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IRENE

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Solange sich Irene zurückerinnern kann, hatte sie immer Angst vor Menschen. In der Sandkiste spielte sie lieber allein, den Kindergarten mochte sie nicht, Firmunterricht und Tanzschule blieb sie, so gut es ging, fern, weil der Kontakt zu Fremden angstbesetzt und unangenehm war. Generell war sie anderen Menschen gegenüber immer eher misstrauisch und vermied möglichst den Kontakt. Ihr Leben lang versuchte sie stets, alles selbst zu erledigen, bevor sie sich Hilfe von jemand anders holte, sei das im Studium, bei handwerklichen Dingen oder im Haushalt. In der Schule war sie eine Außenseiterin, sie hatte kaum Freundschaften, und wenn doch, dann eher zu den anderen Außenseiter*innen der Klasse, von ihrer besten Freundin wurde sie gemobbt. So war sie stets lieber allein als mit Menschen zusammen, die sie nicht kannte.

Irene wurde 1960 in Wien geboren und wuchs bei ihren Eltern gemeinsam mit ihrer älteren Schwester auf, ihre zweite Heimat war die Steiermark, wo ihre Eltern ein Haus besaßen. Ihr Vater verstarb relativ früh binnen weniger Monate an einer Krebserkrankung, ihre Schwester zog von zu Hause aus, als sie 21 Jahre alt war, und entwickelte ein Alkoholproblem. Im Alter von 45 Jahren war Irenes Schwester in einem so schlechten Zustand, dass sie Halluzinationen und Wahnvorstellungen hatte, sie war aggressiv und man konnte sie nicht allein lassen, sie war Alkoholikerin. Als Irene dies mitbekam, war es für sie überhaupt nicht vorstellbar, dass sie sich selbst einmal auf dem gleichen Weg befinden würde. Bis heute versteht sie nicht, wie es so weit kommen konnte.

So lebten Irenes unter Herzproblemen leidende Mutter und sie gemeinsam in einer Eigentumswohnung in Wien. Irene sah es als ihre Aufgabe, sich um die Mutter zu kümmern, mit ein Grund dafür, wieso sie nie aus der elterlichen Wohnung auszog. Es gab auch nie wirklich eine Notwendigkeit, anfänglich war es auch bequem für sie. Nach der Matura begann sie zu studieren und „lebte wie ein junger Hund“, wie sie es bezeichnet. Sie besuchte die Lehrveranstaltungen, die sie interessierten, und lebte von der Waisenrente. Abgeschlossen hat sie die Studien nie, auch weil ihre Angst vor Menschen ihr dies schwer gemacht hatte.

Alkohol war in ihrer Familie etwas eher Außergewöhnliches, etwas, das es zur Belohnung gab oder wenn Gäste kamen. Ein normaler Umgang, wie er vermutlich in zigtausenden Familien vorkommt. Das erste Mal Alkohol trinken durfte sie mit 15 Jahren, ein Privileg und ein Zeichen dafür, dass sie nun erwachsen wurde. In ihrer Studentenzeit begann sie vermehrt Alkohol zu trinken, anfangs tranken sie und ihre Mutter beim Kochen am Wochenende Kir Royal, zuerst ein Stifterl Sekt gemeinsam, später eine halbe Flasche allein. „Wohlfühltrinken“, wie sie sagt, es schmeckte ihr und machte ein angenehmes Gefühl, doch die Mengen steigerten sich langsam immer weiter.

Mit 27 Jahren, als die Waisenrente aus war und ihre Studien noch immer nicht fertig, brach sie diese ab und begann im Kundendienst einer Gas- und Heizungsfirma zu arbeiten. Ihre direkte Kollegin war ungut zu ihr, die Bezahlung war auch nicht überragend, aber sie blieb für dreißig Jahre in der Firma. Schließlich kannte sie dort schon alle, sie wusste, wie die Kolleg*innen und Vorgesetzten sind. Dieses Wissen gab ihr Sicherheit, ein Wechsel hätte bedeutet, sich wieder mit neuen Menschen arrangieren und sich einarbeiten zu müssen.

