Читать книгу Insomnia : Savannas Geheimnis - Barbara Voors - Страница 7
3. Kapitel
ОглавлениеMit der Visitenkarte unterm Kopfkissen bin ich heute nacht schließlich eingeschlafen. David Fawlkner, Kriminalkommissar. Das ist erstaunlich beruhigend. Vor allem jetzt, wo das gelbe Haus mir nicht mehr wie eine Festung erscheint, da die Liebesbriefe den Weg hereingefunden haben: »Du bist bezaubernd wie immer. Verführst mich mit Deinen Blicken, die zu sagen scheinen: ›Ich habe nichts gesehen, ich sehe Dich nicht.‹ Und doch haben wir einander gesehen, das haben wir.«
Soll ich mich geschmeichelt fühlen? Amüsiert sein? Anfängen zu schmachten? Ich weiß nicht. Meine Abenteuer in der Liebesbranche sind so geringfügig, daß ich dasselbe tue wie immer, nämlich gar nichts.
David Fawlkner, was hatte er gesagt? Ich könnte mich melden? Einmal habe ich es getan. Das war vor zehn Jahren. Martin lag wie eine Schnecke in mir, meinen gewölbten Bauch als Schutz und Haus über sich. Die Frau unter dem dünnen Baumwollgewebe war in meinen Träumen aufgetaucht, das rotbraune Haar sah wieder und wieder unter dem Tuch hervor, aber ihr Gesicht blieb ein weißer Fleck. Ihr Bild war niemals in den Zeitungen veröffentlicht worden. Der Mord war zu Beginn der siebziger Jahre geschehen, und damals gab es in der Presse noch nicht diesen rigorosen Hunger nach zerfetztem Frauenfleisch.
Ich weiß nicht, ob mich die Schwangerschaft empfindlich gemacht hatte oder ob es an dem »Zwischenfall« lag, der gerade passiert war. Ein unbekannter Mann hatte mich und meinen Bauch, genau in dieser Reihenfolge, gegen die Wand in einem Fahrstuhl gedrückt und mit einer Hand meinen Hals umklammert, während die andere Dinge tat, die ich verdrängt habe. Ich konnte nur denken: Alles andere, aber schade nicht meinem Kind. Schon damals war ich mir über die Prioritäten im klaren. Ich wurde von einem Wachmann gerettet, dem es merkwürdig erschien, daß der Fahrstuhl so lange zwischen zwei Stockwerken festhing. Er öffnete die Türen, worauf der Kerl wegrannte, der Wachmann sah mich an, und ich hörte mich sagen, wie es so viele Frauen vor mir getan hatten: »Schon okay. Mir ist ja nichts passiert.«
Ich weiß noch, daß mir schien, als wäre da eine Röte in seinem Gesicht gewesen, eine Art Scham über das eigene Geschlecht, während er mir, einer schwangeren Frau unter Schock, zum Telefon half: »Ja, Sam, war nur ein kleiner Zwischenfall, kein Problem.«
»Totschlägen«, brummelte der Wachmann. »Jeden einzelnen von ihnen totschlagen würde ich, wenn ...«
Es kommt vor, daß ich an diesen Zwischenfall denke und mich frage, ob er mich etwas über Männer gelehrt hat, was ich schon früher hätte begreifen sollen. Der Gedanke, wie entsetzlich der Mangel an Einfühlungsvermögen bei dem einen war und wie rasch der andere zu Gewalt und Rache neigte, hat mich verfolgt. Und über all dem: das lähmende Gefühl von Schuld, Scham und Haß.
Damals hatte ich beschlossen, mich mit David Fawlkner zu treffen. Ein paar Tage nach diesem Vorfall, mit darauffolgenden Träumen von der endgültigen Kränkung, die der Frau auf der Bahre zugefügt worden war, nahm ich meinen Mut zusammen und rief die Nummer an, die ich auswendig gelernt hatte, den Mann, nach dem ich mich so vage gesehnt hatte. Vielleicht kann man sagen, daß jeder Mensch einen unauslöschlichen Eindruck auf ein Kind gemacht hätte, das zum ersten Mal im Leben bewußtlos geworden war und das, als es wieder aufwacht, in ein fremdes faltiges Gesicht sieht. Vielleicht war es das Gefühl, daß ich wirklich etwas vergessen hatte, daß ich etwas anderes hätte sagen können, und nicht nur, daß ich einfach geschlafen habe, was mich nun dazu drängte, nach vierzehnjährigem Schweigen mit ihm zu sprechen.
