Читать книгу Insomnia : Savannas Geheimnis - Barbara Voors - Страница 11
7. Kapitel
ОглавлениеIch warte auf meinen Zeitungsboten. Ich muß ihn etwas fragen, wegen der Zustellzeiten. Ob sie möglicherweise in Schichten arbeiten, ob es daran liegt, daß ich nachts so merkwürdige Schritte auf der Treppe höre, meist gegen Mitternacht. Wie sie zuerst vor meiner Tür innehalten, um sich dann nach unten zu entfernen, während ich mit weit offenen Augen und ohne Zeitung zurückbleibe. Manchmal höre ich auch, wie gleich, nachdem ich heimgekommen bin, die Haustür geöffnet wird und wieder zuschlägt. Aber wenn ich auf die Treppe hinausgehe, um zu sehen, wer es war, ist niemand dort.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ob ich vielleicht Listen anlegen, neue Mappen einrichten sollte? Wie kann ich sie in dem Fall nennen: »Schritte ohne sichtbaren Körper sowie Liebesbriefe über das moderne Tele-Netz«? Vielleicht kann ich sie neben Paulinas dünnen Ordner stellen. Darin ist ein Zeitungsausschnitt enthalten, eine Quittung der Pension in Roslagen mit einem jetzt bald vierundzwanzig Jahre zurückliegenden Datum sowie die Wiedergabe meines Gesprächs mit David Fawlkner. Oder soll ich meine neue Mappe neben die drei dicken Ordner stellen, die vollgepfropft sind mit Kopien von Elizabeth Browns gesammelter journalistischer Produktion, mit Rezensionen zu ihren beiden Romanen, haßerfüllten Artikeln über ihre Person (besonders nach der Kritik am Königshaus), ihren eigenen wohlformulierten Antworten, den vielen Interviews mit ihr (dem Artikel über das beinahe fertige Insomnia) sowie allen Nachrichtenbeiträgen voller Spekulationen über ihr Ableben.
Elizabeths Tod wurde schließlich als Selbstmord abgetan. Ich glaube es besser zu wissen. Genau dafür gedenke ich meine Privatforschung zu nutzen. Sofort erzeugt das wieder ein schlechtes Gewissen. Ein Jahr habe ich von Ljunggren bekommen, und schon jetzt bin ich erneut treulos, unzuverlässig und unsichtbar. Trotz seiner Erfrischungstücher und seiner noblen Würdigung all dessen, was ich nicht tue. Mir scheint, ich habe die Fähigkeit, älteren Männern sanfte Zärtlichkeit für mich zu entlocken. Ich weiß nicht, ob ich es beunruhigend oder amüsant finden soll, eher frage ich mich, was ich getan habe, um das zu verdienen. Aber ich bin dankbar für diese Zärtlichkeit, mein Defizit daran ist groß.
Ja, vielleicht sollte ich einen neuen Ordner für das Unbegreifliche anlegen. Ihn mein eigenes Insomnia nennen, die bedrohlichen Briefe darin abheften und ignorieren, während das Licht der Morgendämmerung meine Augen blendet und unerbittlich sagt: »Du hast es auch heute nacht nicht geschafft, ich war schneller als der Schlaf.«
Als die Zeitung kommt, nehme ich sie auf der Innenseite der Tür entgegen, und an der Art des Boten, sie festzuhalten, um mich zu necken, erkenne ich, daß mein regulärer Zeitungsmann zurück ist. Ich schließe die Tür auf und erhalte das Blatt direkt aus seiner Hand.
»Willkommen zu Hause, Jonas.«
Seine Augen glänzen.
»Danke.«
»Möchtest du ein Milchbrötchen? Ich habe eben ein paar aufgebacken.«
»Ganz schnell, aber sehr gern.«
Wir setzen uns in die Küche, und er zündet die Kerzen an, wie er es immer tut. Wir erholen uns in der Stille, während das Teewasser kocht, in dieser Nicht-Zeit, die vergeht, während wir darauf warten, daß der nächste Augenblick beginnt.
»Du bist also noch immer wach?«
»Das liegt am Licht. Die Dämmmerung kommt immer zeitiger«, versuche ich mich herauszureden. »Und bei dem Sommerlicht braucht man ja nur wenig Schlaf.«
»Sicher.«
Dieselbe Eigenschaft, die mein Bruder besitzt. Ich wußte nicht, wie sehr mir das gefehlt hatte. Wieder Ruhe. Ich kann eine weitere Nacht durchstehen. Mit Sam nebenan und meinem Zeitungsmann, in Shorts und mit einem Milchbrötchen in der Hand vor mir – sicher stehe ich noch eine Nacht durch.
