Читать книгу Insomnia : Savannas Geheimnis - Barbara Voors - Страница 8

4. Kapitel

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Ich hatte einmal ein Kind. Das ist ein Satz, dessen Inhalt ich nicht ertrage. Aber ich kann es nicht einfach ungesagt lassen. Keine Mutter und kein Vater sollten ihr Kind jemals überleben. Ich lebe also von geliehener Zeit, Zeit, auf die ich lieber verzichtet hätte. Ich bin durch diesen Verlust nicht lebendiger geworden. Das Leben hat keinen tieferen Inhalt bekommen, keinen kräftigeren Geschmack durch das Leiden, wie manche behaupten – die Sorglosen. Im Gegenteil. Das Leben ist ohne Geschmack, und ich lebe nachlässig, ohne Kampf und Sinn, wie nebenher und mechanisch. Weil ich es viel lieber Martin gegeben hätte. Das Leben völlig auszukosten, das für ihn gedacht war, ist für mich unmöglich. Mit dem Tod tue ich mich nicht schwer, wenn es meinen eigenen betrifft. Dem Tod anderer beiwohnen zu müssen, hat mich ausgehöhlt. Leuten, die behaupten, man könne all dem etwas »Konstruktives« entnehmen, kann ich nur eine Antwort geben: Der Preis ist zu hoch.

Es ist die Nacht Nummer Ich-weiß-nicht-was, denn wir haben einen neuen Zeitungsboten bekommen. Jonas ist im Urlaub; und wir beide waren es, die diese Nächte im Blick hatten. Die den Überblick behielten, der ihnen fast einen Sinn gab. Nun muß ich das allein schaffen. Ich sagte, ich hätte von meinem elften Lebensjahr an tief geschlafen, daß der Platz, den ich früher eingenommen habe, einem anderen geschenkt worden sein muß, nachdem der große Schlaf angebrochen war. Auf Kindheitsbildern von mir bin ich ständig in Bewegung, ich mache Faxen für den Fotografen, laufe ins Bild, es ist, als hätte Vater es nie geschafft, die richtige Schärfe einzustellen, bevor ich schon wieder am Rande verschwinde.

Dann begann ich zu schlafen, und nach und nach veränderte ich mich. Ich schlief mich durch das Leben, nahm nicht teil, hatte in der Jugend wenig Freunde und kaum Interessen. Auf die beunruhigten Blicke meiner Eltern entgegnete ich: »Kein Problem. Ich bin gern allein.«

Doch lange Erläuterungen von meiner Seite über den Unterschied zwischen alone und lonely täuschten niemanden. Wenn Sam fragte, sagte ich, wie es war: »Es stört mich, daß man so viel Platz einnehmen soll. Muß denn jeder gut zu sehen und zu hören sein und obendrein noch laut schreien? Muß man das?«

Er schaute mich lange an.

»Nein. Aber, Savanna, sorge dafür, daß du den Platz einnimmst, den du brauchst.«

»Das habe ich schon getan.«

»Na dann.«

Sex habe ich bei zwei Gelegenheiten in meinem Leben gehabt. Mit zwei Männern. Nun ja, es waren wohl mehrere Male mit jedem. Das ist alles. Darin liegt die bewußteste Entscheidung meines fünfunddreißigjährigen Lebens. Nicht darin, so selten Sex zu haben, das war nur das Resultat der Tatsache, daß ich so wenig Platz im Leben einnahm. Nein, meine Entscheidung betraf das Ergebnis der zweiten Begegnung: Martin. Oft denke ich, wie wohl alle überlebenden Eltern, es sei eine Strafe. Immer ist da irgendein Fehler, den wir gemacht haben können. Habe vergessen, danke zu sagen, habe den Markt schräg statt gerade überquert, habe laut in der Kirche gelacht, bin der schwarzen Katze auf der Straße ausgewichen oder habe es nicht getan, war allzu offen glücklich und habe niemanden um Entschuldigung gebeten. All das, und schließlich die Strafe.

