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Kapitel 3 – Hannah Nicht jede Veränderung
ändert auch etwas.

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Meine Augen sind geschwollen, weil ich heute Nacht keine Ruhe gefunden habe. Stundenlang habe ich am Laptop gehangen und im Internet gesurft. Zwischendurch habe ich Mo gefüttert oder einfach mit ihm auf dem Boden gelegen und aus dem Fenster gestarrt. Jetzt geht die Sonne auf und ich bin müder, als ich dachte. Gähnend strecke ich mich vor dem Spiegel, dann binde ich meine Haare zu einem Dutt. Die Jeans von gestern klebt noch an mir, das Top ist leicht zerknittert. Ich habe keine Kraft, mich umzuziehen, nur den Willen, heute etwas zu ändern.

Ich schleiche auf Zehenspitzen in das Bad, das direkt neben meinem Zimmer liegt, dicht gefolgt von Mo, der sich zu meinen Füßen vor dem Waschbecken niederlässt. Das Bad gehört nur mir, das meiner Eltern ist unten. Während ich mir die Zähne putze, versuche ich wach zu bleiben, auch danach, als ich mein Gesicht eincreme und wenigstens die dunklen Augenringe überschminke. Ich sehe grauenvoll aus. Es ist mir egal. Es wird sich ändern.

Mo steht auf und reckt sich mir entgegen, als ich meine Arme nach ihm ausstrecke. Behutsam lege ich ihn über meine Schulter und schleiche mit ihm zurück ins Zimmer. Dort warten wir, still und leise, ich zähle die Sekunden und beobachte, wie die Sonne sich immer weiter nach oben schiebt.

Schließlich wird es Zeit. Ich lege Mo aufs Bett, schnappe mir meine Sandalen, den Schnipsel mit der Adresse und dem Bild neben dem Laptop, mein Portemonnaie, meinen Schlüssel und will gehen. Mo folgt mir, und ich seufze. Fragend sieht er mich an, legt den Kopf schief und ich schüttle den Kopf. Nein, Mo, heute kannst du nicht mit. Ich setze ihn erneut aufs Bett, streichle ihn sanft und gehe wieder zur Tür, die ich schnell hinter mir schließe. Dieses Mal so, dass Mo zurückbleibt.

Im Haus rührt sich nichts und niemand. Ich gehe die Holztreppe nach unten und überspringe die vorletzte Stufe, die sonst furchtbar laut knarzen würde.

Kurz wandert mein Blick zum Schlafzimmer meiner Eltern, ich spüre, wie sich ein Zögern in mir ausbreitet, die Frage, warum ich das tun will und ob es notwendig ist, aber meine Hand drückt bereits die Klinke der Haustür nach unten und meine Beine tragen mich hinaus. Ich habe mich längst entschieden.

Ich atme die frische und noch einigermaßen kühle Luft ein, umschließe den Zettel in meiner Hand fester und fester. Ich werde keinen Rückzieher machen. Für Rückzieher ist es zu spät.

Ritsch, ratsch, ritsch, ratsch. In regelmäßigen Abständen fährt die Schere durch mein langes, schweres Haar und mit jeder Strähne, die zu Boden fällt, fühle ich mich leichter. Ja, das hier ist richtig. Ja, es ist notwendig.

Gestern Abend, als ich mich im Spiegel sah und Izzy mich anblickte, wusste ich, dass sich etwas ändern muss. Ich vermisse Izzy, mehr als alles andere, aber ich bin nicht sie. Und ich will nicht länger so aussehen – wie ein Teil von etwas Ganzem, von etwas, das es so nicht mehr gibt.

Im Internet suchte ich nachts nach etwas, das am wenigsten nach mir aussah und dennoch irgendwie mir entsprach – und druckte das Foto aus.

Ich bin mit dem Fahrrad hier und seitdem ich den Friseurladen betreten habe, umklammere ich das Bild von meinem neuen Ich wie einen Anker. Man hat mich freundlich begrüßt, aber ich hielt nur zitternd das Bild hoch und zeigte darauf. Auf das Bild, dann auf mich.

Jetzt sitze ich auf einem dieser roten Friseursitze aus Leder und werde von Fanny zu einem neuen Menschen gemacht, wie sie mir zu Beginn freudig mitteilte. Sie merkte schnell, dass ich nicht rede, und hat es deshalb selbst ebenso gelassen. Sie lächelt mich nur ab und zu an, was mir ein wenig die Anspannung nimmt, auch wenn sie das nicht weiß. Fanny ist etwas größer als ich, kräftig gebaut, mit knallrotem Haar und einigen Piercings im Gesicht. Sie wirkt freundlich und so, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Sie ist so unbeschwert und fröhlich – sie erinnert mich an Izzy.