»Jonas? Wer hat den Code für unser Haus?«
»Ich weiß nicht genau. Wir, die Post, verschiedene Lieferanten, die Polizei und die Feuerwehr ... Außerdem gibt es ja Standardcodes, die man benutzen kann. Warum fragst du?«
Ich umgehe die Antwort. Es verlangt äußerste Konzentration, den Tee für die Kanne abzumessen, blinzelnd lege ich den Kopf schräg. Um Tee aufzugießen, ist jede Menge Präsenz erforderlich.
»Savanna!«
»Ihr Zeitungsboten arbeitet nicht vielleicht in zwei Schichten? Zuerst einer gegen zwölf und dann du etwa um drei?«
»Mit zwei verschiedenen Zeitungen, meinst du? In der ersten Schicht wird das Feuilleton und die Sportbeilage verteilt, und dann komme ich ein paar Stunden später mit dem Hauptteil.«
»Okay.«
»Das ist auch eine Idee, ich meine ...«
»Ich habe verstanden.«
Es wird still. Wir trinken unseren Tee, überfliegen zusammen die Schlagzeilen, kommentieren den Nachrichtenfluß aus jener Welt, die draußen vor meiner gelben Festung rotiert und wo es viele sichtbare Menschen gibt, die ihren Platz einnehmen. Menschen, die im Licht stehen wollen, auch wenn der Preis so hoch ist, daß ihr Leben mit Beschlag belegt wird. Wir leben in einer Zeit hellsten Scheinwerferlichts, es herrscht ein Gedränge auf der Bühne, das manchmal selbst die Robustesten verwundert.
Ich erzähle Jonas von den fruchtlosen Gedanken, die meinen Kopf nachts bestürmen und die so wenig dazu dienen, daß meine Tage besser werden. Er hört nicht zu, sein Blick ist über meinen Kopf gerichtet, und plötzlich ist er wieder auf den Beinen, weit schneller als sonst.
»Willst du schon gehen?«
»Muß nach Hause, verstehst du?«
Da bemerke ich es. So viele Male hatte ich es bei Sams Frauen gesehen, und dennoch brauchte ich so viel Zeit.
»Du bist verliebt.«
Er windet sich, lacht unmotiviert, fährt grundlos mit der Hand durchs Haar. Ja, was soll man sagen?
»Ich sehne mich nach ihr.«
»Ich verstehe«, sage ich, die von gerade dieser Art Sehnsucht nicht das geringste weiß.
»Du auch, Savanna. Du auch.«
»Wie bitte?«
Er streckt seine Hand nach meiner Schulter aus, läßt sie dort liegen. Nicht noch mehr, denke ich, nicht, wenn ich so bin wie jetzt. Nicht, wenn die Schlaflosigkeit durch alle Poren gedrungen ist und die Haut hat implodieren lassen, wie nach einem allzu heißen Bad.
»Du solltest es versuchen. Keine weiteren Nächte mehr wie diese. Laß jemanden deine Schultern berühren, deinen Hals, deinen Nacken. Einen Kuß dahin«, sagt er und weist vorsichtig auf irgendeinen Punkt unter dem rechten Ohr.
Ich schaue weg.
»Die merkwürdigsten Dinge geschehen«, flüstert er. »Wenn viel Zeit vergangen ist, seit man berührt worden ist, ich meine, extrem viel Zeit?«
Ich nicke.
»Wenn es dann geschieht ...«
Er braucht nicht weiterzureden. Das Reiben unter dem rechten Ohr erklärt die Sache besser als alle Worte zwischen einer Schlaflosen und einem Zeitungsboten. Dennoch versucht er es.
»Die noch nicht geweinten Tränen sind irgendwo im Körper gelagert. Sie werden von der Berührung freigesetzt. Ich will, daß du es weißt, manchmal ist es schwer, aufzuhören. Es ist, als ob sich der Körper an alles erinnert: im Kiefer der Schmerz eines alten Schlages, die Backenknochen noch verkrampft vor Schmach, in den Schultern verhaltene Wut, im Haaransatz noch nicht freigesetzte Begierde, wenn du ...«
Er verstummt. Ich halte die Hand hinter die Kerzen und blase sie aus.
»Alles kommt heraus«, sagt er.