Im nachhinein glaube ich, daß ich etwas von der Gewalt verstehen wollte. Ich kann leider keine andere Bezeichnung finden: Gewalt. Das klingt banal. Doch nach dem Zwischenfall dachte ich auf langen Spaziergängen darüber nach, wie sich gewisse Menschen das Recht nehmen können, sich an anderen zu vergehen, ihnen Gewalt anzutun und schließlich, wie bei der Frau mit dem rotbraunen Haar, sie so zu mißhandeln, daß sie sterben. Ich wollte etwas über die Barrieren verstehen, oder richtiger über deren Defekte.
Merkwürdigerweise stimmte er meinem Besuch sofort zu, und was ebenso merkwürdig war, ich wurde unglaublich froh. Es sollte meine letzte kleine Reise vor Martins Geburt werden. Ich setzte mich an einem warmen Sommermorgen ins Auto – den Bauch hinter das Lenkrad, die Füße breit auseinander, unter dem BH unaufhörliches Schwitzen. Fuhr dann durch die blumenübersäte Landschaft Roslagens bis zu jener Adresse, die ich auswendig kannte. Ich betrat die Polizeiwache, in einer Ecke ein Ventilator, ein verglaster Schalter mit einem Diensthabenden.
»David Fawlkner, bitte.«
»Aber das bin doch ich«, sagte ein gerade am Vorraum vorbeigehender Mann, so als würde ihn der bloße Gedanke an seine eigene Existenz amüsieren.
»Ich weiß nicht, ob Sie mich wiedererkennen. Ich meine, natürlich können Sie das nicht«, stammelte ich. »Damals hieß ich Savanna Elmbrandt, jetzt Brandt. Mein Bruder und ich haben den deutschen Namen meines Vaters wieder angenommen, es erschien uns so lächerlich, daß einer« – hier griff ich mir an den Bauch – »dann würde ...«
»Aber daran haben Sie recht getan«, fuhr er enthusiastisch fort. »Natürlich erinnere ich mich an Sie, das habe ich schon getan, als Sie angerufen haben. Birnensaft. Ohnmacht. Die Pension hier draußen im Sommer 1973. Es ist einige Jahre her.«
Er führte mich in sein unansehnliches Büro, das einzige Zeichen von Privatleben war das Bild eines Mannes in meinem Alter, der mit schmutzigen Knien auf einem Segelboot in die Sonne blinzelte.
»Mein Sohn, Jack.«
Ich betrachtete das Foto ein Weilchen und setzte mich dann nervös auf einen Stuhl ihm gegenüber. Er reichte mir ein Glas Wasser.
»Was wollen Sie wissen?« fragte er sofort, und das gefiel mir. Ich räusperte mich. Was zu Hause leicht zu formulieren gewesen war, machte jetzt Schwierigkeiten.
»Ich würde gern drei Dinge fragen. Wie hat sie geheißen, und haben Sie ihn irgendwann gefaßt?«
»Sie haben gesagt, drei Dinge.«
»Das Dritte ist, warum. Entschuldigung, aber ich müßte wissen, warum.«
Der Gesang eines Vogels drang in den stillen Raum und erfüllte ihn, wie es Geräusche immer tun, wenn die eigene Konzentration sich auf sie verschiebt.
»Es war dumm von mir, herzukommen«, murmelte ich und erhob mich mühsam.
»Ganz und gar nicht«, sagte er rasch und nahm mich beim Arm.
Da fiel mir wieder ein, warum ich mich so gut an ihn erinnerte. Er war ein Mann, der einen Menschen dazu bringen konnte, sich seufzend im Stuhl zurückzulehnen und ihm all seine Ängste mitzuteilen, einer, mit dem man viel zuviel Whisky trinken wollte. Er war ein Mann, bei dem sogar ich unbändige Lust bekam, vertraulich zu werden.
»Im Gegenteil«, fuhr er fort, »ich bin froh, daß Sie gekommen sind. Zur ersten Frage. Nein, wir haben ihn nicht gefaßt. Ich kann Ihnen all das erzählen, was ohnehin in der Presse gestanden hat, das dazu. Wenn man aber bedenkt, wieviel Zeit vergangen ist, kann ich noch ein bißchen mehr erzählen.«
»Ja sicher«, hörte ich mich sagen, als sei das etwas, das ich bereits wußte.