Wofür ich gestraft werden sollte? Daß ich Martin bekommen hatte, ohne ihm einen Vater zu geben. O ja, es gab einen Vater. Einen verwirrten Franzosen, der schon an der Gare du Nord von einer entschlossenen Mittzwanzigerin aufgegabelt worden war, die im voraus ein Zimmer in der Nähe bestellt hatte – mochte er es mit ihr teilen?

Wie hatte ich mich doch auf Martins Fragen nach seinem Vater vorbereitet! Den Zettel habe ich verloren, war meine Erklärung. Ich hätte einen mit Adresse und Telefonnummer in der Jackentasche gehabt, er wäre auf der Rückreise nach Stockholm aus dem Zugfenster geweht worden; was hätte ich denn tun sollen, rausspringen und neben dem Gleis zurückrennen? Da hatte Martin immer gelacht, er sah seine Mutter an französischen Bahngleisen entlangrennen, auf der Jagd nach seinem Vater, der klein wie ein zusammengefalteter Zettel war. Ich mußte ihm versprechen, daß wir beide eines Tages den Zug nach Paris nehmen würden, zu einem »richtig großen Ausflug«, und den Mann suchen, der Paul hieß.

Die Wahrheit ist, daß ich seinen Namen nicht weiß. Ich erinnere mich kaum, wie er aussah. Es ist merkwürdig, sich vorzustellen, daß ich nicht genauer hingesehen habe, damals in diesem Hotelzimmer, dessen rote Tapete sich unterhalb der Decke gelöst hatte und wie ein Segel leicht hin und her flatterte. Von den drei Tagen, in denen der Fremde und ich Martin gezeugt haben, erinnere ich mich am besten an dieses rote Segel. Als die Zeit vorüber und Martin ein kleines Partikel in meinem ihn willkommen heißenden Körper war, bemerkte ich, daß die Tapete sich so weit gelöst hatte, daß es vermutlich nur noch Wochen dauern würde, bis die ganze Wand kahl wäre, wie ein Baum ohne Blätter und Frucht.

Von den Liebesakten ist mir wenig in Erinnerung geblieben, eine gewisse Wollust, jedesmal, wenn es bei dem Mann zum Orgasmus kam, und daß er einen Wirbel im Nacken hatte, in den ich, genau in jenem Augenblick, meinen kleinen Finger gleiten ließ. Damals schlief ich tief und lange, also erinnere ich mich auch nicht, daß ich Zeit gehabt hätte, um ihn nachts im Schein der Straßenlaternen zu studieren. Manchmal wurde ich morgens wach, doch da war er in die Stadt gegangen, um Essen und Getränke zu kaufen. Ich selbst habe das Hotelzimmer nicht verlassen, aber als die drei Tage vorüber waren, stand ich wieder auf der Gare du Nord, jetzt mit einem Mann, der mich verabschieden wollte.

»Du bist eine sonderbare Frau«, erinnere ich mich, daß er sagte, vielleicht ein Versuch, unsere Aktivitäten einzukreisen.

Einen Zettel mit Telefonnummer habe ich nie bekommen, auch ich habe ihm keinen gegeben.

»Sehr sonderbar. Aber auf eine angenehme Weise«, fügte er hinzu.

Das rührte mich. Ich lachte ihn das erste Mal an. Hätte er mir da einen Zettel gegeben, dann hätte ich ihn vielleicht behalten und ihn nicht in die Toilette geworfen, wie es meine Absicht gewesen war. Wir gaben uns die Hand, er lächelte über das plötzliche Fehlen von Intimität. Aber heute bin ich froh über diese Minuten, denn da habe ich ihn das erste Mal wirklich gesehen, seinen langen schlaksigen Körper, seine lockigen Haare und die schiefe Nase. Er hatte große Hände, fühlte ich, als er meine Hand in der seinen hielt. Das ist alles, woran ich mich jetzt, wenn ich mich anstrenge, erinnere: sporadische Details, die sich nicht zu einem Ganzen zusammenfügen lassen, zu einem wirklichen Menschen. Ich bin dennoch froh, damals genau hingesehen zu haben, das hat mir ein Bild davon gegeben, wenn auch nur punktuell und unvollständig, wie Martin als erwachsener Mann hätte aussehen können. Und diese Locken, die ich sechs Jahre lang jeden Morgen, wenn Martin noch ganz schlaftrunken war, entwirren durfte – die bekamen wir als Geschenk.