Irgendwann bemerkte sie, dass es ihr leichter fällt, unter Leuten zu sein, wenn sie getrunken hatte. Firmentreffen waren beschwipst leichter zu ertragen, es fiel ihr leichter, ihre Meinung zu sagen und sich zu behaupten, wenn sie getrunken hatte. Sie begann in der Früh zu trinken, was in der Firma lange nicht auffiel, und wenn, wurde eher hinter ihrem Rücken geredet, als sie direkt darauf anzusprechen. Das sei nur einmal passiert, aber sie hatte eine gute Ausrede parat. Der Alkohol half ihr außerdem, zu Hause mit der Situation umzugehen. Ihre Mutter war vor ihrem Tod pflegebedürftig und Irene die Einzige, die sich um sie kümmerte. Das Trinken war Entlastung und eine gute Möglichkeit, die Probleme – im wahrsten Sinne des Wortes – hinunterzuschlucken. Irgendwann später trank sie, um die Probleme mit dem Trinken nicht wahrhaben zu müssen. Trinken, um zu vergessen, dass sie trinkt.

Obwohl sie nur zwei Mal im Leben deutlich merkbar betrunken war, trank sie täglich große Mengen, sie war über lange Jahre Spiegeltrinkerin. Ein Blackout hatte sie nie, die Angst, die Kontrolle zu verlieren, etwas, das sie nicht leiden konnte, war zu groß. Sie trank vor der Arbeit Sekt statt Kaffee, spätestens nach dem Mittagessen verspürte sie die ersten Entzugserscheinungen, nach dem Büro trank sie weiter. Sie war immer um Kontrolle bemüht, damit sie keine Abstürze erlebte, und schaute auch, dass sie immer genug zu trinken zu Hause hatte. Bei mehreren Flaschen Sekt am Tag war das gar kein so leichtes Unterfangen, zumeist klapperte sie mehrere Supermärkte in der Umgebung ab und kaufte jeweils maximal sechs Flaschen, damit es nicht so auffiel. Wenn Wochenenden oder Feiertage waren, musste sie mehrere Supermärkte aufsuchen, um auf die benötigte Menge zu kommen.

Im Jahr 2014 verstarb ihre Mutter, 2017 ging die Firma in Konkurs, sie war arbeitslos und allein. Von diesem Zeitpunkt an war das Trinken der Hauptinhalt ihres Lebens, bis zu vier bis sechs Flaschen Sekt am Tag waren die übliche Menge, es konnten aber auch acht oder neun werden. Etwa dreißig Euro am Tag oder 900 Euro im Monat kostete sie ihr Konsum, wo das Geld für die Abfertigung aus ihrer Anstellung ist, weiß sie nicht, wahrscheinlich „versoffen“.

Langsam merkte sie, dass es so nicht weitergehen konnte, ein Arzt attestierte ihr miserable Leberwerte, ihr Leben drehte sich nur noch um den Alkohol. Gleichzeitig konnte sie sich nicht vorstellen, in eine Therapieeinrichtung zu gehen und nie wieder zu trinken, ein Ringen mit sich selbst und der Erkrankung. Als sie einmal zu Hause in ihr Alkoholtestgerät blies und nach sechs Stunden Schlaf noch immer über zwei Promille hatte, machte ihr dies Angst. Sie informierte sich im Internet und wusste, dass ein Entzug allein zu Hause zu gefährlich sei. Sie wandte sich schließlich an ihren Hausarzt, der sie an eine Stelle verwies, wo sie Hilfe bekommen würde.

Bei Therapieantritt hatte sie in der Früh 1,7 Promille, mittlerweile ist sie seit Dezember 2017 trocken. Sie lernte, über Probleme zu sprechen und sie nicht mit Alkohol hinunterzuspülen, sie lernte, sich zu wehren und sich zu behaupten, etwas, das sie früher nie geschafft hatte. Auf sich selbst zu schauen und die eigenen Bedürfnisse zu berücksichtigen ist eine neue Erfahrung. Alkohol trinken ist dennoch nach wie vor positiv besetzt, hin und wieder träumt sie davon, ein Achterl bei einem Heurigen auf der steirischen Weinstraße zu trinken. Aus Angst, wieder abhängig zu werden, traut sie sich das jedoch nicht, denn wenn sich das Leben nur noch ums Trinken dreht, ist nichts anderes mehr erstrebenswert. Der erkämpfte Ausstieg ist zu viel wert, um ihn aufs Spiel zu setzen.


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