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1. Liebende Güte (mettā)

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Der erste unserer vier inneren Freunde ist jene Art Liebe, die sich nicht auf einen Einzelnen richtet, sondern eine umfassende, universelle Liebe ist. Sie heißt auf Pāli mettā; das ist schwer ins Deutsche zu übersetzen. »Liebende Güte« ist eine Formulierung ohne Stärke, ohne Kraft. Wir haben im Deutschen keine genaue Entsprechung zu dem Pāli-Wort. Unser Wort »Liebe« hat wenigstens Kraft, und jeder hat eine Vorstellung von seiner Bedeutung, aber leider im Allgemeinen eine falsche. Es kommt nun darauf an, sie in das umzuwandeln, was der Buddha unter mettā verstanden hat.

Bei »Liebe« denken die meisten an zwei oder doch nur ganz wenige Menschen: Mann und Frau, Eltern/Kind(er), einander eng Nahestehende; in zweiter Linie vielleicht noch an die Liebe zu Gott oder zu einem Ideal oder an Vaterlands-, Heimatliebe. Diese Art Liebe ist freilich nicht das, was der Buddha mit mettā gemeint hat. Denn unsere Art zu lieben ist verbunden mit Angst. Angst, Furcht hat man aber nur vor dem, was man hasst, nicht vor dem, was man liebt. Und was hasst man dabei? Die Möglichkeit des Verlustes. Unterschwellig weiß jeder, dass nichts bestehen bleibt; leider nur unterschwellig. Da uns am Beginn unserer Meditationspraxis die aufsteigende Einsicht in den ständigen Wandel erst einmal Angst einflößt, versuchen wir, vor ihr davonzulaufen, statt uns in sie zu vertiefen. Menschen sind schon seltsame Wesen! Statt uns selber auf den Grund zu gehen, benutzen wir unsere Geistesgaben, von denen wir ja reichlich viele haben, entweder zum Erfinden von Dingen, die uns das Leben angenehmer machen sollen, was sie letztendlich nie tun, oder dazu, uns in philosophische Gedanken zu verwickeln, von denen aber auch kein Ausweg zu erwarten ist. Wir füllen uns sozusagen mit etwas an, das nie erfüllt. Und da Liebe, die mit Angst verbunden ist, keine reine Liebe sein kann, haben wir die entsprechenden Resultate in uns und um uns herum. Diese Art Liebe ist auch mit der Erwartung verknüpft, der andere habe liebenswert zu sein, und zwar rund um die Uhr. Was absurd ist! Das kann nur der Erleuchtete fertigbringen, und von denen gibt es nicht sehr viele. Wir haben also Erwartungen, die unerfüllbar sind, und leben demgemäß in ständiger Enttäuschung. Wenn wir lieben, wollen wir wiedergeliebt werden. Selbst dort, wo es nicht um die übliche Zweierbeziehung geht, sondern um Liebe zu Idealen, haben wir immer Ziele und wollen wir etwas zurückbekommen.

Nichts von alledem ist mettā. Mettā ist eine Qualität des Herzens, wie Intelligenz eine Qualität des Geistes ist. Mit »Herz« meine ich natürlich das spirituelle, nicht das anatomische Herz. Sein Sitz ist in der Mitte des Brustkorbs, man kann es deutlich spüren. Wenn die liebende Güte stark wird, fühlt man dort Druck und Wärme, und man kann auch fühlen, wenn es sich öffnet. Wir haben die Samen in uns. Wenn wir sorgsam mit ihnen umgehen, den richtigen Weg einschlagen und, um beim Bild vom Gärtnern zu bleiben, das Unkraut beizeiten zupfen, kann auch Liebe, die herrlichste aller Blumen, voll zur Blüte kommen. Das ist freilich nicht so einfach, wie es sich anhört, und wird leider zu wenig praktiziert. Daran krankt die Menschheit, weil jeder Einzelne daran krankt. Es sind ja nicht »die da draußen« und »wir hier drinnen«. Wir sind die Menschheit, sind ein Muster davon – hoffentlich keines ohne Wert! In diesem Sinne an uns zu arbeiten, ist das ertragreichste, was wir überhaupt tun können.