Paris habe ich nie gesehen. Noch immer habe ich die Stadt nicht kennengelernt, und aus dem richtig großen Ausflug für Martin und mich ist nie etwas geworden. Doch sechs Jahre lang durfte ich in die Augen eines kleinen Menschen sehen und einer Liebe begegnen, die ich weder vorher noch hinterher gefühlt habe. Ich glaube zu wissen, daß es nichts gibt, was dem gleichkommt. Diese Herzrasen verursachende, das Gehirn zermarternde, die Augen überschwemmende, Magendrücken auslösende Liebe, die eine Mutter für ihr Kind empfinden kann, die war mir gewährt worden.

Die hinter mir liegenden Jahre der Trauer dürfen nie dazu führen, daß ich vergesse: der Verlust ist proportional zur Liebe, die einem gegeben wurde. Und die Strafe dafür, daß ich etwas getan habe, was man nicht tun darf – ein Kind zu bekommen ohne rechtmäßigen Vater –, die ist viel zu hoch. Doch bestimmen nicht wir Menschen den Einsatz.

Eigentlich weiß ich nicht, ob ich an Strafe glaube. Aber in den Nächten, in dem gelben Haus, wo nur eine Lampe über der verplombten Tür brennt, tauchen solche Wörter auf und nehmen unangemessen viel Platz ein.

Ich meine, es gab für mich drei Möglichkeiten, als Martin starb: an das Schicksal zu glauben, religiös zu werden oder leblos bei lebendigem Leibe zu sein. Es nahm viele Jahre in Anspruch, darüber nachzudenken. Das Schwierige an Determinismen war für mich folgendes: Wenn im Prinzip alles vom Schicksal gelenkt wird, brauchen wir auch nichts zu tun, um die Wirklichkeit zu verändern. Alle unsere Entscheidungen sind bedeutungslos. Es fällt mir schwer zu glauben, daß die bewußteste aller meiner Entscheidungen, nämlich die für Martin, bedeutungslos gewesen sein soll. Wäre ich religiös geworden, hätte ich es so empfunden, als wäre mein Leben nur noch darauf ausgerichtet, daß Martin auf mich wartet, und das hieße, den Rest meiner Zeit der Sehnsucht nach dem Himmelreich zu widmen. Bis dahin wäre ich gezwungen gewesen, Zuversicht bei einem allmächtigen Gott zu finden, dem ich nur schwer hätte vergeben können. Leblos bei lebendigem Leibe zu sein, bedeutet hingegen, dem Leben zu entsagen, noch während man lebt. Das ist eine Entscheidung, die am wenigsten Nachdenken und nur geringe Zugeständnisse erfordert. Im Laufe der Jahre ertappte ich mich jedoch dabei, wie ich Gespräche mit Martins Gott führte, zu dem er ein solches Vertrauen gehabt hatte. Erneut war Martin das Bindeglied, das ich selbst nicht sein konnte.

Ich sagte, niemand sollte sein Kind überleben müssen. Aber eigentlich tat ich nur das: überleben. Das Leben überließ ich anderen; ich selbst wurde eine von den Unsichtbaren. Die einzige Möglichkeit, in Frieden gelassen zu werden, das einzige, was ich nach Martin ertragen zu können glaubte. Kein unablässiges Bereden, kein Wiedererkennen, keine neue Liebe. Nur Schweigen und, zu jener Zeit, abgrundtiefer Schlaf.