Mit sicheren Bewegungen schwingt sie Kamm und Schere zu der Musik aus dem Radio. Plötzlich wächst ein Kloß in meinem Hals, aber ich ignoriere ihn, denn mein Bauch sagt mir, dass ich das hier tun muss. Wenn ich dafür einen Grund nennen müsste, könnte ich es nicht. Vielleicht ist es ein letzter Rest des Menschen, der ich einmal war, der gegen all das, was ich jetzt bin, rebelliert. Vielleicht kann ich mich aber auch einfach nicht mehr ansehen, weil mich sehen, Izzy sehen bedeutet.

»So, das war’s! Ich bin fertig. Wie findest du es?« Stunden später ist es so weit. Fanny fährt durch meine Haare, ich begegne ihrem Blick im Spiegel und erst jetzt schaue ich mich richtig an. Erst jetzt traue ich mich, meinem anderen, meinem neuen Ich zu begegnen. Vor Überraschung keuche ich auf, atme schneller. Ich sehe, wie sich meine Augen weiten, mein Mund sich zu einem kleinen O formt. Langsam hebe ich meine Hand, die leicht zittert. Fanny lässt von mir ab, gibt mir etwas Raum.

Meine Hand berührt mein Haar, das sich anfühlt wie immer, nur ist es jetzt so viel kürzer. Ich wusste, was mich erwartet – und irgendwie nicht. Immer wieder lasse ich die Strähnen durch die Finger gleiten. Sie sind weich, fühlen sich ungewohnt fremd an, der Duft des Shampoos weht zu mir herüber, er ist blumig und frisch. Dann hebe ich meine linke Hand ebenfalls und fahre an der linken Seite meines Kopfes entlang. Hier fühlt es sich stoppelig an, aber nicht kratzig oder rau. Meine lange blonde Mähne ist nun weg, meine Haare sind kurz und schwarz, schimmern im Licht leicht blau und lassen meine Augen größer und heller wirken. Rechts fallen sie bis zu meinem Kinn, werden nach hinten etwas kürzer, links ist nichts mehr übrig. Ein sauberer Sidecut. Das Blauschwarz meiner Haare lässt meine Haut strahlen und ebenso meine blauen Augen. Leider auch meine Augenringe, die ich von heute Nacht davongetragen habe.

Der Kontrast ist riesig.

»Ich finde es wunderschön! Es steht dir«, sagt Fanny aufmunternd, weil ich keinen Ton von mir gebe. Sie weiß nicht, dass es nicht an ihr liegt. Dankbar sehe ich sie an und hoffe, sie versteht. Ich glaube fest daran, dass man manchmal Dinge einfach so verstehen kann. Ohne sie erklären zu können. Ohne zu wissen, mit welchem Teil von uns wir es verstehen. Wir wissen nur, dass es so ist. Und ich bete, dass Fanny das auch irgendwie tut. Dass sie begreift, dass das hier für mich mehr ist als ein Haarschnitt. Dass ich damit mehr verloren und gewonnen habe, als sie je ahnen kann.

»Komm, vorne kannst du dir noch ein Pflegeshampoo mitnehmen.« Fanny geht zum Tresen und ich folge ihr langsam. Dabei sucht mein Blick andauernd nach einem Spiegel, um mir zu bestätigen, dass es echt ist. Dass ich nun anders aussehe. Nicht mehr wie Izzy, aber auch nicht mehr wie Hannah. Und ich frage mich, ob diese Veränderung wirklich irgendetwas verändert hat.

Nachdem ich bezahlt habe, trete ich aus dem Laden. Ohne es verhindern zu können, fahre ich erneut über meinen freiliegenden Nacken, bewege meinen Kopf, der sich leicht, beinahe nackt anfühlt. Ich warte auf etwas. Vielleicht auf das Gefühl von Freude oder Aufregung oder auch auf den Anflug eines schlechten Gewissens. Aber da ist nichts. Nur die Worte in meinem Kopf. Unaufhörlich wiederholen sie: Es hat sich nichts geändert! Und ich nicke, weil sie recht haben.

Ich lasse das Pflegeshampoo in den Korb vor mir plumpsen. Meine Hände greifen den Lenker meines bunten Fahrrads und mein rechtes Bein schwingt über den Sitz auf die andere Seite. Tief einatmend setze ich mich mit einem Ruck in Bewegung. Das Treten funktioniert wie von selbst, ich kann es nicht stoppen. Und das, obwohl mein Atem immer schneller wird, sich mein Innerstes immer weiter zusammenzieht. Alles in mir schreit: Du fährst in die falsche Richtung! Ich möchte weg und nicht nach Hause.