Wie weite Kreise ein positiver Einfluss ziehen kann, hängt nur von der Reinheit ab, die jeder in sich selber geschaffen hat. Es wäre schon viel gewonnen, wenn er die eigene Familie erreichte, die Kollegen, Nachbarn, Freunde und Bekannten. Und die Reinheit wiederum ist abhängig von einer Liebe, die nicht nur uneigennützig ist, sondern auch vollkommen bedingungslos. Dagegen wird dann oft, zu Recht, eingewendet, man müsse demnach auch Schufte und Verbrecher lieben. Die Antwort darauf ist ganz einfach: »Ja«. Das bedeutet nicht, ihre Taten gutzuheißen oder unsere Urteilskraft einzubüßen und nicht mehr zu wissen, was gut und böse ist. Das wäre schrecklich! Es fällt sowieso vielen Menschen schwer, Gut und Böse auseinanderzuhalten. Aber da auch Schufte und Verbrecher Lebewesen sind, die leiden, so wie wir alle leiden, gibt es gar keine andere Wahl als Liebe und Mitgefühl.

Die Qualität des Herzens, das lieben kann, ist eine Qualität, die einem Sicherheit gibt. Man fühlt, dass man sich auf sich selber verlassen kann, weil man genau weiß, wie man reagieren wird: nicht mit Wut, Ärger, Angst, Ablehnung, Aufregung, Widerstand, sondern mit Liebe – was auch geschehen mag. Dann hat man im eigenen Herzen die einzige Sicherheit gefunden, die es gibt. Alles Materielle ist ja durch und durch unsicher und einem ständigen Wandel unterworfen. Aber liebende Güte können wir so in uns stabilisieren, dass sie unwandelbar wird: Unser Verhalten ist dann ganz unabhängig davon, wer vor uns steht – ob er uns tadelt, droht, Böses antut –, weil wir eingesehen haben, dass jede andere Reaktion als die aus liebender Güte uns selber unglücklich macht. Wir wären ja Narren, wollten wir uns vorsätzlich unglücklich machen. »Wären«? Leider hat der Buddha erkannt: Wir alle sind Narren. Aber wir können uns ändern! Und das ist ja wohl auch der Grund, warum Sie zu einem Meditationskurs wie diesem gekommen sind.

Der Feind von Liebe ist Hass. Das sieht jeder ein und bedarf keiner Erklärung. Aber der nahe Feind von Liebe ist Zuneigung, und das ist schwer zu erkennen. »Nah« heißt er, weil er der Liebe zum Verwechseln ähnlich ist. Zuneigung ist aber mit Anhaften verwoben. Wir halten uns an dem, dem wir zugeneigt sind, fest, und dadurch halten wir auch das Objekt unserer Zuneigung fest. Aber jegliches Anhaften ist eine große Bürde!

Der Buddha sprach von elf Vorteilen, die der genießt, der mettā im Herzen hat:

Er geht glücklich schlafen, hat keine Alpträume, wacht glücklich wieder auf. Wer nämlich den ganzen Tag über niemals ein Gefühl von Hass, Ärger, Unsicherheit, Angst, Neid in sich gehabt hat, der kann nur glücklich einschlafen, denn sein Geist ist ruhig und glücklich. Woher sollten da Alpträume kommen? Was den Tag zuvor geprägt hat, ist auch der erste Gedanke beim Aufwachen.

Ferner wird einer, dem Liebe das Herz füllt, von Lebewesen aller Art geliebt.

Viele suchen seine Nähe – seien es Menschen oder Tiere oder andere Wesen.

Er wird von den Devas1 beschützt, hat sozusagen einen Schutzengel.

Da er nichts Schlechtes denkt, spricht, tut, wahrnimmt und fühlt, widerfährt ihm in der Regel auch nichts Böses. Unsere Gedanken geben uns die Richtung, und sie sind von unseren Gefühlen bestimmt. Wenn die Gefühle rein, warm und liebevoll sind, sind es die Gedanken auch.

Sein Geist ist schnell konzentriert, er kann also gut meditieren. Die Läuterung der Gefühle bringt die Klarheit des Geistes.