Wie ich Sam dafür liebe, daß er niemals sagt: »Hör auf zu trauern, Savanna. Fang an zu leben.« Denn er weiß, daß diese Trauer ewig ist. Ewig ist ein schwieriges Wort. Sein Inhalt ist: »Du entkommst nie.« Aber kann man nicht beides, trauern und leben? Sam würde niemals fragen, er kennt mich viel zu gut, und er würde auch keine Antwort bekommen.

Vielleicht sollte ich meine erste sexuelle Beziehung erwähnen, die Anlaß für die zweite war. Meine Erinnerung ist trügerisch, ob es an innerer Leere oder am Schlafmangel liegt, das zu sagen, ist noch zu früh. Ich war jedenfalls neunzehn Jahre alt und der Mann um so vieles älter, daß Mutter es mit Recht als schlechtes Zeichen ansah. Zwei Monate waren wir zusammen. Was beinhalteten sie? Merkwürdige Positionen bei sporadischen sexuellen Aktivitäten, die mich, bestenfalls, leicht amüsierten. Im schlimmsten Fall, trotz meiner Zustimmung, das Gefühl von Kränkung hinterließen, als hätte sich jemand an mir vergangen. Der wirkliche Inhalt aber war ein Wesen von vier Jahren, braune Haare in perfektem Topfschnitt (sie mußten unter einem solchen geschnitten werden). Die Tochter des Mannes. Ein Blick in ihre Augen, und dort sah ich, was ich einmal gehabt hatte und wonach ich mich zurücksehnte: eine Art Unschuld. Eine Anwesenheit, eine Direktheit, ein selbstverständlicher Platz. Was ich einmal besessen hatte. Ich verließ den Mann und verstand danach niemals, warum erwachsene Frauen so viel Energie für zwei mir unbegreifliche Aktivitäten aufbringen: die Liebe zu finden und dann darum zu kämpfen, daß sie bleibt. Ist man nicht interessiert an diesen beiden Dingen, ist die Einsamkeit zu ertragen.

Den Mann verließ ich, aber niemals vergaß ich das, was ich in den Augen des Mädchens gesehen hatte. Damals wußte ich, daß ich Martin haben wollte, doch niemanden, mit dem ich ihn teilen müßte. Sechs Jahre lang war ich genau das: anwesend, sichtbar, sehend. Unser selbstverständlicher Platz. Daß ich wirklich schwanger wurde nach drei Tagen mit »Paul« – selbst wenn sie geschickt genutzt waren –, sagt mehr über die Biologie einer Mittzwanzigerin als über meine Naivität. Ich hatte nämlich drei weitere Reisen eingeplant, eine bei jedem folgenden Eisprung: Prag, Rom und London. Als ich meinen kleinen blauweißen Teststreifen betrachtete, war ich gerührt, aber auch fassungslos. Der Gedanke, die anderen Reisen dennoch zu unternehmen, wurde rasch verworfen.

Durch Martin gewann und verlor ich meine Unschuld. Ich verlor sie bei der Geburt und gewann sie durch seine absolute Gegenwart – so etwas hatte ich bisher nicht erlebt. Sechs Jahre später, in einem weißen kahlen Zimmer voller Schläuche, habe ich sie dann endgültig verloren.

Das Morgenlicht fällt auf meinen Schreibtisch. Jetzt wacht Sam drüben bei sich auf, bald wird er durch die geöffnete Doppeltür hereinkommen, unsere gelbweißgestreiften Tassen, die wir in seinen beziehungslosen Zeiten benutzen, aus dem Schrank nehmen und den Kaffee kochen (den abgestandenen der Nacht gießt er wortlos weg).

»Morgen, Savanna.«

»So sagt man.«

»Und einen guten auch?«

Lassen wir das, hätte ich beinahe gesagt, doch denke ich an Martin und die Frau, die ich damals gewesen bin.

»Einen wunderschönen, Sam.«

Insomnia : Savannas Geheimnis

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