Angst. Es ist Angst. Aber sie selbst ist nicht das Schlimme. Nein, Angst ist am schlimmsten, wenn man nicht weiß, wovor man sich fürchtet. Wenn sie einfach da ist und dich wie ein alter Freund umarmt – dabei fesselt sie dich, anstatt dich zu beschützen.

Schweißgebadet komme ich zu Hause an, umfasse das Lenkrad mit so einer Kraft, dass sich meine Finger verkrampfen. Ich schaffe es nicht, mich zu bewegen, mich vom Fahrrad zu lösen und hineinzugehen. Vor ein paar Stunden erschien mir die Idee eines neuen Ichs wie eine Offenbarung, wie ein Funken Rebellion. Der Funken von überhaupt irgendetwas.

Jetzt? Jetzt fühlt es sich falsch an. Als hätte ich allem Fremden, was mich umgibt, ein weiteres Stück hinzugefügt. Und nein, es wurde nichts Bekanntes daraus.

Ich rede mir gut zu, schließe für einen Moment fest die Augen, drücke sie zu, bis es schmerzt.

Du kannst das. Du musst nur einen Fuß vor den anderen setzen, Hannah. Langsam, einen Schritt nach dem anderen. Zuerst musst du das Fahrrad loslassen. Du weißt, du kannst gehen, du weißt, wie es funktioniert. Dann musst du die Tür erreichen, es sind nur wenige Meter, und sie öffnen. Du hast das schon mal gemacht, du schaffst das. Du gehst hinein …

Ich schnaufe kurz, öffne meine Augen, bevor sich meine Hand fester um das Lenkrad krampft. Es wird immer wärmer, die Sonne lässt alles leuchten, blendet mich, der Himmel ist klar und hellblau, keine Wolke ist zu sehen.

Selbst wenn ich noch reden könnte, wäre ich nicht in der Lage zu erklären, warum ich das gerade getan habe. Der kleine Funken steckt noch in mir, ich kann ihn spüren in den hintersten Winkeln, aber er reicht nicht aus. Weil weder ihm noch mir klar ist, warum er da ist und wogegen wir eigentlich rebellieren: Izzys Tod, meinen Vater, die Schuld, dieses Leben? Egal, was es ist, der Funken ist eben nur das, ein Funken. Und er ist zu schwach, um gegen all das zu kämpfen, wogegen ich kämpfen müsste. Er trägt mich nicht hinein, er bringt mich nicht zum Reden und meinen Vater nicht dazu, zu verstehen, wie weh er mir getan hat. Am wenigsten bringt er Izzy zurück.

»Endlich! Wo warst du, wir haben uns Sorgen gemacht! Wir …«

Während ich mich, vollkommen in Gedanken versunken, keinen Zentimeter von der Stelle gerührt habe, öffnet sich die große, mattweiße Haustür unter dem schön geschwungenen Eingang. Mein Vater stoppt abrupt, beendet seinen Satz nicht, bleibt wie angewurzelt stehen und starrt mich an. Sein Mund steht ungewohnt offen, seine Augen könnten kaum größer sein und alle Farbe weicht aus seinem Gesicht. Ich hatte erwartet, er würde schreien, toben und fluchen. Ich dachte nicht, dass er schweigen würde. Die Sekunden verrinnen, während wir uns einfach nur ansehen. In diesem Moment spüre ich, dass ich mehr verändert habe als meine Haare. Vielleicht etwas anderes, als ich verändern wollte.

»Ist sie da? Ist etwas passiert?« Meine Mum kommt hinzu, bleibt beinahe schlitternd neben Dad stehen. Ihre Augen suchen und finden mich, sie schlägt sich eine Hand vor den Mund und ich sehe, wie sich ihre Brust heftig und unregelmäßig unter ihrem mintfarbenen Top hebt und senkt. Für einen Moment sind wir alle stumm. Ich schlucke schwer, mir steigen Tränen in die Augen. Vor Trotz, vor Wut und verflucht, einfach, weil ich es nicht verhindern und ändern kann. Durch den Schleier erkenne ich, dass meine Mutter ihre Tränen längst nicht mehr zurückhalten kann und ebenso wenig den lauten Schluchzer, der ihr entfährt. Sie rührt sich als Erste, macht einfach kehrt und stürmt zurück ins Haus, während mein Vater wie ein Fels in der Brandung stehen bleibt. Unverwüstlich.

Wenn es nur so wäre …

Sein Mund schließt und öffnet sich. Dann dreht auch er sich um und geht, lässt mich stehen ohne ein Wort. Dass er mir den Rücken gekehrt hat, dass er mich so angesehen hat und nichts gesagt hat … es tut mehr weh, als ich für möglich gehalten habe.