Wer mettā im Herzen hat, habe eine »gute Gesichtshaut« – eine merkwürdige Übersetzung, es ist wohl eher der Gesichtsausdruck gemeint; wer liebevolle Gefühle hegt, sieht natürlich viel schöner aus als einer, der voller Hass ist. Wir brauchen in unserer Wut nur in den Spiegel zu schauen. Unsere Gefühle stehen uns buchstäblich im Gesicht geschrieben.

Er stirbt einen unverwirrten Tod.

Das heißt, ein Mensch, der im Leben liebende Güte praktiziert hat, wehrt sich nicht voller Angst gegen das Sterben. Wer viel mit Sterbenden zu tun hat, weiß, dass für die meisten Menschen Sterben eine schwere Zeit ist. Wir sprechen ja auch vom »Todeskampf«, vom »Ringen« mit dem Tod. Nur wenige können ruhig sterben. Liebende Güte ist dabei der springende Punkt. Die kann man sich aber nicht noch rasch zulegen, wenn die letzte Stunde bereits geschlagen hat; wann das sein wird, weiß keiner – Grund genug, sich ab sofort in liebender Güte zu üben!

Wer es darin zur Vollendung gebracht hat, kann eine Wiedergeburt in den höchsten Brahma-Bereichen erwarten. Aber das ist Zukunftsmusik. Ich messe dem keine Bedeutung bei, denn die Hauptsache ist, was sich in diesem gegenwärtigen Leben abspielt. Natürlich hat alles Einfluss auf die Zukunft, aber da sich unsere Gedanken und Gefühle ja jede Sekunde ändern, ist nicht die Zukunft in Betracht zu ziehen, sondern der Moment des Praktizierens. Und der ist jetzt.

Liebende Güte wird auf zwei Wegen geübt: durch Meditation und durch unser Verhalten.

Ich habe in Australien einmal mit einer Frau gesprochen, die Kurse in Kommunikation gibt. Ist es nicht absurd, dass wir erst lernen müssen zu kommunizieren? Sie sagte mir, dass Worte nur 7% der Kommunikation ausmachen. Die restlichen 93% liegen in Tonfall, Lautstärke, Mimik, Gestik, Körpersprache. Wer Liebe empfindet, braucht also keine Worte, um sie mitzuteilen. Er muss nicht die Runde machen und jedem versichern: »Ich liebe dich« – das wäre lächerlich und unglaubwürdig. Glaubwürdig ist allein das liebevolle Verhalten, und das überträgt sich von Herz zu Herz. Einsamkeit, die große Not unserer Zeit, ist Ausdruck mangelnder Liebe unter den Menschen. Wer keine Liebe empfinden kann, sollte sich immer wieder selber einen Ruck geben; wohin man die Gedanken richtet, dorthin kommt mit der Zeit auch das Gefühl. Der Verstand, das bewusste Drandenken kommt einem dabei zu Hilfe. Wir sollen ja den Verstand weder ablegen noch gering schätzen, er ist notwendig, und er kann uns auch auf die richtige Bahn lenken. Das ist der Grund, weshalb der Buddha Lehrrede um Lehrrede gehalten hat. Die Wahrheit, die hinter den Worten steht, lässt sich fühlen. Genauso ist es, wenn wir aus puren Vernunftgründen handeln: Im rechten Tun liegt Wahrheit, und die können wir fühlen. So bekommen wir mit der Zeit auch ein Gefühl für liebende Güte.

Das Gleiche gilt für die Mettā-Meditation auf der Grundlage der Liebende-Güte-Betrachtungen:

Möge ich frei sein von Feindseligkeit,

möge ich keinem Wesen Leid zufügen,

möge ich frei sein von Schmerzen in Geist und Körper,

möge ich fähig sein, mein eigenes Glück zu behüten.

Mögen alle Wesen frei sein von Feindseligkeit,

mögen alle Wesen einander kein Leid zufügen,

mögen alle Wesen frei sein von Schmerzen in Geist und Körper,

mögen alle Wesen fähig sein, ihr eigenes Glück zu behüten.

Manche sagen, ganz zu Recht, sie fühlten nichts: »Ich denke es nur«. Wenn man trotzdem weiterübt und immer wieder den Wahrheitsgehalt erkennt, kommt auch das Gefühl auf. Wenn man dagegen nur oberflächlich dahinplappert und gar nicht sieht, dass es wahr ist, wünschenswert und der Weg zum Glück, kommt es natürlich nicht.