»Ich brauche so was nicht.«
»Savanna?«
»Wie ich gesagt habe.«
Ich begleite ihn zur Tür. Er zieht seine Windjacke an, schon sehnen sich seine Finger danach, sie vor einer anderen auszuziehen.
»Willst du, daß ich in einer Nacht früher komme, gegen zwölf, nur um nachzusehen? Das ist kein Problem.«
Ich bin nahe daran, ja zu sagen. So viele Nächte, so viele Mitteilungen, und darin eine Verachtung, die der Absender immer schwerer verbergen kann.
»Ich komme schon klar.«
Das weiß er wohl. Doch war es nicht das, was er gesagt haben, und auch nicht das, was er hören wollte. Ich schließe die Tür lautlos hinter ihm, drücke die Stirn an die kühle Fläche. Hier kann man sich ein Weilchen ausruhen – kann man doch?
Am Morgen stehe ich auf. Selbstverständlich. Die Nacht ist vorüber, nicht mal die Stunden zählen will ich. Schluß mit dem Märtyrertum. Über dem Frühstückstisch nicke ich Sam zu: »Keine Fragen, bitte.«
Mein Fahrrad steht am falschen Ende des Fahrradkellers, jemand hat es umgestellt, hat es ganz hinten zur Wand gedreht. Ich fahre durch eine noch immer vom Schlaf träge Stadt, atme den Duft von Flieder und Traubenkirsche, den Geruch der frischgemähten Friedhofswiese und der Rosenbüsehe, die auf dem Weg in den Hochsommer kurz vor der vollen Blüte stehen. Eine Natur, ein Blühen, das sich in der jährlichen Verzückung darüber, mit Duft, Farbe und Sichtbarkeit im Mittelpunkt stehen zu dürfen, in alle Richtungen streckt. Ich stoppe mein Fahrrad und ziehe einen Ast Flieder herunter, um mir einen Zweig in den Fahrradkorb zu legen. Die Nase versinkt in all dem Weichen. Berührung. Wie war das mit dem Haaransatz? Zu spät für so etwas.
Ich komme lange vor meinen Kollegen zur Ministerialbibliothek. Schließe auf, schalte die Lampen im großen Saal ein, in dem die Bibliothek untergebracht ist. Er erinnert an die Schalterhalle einer Bank zur Zeit der Jahrhundertwende, die Schritte hallen, wenn man über den Marmorboden geht. Hier existiert eine Ruhe, die nicht definierbar ist. Im Unterschied zum Institut wird hier nichts Größeres von mir verlangt, ein angenehmes Fehlen von Konkurrenz. Auf meiner Halbtagsstelle habe ich mich um Buchausleihe und Rückgabe zu kümmern, getätigt von Beamten der Verwaltung, der Ämter und Ministerien, habe das Magazin zu betreuen sowie die Schwedischen Gesetzblätter und die Öffentlichen Staatlichen Untersuchungsberichte in tadelloser Ordnung zu halten. Das gelingt niemals. In dieser Umgebung fällt es schwer, etwas anderes als unsichtbar zu sein. Meine Kollegen sind aus demselben Grund dort wie ich: der unendlichen Liebe zu Büchern; und wir hoffen, daß die Benutzer still und würdig auftreten, damit alle ihre Ruhe haben.
Unten im Magazin kann ich stundenlang an ein Regal gelehnt sitzen, völlig versunken in ein Buch, das zufällig aus der Reihe hervorstand, als ich vorbeiging. Mit einem Seufzer ziehe ich es heraus, nehme seine aufgeschlagenen Seiten mit demselben Genuß entgegen, den Sam bei Schokoladentafeln und dem Gedanken an Einsamkeit empfindet. Die Freude besteht darin, den Gedankenbahnen eines anderen Menschen zu folgen, sein Universum zu einem Teil des meinen zu machen, wenn auch nur für einen kurzen Moment, bis ich erneut untreu werde und meine Hand nach einem anderen Buch ausstrecke.