Der Schweiß rinnt mir den Rücken hinunter, die Härchen am Nacken kleben an der Haut. Ich verharre eine Ewigkeit wie angewurzelt in der prallen Sonne und blicke zur Tür, aber sie bleibt leer. Irgendwann schaffe ich es, meine schmerzenden Finger vom Lenker zu lösen, einen nach dem anderen. Sie sind an der Handfläche rot und haben Abdrücke vom Griff. Ich ziehe eine Grimasse und hebe mein Bein über das Fahrrad, um es bis zur Hauswand zu schieben. Eigentlich will ich es dort anlehnen, vorsichtig, weil alles so neu ist, aber im letzten Moment knalle ich es einfach hin, weil mir das alles nichts bedeutet. Weil es guttut! Weil ich diese Stille nicht mehr ertrage und auch nicht das laute Klopfen meines Herzens, das mich begleitet wie eine Hintergrundmusik. Das Fahrrad knallt an die Wand, rutscht ab und während meine Fahrradklingel laut ertönt, kommt es mit einem lauten Krachen auf dem Boden an. Ich straffe meine verkrampften Schultern, spüre jeden Muskel in ihnen und gehe hinein.

Ich sollte hoch in mein Zimmer gehen, stattdessen tragen mich meine Füße in die Küche. Die Atmosphäre im Haus erdrückt mich, die ganze Luft scheint sich zusammenzuziehen.

Meine Schritte werden kleiner, zaghafter. Meine Arme umschlingen meinen Körper, während meine Lippen fest zusammengepresst sind. Einen Wimpernschlag später stehe ich im Türrahmen der Küche, in der ich meine Eltern sehe, und spüre Übelkeit in mir aufsteigen. Meine Mutter sitzt auf einem der cremefarbenen Küchenstühle an dem kleinen, runden Holztisch. Ihr Körper bebt, er zittert überall. Ihre Ellenbogen stützt sie auf die Tischplatte, sie sind schon ganz rot, ihr Gesicht wird teilweise von ihren Händen verdeckt, ihr Mund ist verzerrt und ich kann erkennen, wie Tränen im Wettlauf ihre Haut hinunterrasen, am Kinn abspringen und auf dem Tisch landen. Ihre Haare lösen sich aus dem Zopf, der Träger ihres Tops sitzt komplett schief. An diesem Bild ist so vieles falsch, dass ich gar nicht weiß, wo ich beginnen soll. Dad versucht sie zu halten, umklammert sie, streicht über ihren Rücken und ihren Kopf. Er ist kreidebleich, aber seine Gesichtszüge verraten nichts von seinen Gefühlen.

Ein lauter Schluchzer nach dem anderen erfüllt den Raum, hallt von den Wänden wider und vervielfacht sich ins Unendliche. Die Sonnenstrahlen scheinen direkt in die Küche und ich weiß nicht, ob sie uns verspotten wollen.

Ich will einen Schritt nach vorne machen, ich will meine Mum in den Arm nehmen und ihr sagen, dass es mir leidtut. Aber ich halte inne. Ich bewege mich nicht, weil der Blick meines Vaters mich trifft. Dieser Blick, der auch meiner ist. Der auch mal Izzys war.

Er erhebt sich ruckartig, sein Stuhl kippt nach hinten, knallt auf die Fliesen und ohne Dads Halt verliert Mum auch ihren. Sie schwankt. Mit drei großen schnellen Schritten ist er bei mir, schreit mir ins Gesicht und dann hebt er die Hand. Ich zucke zusammen, weiche zurück. Ich habe Angst. Mein Atem überschlägt sich.

Sein Blick ist so voller Schmerz. Er kämpft mit sich. Ich halte ihm stand und für den Moment wünsche ich mir, er würde zuschlagen.

Aber er tut es nicht. Stattdessen geht er zurück, stößt gegen den Tisch, begegnet dem traurigen, verwaschenen Blick meiner Mutter und fährt sich unentwegt durch die Haare, reibt sich über das Gesicht. Ich höre ihn weinen. Das erste Mal in meinem Leben höre ich ihn weinen. Nicht einmal auf Izzys Beerdigung hat er sich das erlaubt oder als man ihm sagte, dass Izzy es nicht geschafft hat. Es ist, als würde etwas endgültig in ihm brechen, und ich weiß, dass ich schuld daran bin.

Er sinkt in die Arme meiner Mutter.

Wir alle haben etwas verloren, wahrscheinlich viel mehr als wir benennen können. Das, was uns unterscheidet, ist, dass ich zudem meinen Halt verloren habe – das, was sie noch haben. Ich bin das dritte Rad, das zu viel ist an einem Fahrrad und zu wenig hergibt für ein Auto. Ich bin das Eis in der Antarktis, der Sand in der Wüste, ich bin die Sonne in der Karibik, der Baum im Wald und das Klee im Gras – ich bin etwas, das schon da ist.

Sie brauchen mich nicht.

Die Stille meiner Worte

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