»Die Frau hieß Paulina Weller. Sie stammte aus einem kleinen österreichischen Dorf und hat in Wien als Sekretärin gearbeitet. Nach den Angaben ihrer Eltern, die man erst nach einigem Suchen fand, hatte sie dort einen schwedischen Mann kennengelernt. Paulina entschloß sich offenbar, diesem Mann nach ein paar Wochen Bekanntschaft in den Urlaub nach Schweden zu folgen. Ihre Eltern sind ihm nie begegnet, sie sagten, er sei daran nicht interessiert gewesen. Er war offenbar ein Mann, der Paulina von ihren früheren Beziehungen abgeschnitten hat, wie ihre Kolleginnen erzählten. Er wollte, daß sie sich nur auf ihn konzentrierte. Es gibt Männer, die das Liebe nennen.«
»Wie bitte?«
»Das war ein Scherz.«
»Natürlich«, sagte ich, eine Frau, die so wenig von Männern wußte.
»Wir glauben, daß dieser unbekannte Mann sie erschlagen hat. Es gibt nämlich Zeugen, die an Paulina während der Fahrt durch Deutschland, Dänemark und dann auch in Schweden Spuren von Mißhandlungen bemerkt haben.«
»Wie haben sie sich in den Hotels eingetragen?«
»Als Herr und Frau Weller. Das hat immer sie getan, versehen mit einer dunklen Sonnenbrille, während er, wie berichtet wurde, mit Kopfschmerzen draußen im Auto wartete. Aber in Ihrer Pension, ich meine dort, wo auch Sie und Ihre Familie wohnten, hatte sich, wie die Eigentümer sagten, nur Paulina eingetragen. Sie kam allein dorthin, in dem Auto, das die beiden zuvor abwechselnd gefahren hatten. Offenbar waren sie auf dem Weg nach Norden, aber Paulina muß kehrtgemacht haben, war vermutlich geflohen und in derselben Pension abgestiegen wie Sie.«
»Mein Bruder Sam war im Segellager«, sagte ich plötzlich. »Sonst wäre er bei mir gewesen, im Zimmer.«
»Ach ja. Jedenfalls muß der Mann sie in Ihrer Pension gefunden haben. Also, das nehmen wir an.«
»Sie gefunden haben?«
»Immer dann, wenn Frauen versuchen, Männer, die sie mißhandeln, zu verlassen, können sie in höchster Gefahr schweben.«
»Ich verstehe«, sagte ich, die nichts verstand.
»Sie haben gesagt, Sie wollten wissen, warum.«
Ich errötete.
»Nein, kein Grund zum Schämen, Ihnen ist ja wohl schon warm genug. Außerdem wollen nicht nur Sie es wissen. Aber das einzige, was ich in diesen Jahren besser verstanden habe, ist das Wie.«
»Das Wie?«
»Wie es abzulaufen pflegt. Ich habe so einiges begriffen. Grob skizziert kann es etwa so aussehen. Der Mann ist zuerst sehr charmant, tritt wohlerzogen in Ihr Leben, macht Ihnen den Hof, häufig ist es wie ein Traum. Dann allmählich fängt er an, die Frau von den ihr Nahestehenden zu isolieren, schränkt ihre Freiheit immer mehr ein. Nach und nach beginnt er, ihre Treffen mit Freunden zu überwachen, läßt sich darüber aus, wieviel sie arbeitet und was sie anzieht. Später äußert er sich dazu, was sie mit ihrem Geld macht, welche Leute sie trifft, und erklärt, sie sollte mehr mit ihm zusammen sein. Anfangs kann es vielleicht wie Eifersucht erscheinen, hat womöglich etwas fast Romantisches. Sie stehen ja gerade erst am Anfang ihrer Liebe, und diese genaue Kontrolle kann vielleicht als Fürsorge mißverstanden werden.«
Er machte eine Pause.
»Oh, fragen Sie, was Liebe angeht, nicht mich«, protestierte ich spontan.