In der Bibliothek haben wir einen Chef, Herrn Mårtensson, der unsere Tätigkeit durch eine Anzahl Strategien lenkt. Diese Direktiven und Rundbriefe, die regelmäßig in unseren Fächern landen, sind großartig: Seminare, Umstrukturierungen, Prämissen, Fünfjahrespläne sowie »Kompetenzerhöhungsinitiativen von höherem Ort«. Mårtensson hat eigentlich nur eine gute Eigenschaft: Ihm ist bewußt, daß er keine Ahnung hat, wovon er spricht. Das ist ein versöhnlicher Zug, für den wir Angestellten ihn aufrichtig bewundern. Diese Rundbriefe werden auch zu jenem »höheren Ort« gesandt, sie werden eigentlich nur für diesen verfaßt, denn unsere eigenen landen umgehend im Papierkorb, worauf wir unsere Arbeit genauso erledigen, wie wir es immer getan haben: nach eigenem Gutdünken. Das funktioniert ausgezeichnet. Deshalb kann ich auch ganze Stunden im Magazin verbringen, wo ich alles Wissen einholen kann, das für meine aus sporadischen Notizen bestehende Dissertation vonnöten ist. Ljunggren hat gesagt, eine meiner wirklichen Begabungen sei es, in relativ kurzen Texten die Quintessenz schwerverständlicher Wissenschaft darzulegen, daß es mir gelänge, diese greifbar und anwendbar zu machen. Meine Artikel aus der grandiosen Zeit waren offenbar von dieser Art. Ljunggren behauptet, ich hätte das, was gebraucht wird. Aber bring es auch zu Ende! Tritt in die Welt der Sichtbaren ein, Savanna, und nimm, was geboten wird! Eine Frau auf meinem Stuhl. All das.
Ich frage Ljunggren, frage mich selbst: »Muß man denn so viel Platz einnehmen? Reicht es wirklich nicht, zu wissen, daß ich die Sache hier kann?« Muß denn alles verwertet werden? frage ich mich, plötzlich wütend. Ich weiß, was Ljunggren antworten würde: »Immer gibt es jemanden, der diesen Posten einnimmt und ihn im eigenen Interesse nutzt. Ich ziehe denjenigen vor, der es auch für andere tut. Den ich überreden muß, seinen Platz einzunehmen, statt ihn dem zu geben, der danach schreit.«
Ich aber halte mich lieber an das Magazin. Ein Schemel, ein Buch im Schoß, es öffnen und dann: das Nichts. Das ist die Zeit, die vergeht, während man liest. Normales Zeitgefühl zählt nicht mehr, so wie bei großer Trauer oder ungeduldigem Warten. Manchmal werde ich von den Benutzern gestört. Das macht nichts, das ist mein Job. Ein kurzes Klingelzeichen von meinen freundlichen Kollegen, und ich bin wieder auf meinem Posten. Ich bin bereit für Blitzeinsätze, die erforderlich sind, wenn ein Beamter aufgelöst anruft und eine Sofortbestellung aufgibt: »Die Agrarentwicklung Litauens in den letzten 150 Jahren, ökonomische und politische Aspekte!« Zehn Minuten darf es dauern, denn sie haben nur eine Stunde zur Verfügung, um das Material zu liefern. »Ist es günstiger, es zu holen, oder können Sie es mit der Rohrpost schicken, verstehen Sie, die Zeit hier oben vergeht so rasend schnell.« Ich verstehe natürlich und fühle mit ihnen. Ich habe ihre Blicke gesehen, habe ihren Herzschlag durch die gebügelte Hemdbrust vernommen. Die Aufgelöstheit ist spürbar: viel zuwenig Zeit ... ist es möglich, daß sich die Buchstaben so rasch über den Bildschirm bewegen?
»Fünfunddreißig E-Mails in einer halben Stunde«, sagen sie mit heiserem Lachen, wenn sie ihren Packen an meinem Tisch abholen. »Davon fünfzehn akute.«
Früher habe ich meist genickt, war der unsichtbare Shredder. Heute möchte ich ihnen fast über die Wange streicheln, mich Vorbeugen und flüstern: »Kommt her, erleichtert euer Herz, das schwer ist von Streß und dem Gefühl der Unzulänglichkeit, von mangelnder Unterstützung und minimaler Freizeit.«
Dieser Tage überraschte ich mich selbst dabei, daß ich meine Hand über die einer Beamtin legte, die nahezu erstarrt die Erkenntnis verdaute, daß sie gerade ihre Deadline verpaßt hatte, das Leben aber trotzdem weiterging. Sie ließ mich gewähren, legte ihre andere Hand auf die meine. Da standen wir wie ein altes verfrorenes Paar, uns des anderen eigentlich nicht bewußt.
»Nicht so schlimm, oder wie?« sagte sie schließlich.