Wenn wir bedingungslos lieben, verkleinert sich unser Ich – und um nichts anderes dreht sich die Lehre des Buddha –, bis es eines Tages so klein geworden ist, dass wir es als Gespinst, als Illusion, als gar nicht existent erkennen. Und wenn das »Ich« etwas kleiner wird, verschiebt sich auch der Punkt, wo es steht: nicht mehr genau im Mittelpunkt; es rutscht ein bisschen zur Seite, und andere Menschen rücken ins Zentrum.

Zur Zeit des Buddha gab es einen Mönch, der bei seiner täglichen Almosenrunde immer diese liebende Güte übte. Er stand ganz ruhig vor einem Haus, wie es üblich ist, ohne etwas zu sagen, schaute die Leute nicht einmal an, was gleichfalls der Tradition entspricht, und wartete, ob etwas in seine Almosenschale gegeben werde. Wenn das geschah, strahlte er von seinem Herzen Dankbarkeit und Liebe zu dem Geber aus, von dem er gar nicht wusste, wie er aussah, ob Mann oder Frau, jung oder alt; es ging nur um das Lebewesen, das etwas Gutes getan hatte. Auf diese Weise wurde er erleuchtet. Die Läuterung des Herzens ist der Weg zur Erleuchtung, ohne sie geht es nicht. Der Verstand ist zwar hilfreich und notwendig, aber das Herz fühlt. Und Erleuchtung, vor allem der Moment der Erleuchtung, wird erst gefühlt und dann verstanden. Es ist erkanntes Erleben.

Der Buddha hat drei Arten zu lieben unterschieden. Der erste Schritt ist, für die Menschen um einen herum Wohlwollen und Freundschaft zu empfinden. Anders ist ein Miteinander gar nicht denkbar. Der zweite, ein Gefühl von Hilfsbereitschaft in sich aufkommen zu lassen und seine Mitmenschen als Teil seiner selbst zu betrachten. Die höchste Form aber ist, alle Menschen zu lieben, als wären sie die eigenen Kinder. Man weiß zwar, dass Menschen Dummheiten und Schlechtigkeiten begehen, aber keine Mutter, die den Namen verdient, hört auf, ihr Kind zu lieben, bloß weil es sich schlecht benimmt. Dann würde niemand mehr geliebt, denn jeder benimmt sich hier und da schlecht. Wir alle sind ja nichts anderes als ausgewachsene Kinder. Erwachsen werden heißt innerlich wachsen. Wir können unser Herz als Garten ansehen: Unkraut gedeiht allemal besser als Blumen. Wenn man im Herzensgarten nicht täglich jätet, überwuchert allmählich das Unkraut die Blumen und erstickt sie schließlich; allenfalls ihre Wurzeln und ein paar verstreute Samen bleiben übrig. Jeder muss sein eigener Gärtner sein. Es gibt nichts Besseres zu tun! Dazu braucht man weder Beruf noch Familie aufzugeben, im Gegenteil, jede Konfrontation mit anderen Menschen ist eine Chance. Am dankbarsten müssen wir demjenigen sein, der ganz besonders scheußlich zu uns ist: Er gibt uns nicht nur eine erstklassige Gelegenheit, uns in mettā zu üben, sondern lässt uns auch gewahr werden, wie weit wir noch vom Ideal, jedem als Mutter zu begegnen, entfernt sind. Am Ideal, an der Richtlinie, scheint es den meisten Menschen auf der Welt zu fehlen; sie wissen gar nicht genau, was das Gute ist. Unser Geist kann mit einem Zauberkünstler verglichen werden. Vermutlich haben Sie es in der Meditation schon selber gemerkt: Er kann hervorzaubern, was er will. Wir können Gut und Böse ununterbrochen durcheinander bringen, wie ein Zauberkünstler, der, statt sich den Hut auf den Kopf zu setzen, Kaninchen aus ihm hervorzieht. Daher sind die Richtlinien, die uns der Buddha gegeben hat, so wertvoll; sie zeigen uns, wohin wir zu gehen haben, und geben uns praktische Hilfsmittel an die Hand, dort auch hinzugelangen.

Buddha ohne Geheimnis

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