluss noch ein Stück und bete, dass alles gut geht.
Während der Bus sich ruckelnd in Bewegung setzt, tut mir vor Anspannung jeder Muskel weh. Angestrengt versuche ich, nicht zu Mum und Dad zu sehen, und lasse mich erst gegen den Sitz sinken, als Sankt Anna endlich außer Sicht ist.
Trotzdem kann ich noch lange nicht aufatmen. Aus dem Rucksack ertönt plötzlich ein lautes Maunzen, und ich zucke zusammen, schließe instinktiv die Augen und rühre mich nicht. Oh mein Gott, bitte lass das niemanden gehört haben! Ich blinzele vorsichtig und schaue mich um, jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Jeder, nur nicht das Mädchen am anderen Ende der Bank, das mich nun interessiert mustert.
Mein Plan ist wenig durchdacht, muss ich gestehen. Ich habe nur eine Wahl und ich muss es riskieren, weil es hier drin viel zu heiß ist. Ich reiße die andere Seite des Reißverschlusses auf und hole Mo heraus, der sofort zu schnurren anfängt. Er legt sich neben mich.
Abwartend sehe ich das Mädchen an und bitte sie mit einem flehenden Blick, nichts zu verraten. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, ich spüre, wie mir der Schweiß an der Schläfe hinunterrinnt und wie sich Mo unter meiner Hand entspannt. Eine Ewigkeit, bis sie lächelt und zaghaft nickt. Ich tue es ihr gleich und danke ihr stumm für diesen Gefallen.
Mo hat es mir nicht leicht gemacht. Als ich anfing, meine Tasche zu packen, hat er sich immer wieder reingelegt und ich musste ihn jedes Mal rausheben. Es war ein einziges T-Shirt rein, Katze raus, Hose rein, Katze raus, BH rein, Katze wieder raus … Er miaute und hörte nicht damit auf. Am Ende legte er sich in den Rucksack und sah mich missmutig an. Sofern eine Katze das kann. Mit diesem Blick, der sagte: Wie kannst du gehen, wo Izzy schon fort ist? Wie kannst du mich alleine lassen? Und ich fragte mich selbst, wie ich das vor Izzy verantworten sollte. So wie er da im Rucksack lag, der viel zu groß war für ihn, fasste ich einen Entschluss. Wenn Mo mitwollte, würde ich ihn mitnehmen.
Also habe ich heute Morgen nahezu alles, was eigentlich noch in den Rucksack sollte, irgendwie in den Koffer gestopft und kurz bevor wir losfuhren Mos Futternapf samt kleiner Wasserflasche, meine Musik, mein Notizheft, Füller und Streichhölzer vorne in das kleinere Fach des Rucksacks getan. Mo stieg von alleine ins große Fach. Ich ließ den Rucksack oben offen, damit er Luft bekam, aber bei dem Wetter war mir klar, dass er da schnell wieder rausmusste. Im Auto ging es noch, die Klimaanlage lief auf Hochtouren und es blieb kühl im Rucksack. Hier im Bus hätte er es keine Stunde darin ausgehalten.
Erleichtert, dass Mos und mein waghalsiger, eigentlich nicht existenter Plan irgendwie aufgegangen ist, beobachte ich ihn beim Schlafen.
Im Bus ist es ruhig, nur das laute, regelmäßige Geräusch des Motors und die vorbeiziehenden Autos sind zu hören.
Ich frage mich, warum die anderen hier sind. Ob sie eine Wahl hatten. Ob sie hier sein müssen oder wollen. Und, ob das einen Unterschied macht.
Vorsichtig ziehe ich meinen MP3-Player aus meiner Hosentasche und stecke meine Kopfhörer rein. Ich drücke auf Play, meine Gedanken driften weg, mein Blick liegt auf den Bäumen, die am Straßenrand vorüberziehen, und meine Hand ruht auf Mos Körper, der unter ihr leicht vibriert. Ich sollte Izzy schreiben. Hoffentlich bekomme ich an unserem Zielort und innerhalb dieser drei Wochen genug Zeit für mich. Hoffentlich bekomme ich die Gelegenheit, Izzy meine Worte zu schicken. Was, wenn sie mich erwischen? Das darf nicht passieren! Niemals.