Mit Erleichterung ließen wir beide die Intimität hinter uns. Kaffee? Champagner? Oder nur einen Plastikbecher Mineralwasser? Jede von uns beiden nahm einen Becher Wasser. Eine kurze Zeit der Nähe, sie mit der Erkenntnis, sterblich zu sein und dennoch weiterleben zu können, und ich mit der Gewißheit, daß nur wenig dazu fehlt, die Wirklichkeit unkontrollierbar werden zu lassen, Ordner eingeschlossen. Dann verschwand die Beamtin, ging zurück zu dem Strom von Mitteilungen, Bestellungen, grandiosen Redematerialien und dicken Untersuchungsberichten, die ihre Welt waren. Ich selbst kehrte zurück zur Einsamkeit meines Magazins, mit einem nicht eben geringen Gefühl der Erleichterung und Empathie. Ich entschloß mich, sie von jetzt an in meine Nachtgebete zu Martins Gott einzuschließen. Genug davon.
Heute hat sich vor meinem Tisch eine Schlange gebildet. Morgen gehen viele in Urlaub, und »höheren Orts« ist man bereits in eine Vielzahl phantastisch gelegener Sommerhäuser entschwunden. Das gibt den Beamten die Chance, sich mit einem Thema zu beschäftigen, das ihnen am Herzen liegt, das ihnen früher am Herzen gelegen hat oder auch niemals. Ganz nach Neigung, Erfahrung und Persönlichkeit. Weit hinten in der Reihe steht ein gutaussehender, knapp fünfzigjähriger Mann und sieht mich an. Wie soll ich gutaussehend definieren? Wir erkennen es, wenn es uns begegnet. Man spürt, daß er die Qualitäten eines Gentlemans besitzt, ich lache bei dem Gedanken. Vielleicht ist es die Art, wie er andere, gestreßtere Kollegen vorgehen läßt, wie er die Jacke einer Frau hält, während sie in ihrer Handtasche wühlt. Er steht nicht mehr dort, als die anderen Beamten gegangen sind, doch taucht er mit dem Jahrgang einer Sonderzeitschrift im Arm hinter einer Bücherwand wieder auf.
»Haben wir uns nicht schon mal gesehen?« fragt er.
Ich erwarte beinahe, daß es ihm wie ein Lied von den Lippen kommt, mit der Melodie eines Schlagers vergangener Zeiten. Oh, haben wir uns nicht schon einmal gesehen, bist du nicht das Mädchen für miiich? Ein leises Kichern, es muß die Müdigkeit sein, die mich so albern reagieren läßt.
»Gerade eben, am Tisch«, antworte ich und reiße mich zusammen.
»Ich weiß. Ich meine früher.«
Jetzt lachen wir beide, ich lache, bis mir die Knie weich werden, der Bauch ganz heiß. Ohne darüber nachzudenken, lege ich obendrein die Hand unter das rechte Ohr, bewege sie auf und ab bis zum Haaransatz. Ich erschauere, werde rot und schaue schließlich zu Boden. Unglaublich linkisch. Da ist etwas in seinem Blick, in seiner Art, mich zu sehen.
»Wir haben uns also noch nicht gesehen?« wiederholt er, während er die Zeitschriften geschickt der Reihe nach sortiert.
»Nein.«
»Nicht einmal im Profil?«
»Nein!«
»Und von hinten?«
»Keinesfalls.«
»Auch nicht ihr Nacken den meinen?«
»Also bitte, nochmals nein.«
Unser Lachen hallt unter der hohen Decke, prallt zurück. Meine Kollegen blicken hinter ihren Bildschirmen auf. Ich fühle mich merkwürdig flau. Gibt es nicht irgendwo einen Stuhl?
»Ich führe kein solches Leben«, murmle ich. »Wir können uns nicht gesehen haben. Zu alt dafür, schon sechsunddreißig, bald. Sehen Sie, schon graue Haare.«
»Kein Vertrauter?«
»Überhaupt keiner.«
Wir gehen zum Ausleihtisch.
»Wie klappt es mit dem Wohnungstausch?« fragt er, weist auf den Zettel am Anschlagbrett und dann auf mein Namensschild am Tisch.
»Überhaupt nicht. Mein Bruder lehnt alle Vorschläge ab. Gute wie miserable. Vor allem die guten.«
»Und Sie?«
»Ich bin ...«
Was bin ich eigentlich?
»Zu passiv. Mag es vielleicht nicht, Beschlüsse zu fassen.«
»Daran ist nichts Schlechtes. Wichtig ist, daß man gegebene Versprechen hält, finden Sie nicht? Und wenn alle dauernd Beschlüsse fassen würden, dann ...«
Er beendet den Satz nicht. Seine Art bewirkt, daß ich mich merkwürdig nackt fühle. Ich registriere seine Bücher, auf meinem Bildschirm hinterläßt seine Benutzerkarte die Angaben: Ulf Stierner, Ministerialdirigent, Landwirtschaftsministerium.