»Ach so«, sagte er diplomatisch mit einem Blick auf meinen Bauch und redete dann ungerührt weiter. »Nach einiger Zeit findet der Mann, daß die Frau die Grenzen überschreitet. Zunächst ein paar leichtere Schläge, wie aus Versehen. Dann folgen härtere. Danach stets Reue, Tränen, das Versprechen, es nie wieder zu tun, die große Versöhnung, nur du in meinem Leben, vielleicht droht er mit Selbstmord, wenn sie ihn verlasse. Die Frau bleibt, er ist, war, schließlich der Mann, den sie geliebt hat. Das Ganze gleicht einem Geiseldrama, doch ist der Gefängniswärter Geliebter und Verabscheuter zugleich.«
»Wie ist das möglich?«
»Fragen Sie nicht mich. Sie und ich sind nur fassungslose Zuschauer. Doch soll uns das meiner Ansicht nach nicht hindern, uns in die Sache hineinzuversetzen. Ich habe inzwischen begriffen, daß nichts so überraschend und verwirrend ist wie Wärme und Zärtlichkeit nach einer Mißhandlung. Eine Umarmung von dem Menschen, der einen gerade grün und blau geschlagen hat, kann überraschend befreiend wirken. Das liegt an den Gegensätzen – endlich ist es vorbei! Ich habe dergleichen gesehen.«
Als Antwort auf meinen fragenden Blick fügte er finster hinzu: »Einigen Frauen in meinem Revier ist im Laufe der Jahre schlimm zugesetzt worden. Ich habe ein bißchen geholfen.«
Ein Klopfen an der Tür und die für Schweden typische Rettung wurde hereingebracht: Ein Tablett mit Kaffee. Unsere Gesichter hellten sich auf, was für eine Befreiung, sich bei etwas Handfestem verständigen zu können, wenn die Themen einem den Boden unter den Füßen weggezogen haben.
»Paulina?« fragte ich.
»Paulina, ja«, sagte er und räumte einige Papiere beiseite, um Platz für den Kaffee zu haben. »Wir glauben also, daß Paulina vor diesem Mann geflohen ist, aber er ist ihr gefolgt. Er fand sie in der Pension, und es gab Streit. Danach erschlug er sie schließlich, mit einem Leuchter. Ob es geplant war? Unmöglich zu sagen, wahrscheinlich nicht. Aber das Merkwürdige ist, daß er die Mordwaffe mit Fingerabdrücken zurückließ und außerdem eine Anzahl anderer Beweise dafür, daß er sich im Zimmer aufgehalten hatte: Haare, Haut, Fasern seiner Kleidung und anderes. Jemand muß ihn gestört haben, oder er war äußerst unerfahren.«
»Und das bedeutet?«
»Wenn wir ihn nur finden würden, könnten wir ihn des Mordes überführen.«
Wir sannen beide darüber nach, während er Milch in den Kaffee goß.
»Aber kann es wirklich sein, daß keiner von denen, die den beiden auf der Reise begegnet sind, imstande war, eine brauchbare Beschreibung des Mannes abzugeben?«
»Das Gedächtnis der Menschen ist nicht immer so, wie es sein sollte. Außerdem, woher soll man wissen, welches Gesicht man sich einprägen muß? Offenbar trug er oft eine Sportmütze, tief in die Stirn gezogen. Sie auch, aber aus anderem Grund«, sagte er trocken.
Ich konnte nicht noch einmal »ich verstehe« sagen, also biß ich mir auf die Lippe und schwieg. Was verstand ich denn auch von dunklen Sonnenbrillen, langärmligen Blusen und Sportmützen über blaugeschlagenen Gesichtern als Schutz vor den neugierigen oder verurteilenden Blicken anderer?
»Noch elf Jahre«, sagte er.
»Was?«
»Elf Jahre bis der Mord verjährt. Wollen mal sehen, das wäre also der 26. August 1998. Diese Zeit haben wir noch, um ihn zu fassen. Sicher werden wir das«, sagte er vor allem zu sich selbst, wie jemand, der eine hoffnungslos zurückliegende Fußballmannschaft anfeuern will. »Möchten Sie Paulina sehen?«
Ich zuckte zusammen.
»Ich habe hier ein Bild, das ich von ihren Eltern bekommen habe.«
Er nahm eine Kopie aus seinem Schreibtisch und legte sie mir hin, ohne eine Antwort abzuwarten.
Augen, Nase, Mund. An mehr erinnere ich mich nicht. Augen, Nase, Mund. Etwas in mir verkrampfte sich, und plötzlich wurde mir übel. Ich stand auf und rannte auf die Toilette.
»Das Kind«, sagte ich entschuldigend, als ich ins Zimmer zurückkam.
Daß es Monate her war, seit ich mich das letzte Mal übergeben hatte, sagte ich nicht.
»Zu dem Warum sind wir noch nicht gekommen, oder?« stellte er fest und gab mir diskret ein Tempotaschentuch.