»Sind Sie oft unterwegs?«
»Meistens im Osten.«
Ich habe gehört, was sie sich im Personalspeisesaal über die Menschenmenge zurufen. Bonn? schreit einer. – Nein, wieder Brüssel! – Vorige Woche New York. – Ich auch. Im April.
Es liegt etwas Rührendes in diesem Herunterbeten von Großstädten, als werde der Flug der Zeit von einem Dreitagebesuch in Tallinn, das Programm vollgepackt, gebremst.
»Nicht einmal unser Haaransatz?« ruft der Ministerialdirigent vom Ausgang her.
Ein weiterer Blick meiner Kollegen und noch ein Erröten meinerseits. Wie rasch man heutzutage regrediert.
Sich in die Arme eines Menschen zurücklehnen und einfach nur schlafen. Die langsamen Atemzüge eines anderen spüren und dadurch den eigenen, gejagten entkommen. Jemanden seine Schulter berühren lassen, bis die Tränen strömen, die Trauer dich freigibt, das Schweigen gebrochen wird. »Auch du, Savanna.« Ja, mein Gott. Ein leises Piepen von meinem Computer, eine E-Mail. Ich öffne sie, erwarte eine ausgewogene, doch völlig unbegreifliche Direktive nach perfektem Muster von Mårtensson – sein letzter Anlauf vor den Ferien, das kann umfangreich werden. Statt dessen kommt die Mail von einer miriam.miriamson@hotmail.com.
»Jetzt ist nicht mehr viel Zeit übrig. Ich will, daß Du Dich still verhältst. Ja, unbeweglich. Bis es vorbei ist. Du weißt, was ich von Dir verlange. Ich habe es schon früher getan. Wie damals, Savanna: Unsichtbarkeit und Dein Schweigen.«
In diesem Teil der Bibliothek ist es so kalt, die Klimaanlage muß doch irgendwie abzustellen sein. Ich suche zwischen den Knöpfen, drücke auf den falschen, schalte alles ab, lege die Stirn an den Apparat, mir wird schwarz vor Augen. Meine Kollegin kommt zu mir. Viel zu klug, um ihre Schulter anzubieten. Hingegen sagt sie etwas, das sie zuvor noch nie gesagt hat: »Du brauchst Hilfe, Savanna. Begreifst du das nicht?«
So kalt ist es hier im Raum, unendlich kalt, und mein Wollpullover liegt zu Hause. Der Pullover flattert auf meinem Balkon im Wind.
»Du hast recht«, antworte ich.
Wir zucken beide zusammen. Ich sage es noch einmal, als Bestätigung, kein Zurück ist mehr möglich. Alles, nur nicht noch eine Nacht voll Verzweiflung, nicht noch einen weiteren Tag voller Grübeleien, woher einer all meine Adressen kennt. Die Angst hat mich diese Worte sagen lassen; erst jetzt weiß ich es.
Angst habe ich nicht gehabt seit jenem Tag vor fünf Jahren, als eine Frau mit einem undichten Faserstift herumfuchtelte und dann sagte, wie es um Martin stand, daß er krank sei. Was für Worte hat sie danach benutzt? Oh, es ist so lange her, Martin. Wir sind mit Sam dort gewesen, ihr beide habt draußen gewartet. Das Sonnenlicht sickerte zwischen den staubigen Krankenhausjalousien herein, und die Ärztin tat ihr Bestes, sicher tat sie das. Wie sollte sie darauf vorbereitet sein, daß ich bei ihren nächsten Worten die Ordner vom wackligen Regal fegen würde. Die waren mal rot, mal blau und numeriert. »Im Sterben.« Das waren ihre Worte, die Finger blau von Tinte. Sehr gezielt und viel zu unvermittelt. Wie sollte sie es anders sagen? Aber ein Kind liegt nicht im Sterben, es ist lebendig. An etwas so Elementares erinnern zu müssen, das hatte mich wütend gemacht.
Nicht ich habe die Ordner hinuntergefegt, es war die Angst. Doch als das Unvorstellbare geschah, verlor sie ihre Macht über mich – ich war niemand mehr. Nichts kann an einem dann noch haftenbleiben. Nach Martin fand nichts mehr Halt in mir.
Bis jetzt. Die Schlaflosigkeit. Bis jetzt. Die Angst. Auch über meine Worte: »Ja, ich brauche Hilfe.«