»Ich wollte nur gern ihren Namen wissen.«
»Doch wohl etwas mehr?«
»Ja«, murmelte ich verlegen. »Aber ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll.«
»Wer weiß das schon. Versuchen Sie einfach zu sagen, wie es ist.«
»Ich wollte nach der Gewalt fragen«, fuhr ich fort und zerpflückte das Papier, Schweiß lief mir über den Bauch. »Vor kurzem ... ein Mann hat versucht, sich an mir zu vergehen. Wie kann das passieren? Warum gibt es keine Barrieren? Wie können manche einfach so weitermachen, obwohl man um Gnade bettelt, wie können die trotzdem weitermachen?«
Derjenige, der Martin werden sollte, bewegte sich wie ein Fisch in meinem Bauch. Und das Kind wuchs, so als wüßte es, daß ich jemanden in meinen Armen brauchte.
»Es tut mir leid, aber die Sache geht mir nicht aus dem Kopf. Besonders jetzt nicht.«
»Das braucht es nicht. Ich wünschte wirklich, ich könnte etwas Kluges dazu sagen. Ich weiß vielleicht nicht sehr viel über Gewalt, um so mehr über die Konsequenzen«, erwiderte er nur. »Darüber weiß ich ein ganze Menge.«
Eine deutliche Pause, aber trotzdem merkwürdig angenehm.
»Macht und Machtlosigkeit, doch in welcher Kombination und wie das zustande kommt, das weiß ich nicht. Das beunruhigt mich«, fügte er wie zu sich selbst hinzu.
»Mich auch«, sagte ich nickend.
Wir rührten in unseren Tassen, lächelten uns vorsichtig zu, holten beide tief Luft. Aber dann kam es plötzlich, von dem Mann, der anscheinend damit beschäftigt war, das Bild des Sohnes gerade zu rücken, doch wußte er genau, was er tat: »Sie erinnern sich nicht an irgend etwas, das Sie jetzt erzählen wollen?«
Ein paar Sekunden lang nur Schwärze im Kopf, völlige Leere, als würde ich auch bei größter Anstrengung nicht einmal mehr den eigenen Namen wissen. Wie vor der Prüfung in einem Fach, in dem man zuviel weiß oder nicht das Geringste. Aber ich schloß die Augen, mühte mich und suchte: Gerüche, Gedanken, Stimmen, irgendwas? Doch nur Dunkelheit.
»Ich habe wie betäubt geschlafen«, wiederholte ich.
»Wie betäubt ... Ja, wenn Sie wieder reden wollen, rufen Sie einfach an.«
»Ich habe Ihre Zeit unnötigerweise in Anspruch genommen.«
»Das weiß man nie im voraus«, sagte er lächelnd. »Darf ich etwas Merkwürdiges sagen?«
»Das wäre tatsächlich eine Erleichterung«, erwidere ich.
»Ich glaube, Sie haben es völlig richtig gemacht«, sagte er mit einer Handbewegung auf meinen Bauch, die alles zu umfassen schien: das vaterlose Kind und meine Sehnsucht nach dem, der Martin werden würde. »Glauben Sie mir, Sie werden das Kind grenzenlos lieben. Und Ihre Alpträume werden abnehmen.«
Komischer Mann, dachte ich auf dem Weg zum Auto. Wie konnte er etwas über die Alpträume von Fremden wissen? Was hatte er vom Leben gesehen, das ich verpaßt hatte? Damals verstand ich nicht, was ich jetzt weiß: Man braucht Einfühlungsvermögen und Interesse an anderen Menschen, um sie sehen zu können.
Er begleitete mich bis zum Auto.
»Wir machen es so«, sagte er durch das Seitenfenster, nachdem er mir geholfen hatte, den Sicherheitsgurt über dem Bauch anzulegen, »Sie kümmern sich um das Warum, glauben Sie mir, es wird Ihnen in den kommenden Jahren beinahe zur Gewohnheit werden, und ich werde ihn fassen.«
Ich lächelte zu ihm hoch, begegnete demselben Blick, wie damals, als ich klein war, derselben Wärme.
»In der besten der Welten?« fragte ich.
»Es gibt sie.«
»Man sagt es.«
Er schüttelte den Kopf, hob die Hand zum Gruß, und ich sah ihn im Rückspiegel, als ich losfuhr. Obwohl es heiß war, fröstelte es mich. Ich hatte das Gefühl, die Kiefer zusammenpressen zu müssen, damit die Zähne nicht aufeinanderschlugen.
Aber sie hatte einen Namen bekommen, Paulina Weller. Ich fand, das war das mindeste, was ich meinen gesichtslosen Träumen geben mußte.