Читать книгу Insomnia : Savannas Geheimnis - Barbara Voors - Страница 12
8. Kapitel
ОглавлениеMeine Schritte haben ein Echo. Nicht das normale: diesen Schritt, der den Bruchteil einer Sekunde nach dem eigenen erfolgt, wenn man durch regennasse Gassen geht. Nein, nicht das, sondern ein anderes. Wenn ich den Fuß aufsetze, ertönt mein Echo ein wenig zu spät. Bleibe ich stehen, verstummt auch das Echo, doch geschieht es mit merkwürdiger Verzögerung. Ich weiß nicht, ob ich lachen, um Hilfe schreien, Sam anrufen oder ein Taxi nach Hause nehmen soll. Ich tue nichts von alledem. Meine Schritte haben ein Echo, jemand folgt mir. Es ist wohl schon Schlimmeres geschehen.
Manchmal, wenn ich nach Hause komme, klingelt das Telefon, ich hebe den Hörer ab – niemand antwortet. Nur Atemzüge, gleichsam als Erinnerung: »Ich weiß, wo du bist.« Die Mitteilungen lassen sich beim besten Willen nicht mehr liebevoll nennen. Nicht einmal von einer Schlaflosen mit fehlender Verankerung in der Wirklichkeit. Also baue ich mir eine stärkere Festung. So gehe ich mit der Sache um. Nicht einmal Sam will ich in der Nähe haben. Das erstaunt ihn, er hatte sich auf Ausflüge in seinem offenen Sportwagen durch das sommerschöne Schweden gefreut. Mit seinem Schwesterchen, das sarkastische Kommentare von sich gibt, die ihn zum Lachen bringen. Eine Schwester, die weder den übermäßigen persönlichen Genuß noch die mangelnde Aufmerksamkeit kommentiert. Darauf hatte er sich für den Sommer 1997 gefreut. Darauf und auf die wundervolle Einsamkeit.
»Mach die Doppeltür zu, Sam!« rufe ich.
Er schaut vom Küchentisch auf.
»Zumachen?«
»Und schließ auch ab, von deiner Seite, bitte.«
Ich will nicht der Versuchung erliegen, bei jeder Gefühlsattacke zu ihm hinüberzurennen und von der Anzahl Stunden zu berichten, bei denen ich pro Nacht gelandet bin. Auch nichts von paranoiden Schritten mit darauffolgendem Echo. Würde ja nur bei den Details, den Symptomen hängenbleiben und immer weiter von den Ursachen abkommen. Statt dessen will ich mich meinen Mappen und Ordnern widmen. Bald werde ich auch mein Zeitungsabonnement abbestellen, ich ertrage keine weiteren nächtlichen Besucher. Werde Sam der Berührung und den Tränen überlassen.
»Schließ die Tür ab und laß mich in Frieden«, verdeutliche ich völlig unnötigerweise, weil es eigentlich keiner Erklärung bedurft hätte.
»Willst du, daß sie abgeschlossen ist, mußt du es von deiner Seite aus tun«, sagt er und geht zu sich hinüber.
Das ist ein deutlicher Hinweis, völlig ungewöhnlich. An der Art, wie er die Tür zumacht, höre ich, daß er wütend ist. Auch das ist nicht typisch für ihn. Nichts ist typisch. Ich fingere ein Weilchen an dem Klebeband über der Klinke von Martins Zimmer, ziehe es dann ganz ab. Öffne die Tür und gehe hinein. Alles ist genauso wie zuvor. Nein, die Bettwäsche ist frischgewaschen, und der Staub stammt höchstens von den letzten drei Wochen. Sam muß aufgeräumt haben. Er kümmert sich um die Verplombung und hält das Zimmer sauber. Ich soll mich fernhalten, so weit weg, wie es nur irgend geht – wir wissen es beide. Jetzt verstoße ich gegen die wenigen Regeln, die bei uns existieren. Martin ist ziemlich groß gewesen, sein Bett sieht fast wie das eines Erwachsenen aus. Vier Jahre, viertausend Jahre voller Leere. Ein tiefes Loch in meinem Körper, das sich nie füllen lassen wird, und an diesem Hohlraum prallt alles andere ab. Kein Tag, kein Ereignis, kein Gedanke, die nicht damit kollidieren.
Ich lege mich in sein Bett, direkt auf das Inlett des Kissens, Sam muß den Bezug vergessen haben. Das Bett hat keinen Geruch. Das Zimmer riecht schwach nach Ammoniak, vielleicht hat Sam die Fenster geputzt. Ich habe hier drinnen nichts zu suchen, Sam hat recht. Nichts und doch alles. Es gibt einen Satz, den ich nicht vergessen kann und der sich jetzt in Erinnerung bringt, er ist fest in meinem Körper verankert. Es war ganz am Anfang, nach den Ordnern und den unbegreiflichen Worten der Ärztin. Ich war tapfer, sogar mutig – oh, wie beherrscht. Außer an den Abenden, wenn ich glaubte, daß Martin schlief. An einem solchen Abend kam er herein, fand mich nackt und aufgelöst in feuchten Kissen. Bevor er sich in mein Bett legte und meine Nacht mit mir teilte, sagte er: »Es regnet in deinem Gesicht, Mama.«
Nur das. Die Mutter zu sein, zu der der Sohn so etwas sagt. Es regnet so sehr. Danach weinte ich auf ganz andere Weise. Ich behielt den Regen, so lange ich konnte, in meinen Händen, formte eine Schale für die Tränen. Sammelte sie.
An Martins Wänden hängen Bilder, die wir zusammen gemalt haben, ein paar sind nur von ihm. »Für Mama.« »Für Onkel Sam.« Wir zwei. Wir drei. Ein Feuerwehrauto im Regal. Eine Puppe in seinem Bett, ordentlich zugedeckt mit der frischgewaschenen Decke. Sam hat recht. Wer sollte darauf achten, daß das Klebeband an Ort und Stelle bleibt? Wer kann es besser tun als er? Wir stecken hier fest, er und ich. Wir stecken fest.
Ich gehe aus dem Zimmer. Kein Regen. Ich habe Arbeit und eine lange Nacht vor mir. Jetzt muß man seine Kräfte einteilen, ich weiß, wie die Müdigkeit einen von innen heraus auffrißt – habe gelernt zu haushalten. Ich sehe auf die Uhr. Erst neun Uhr abends. Vielleicht hat er Spätdienst dort oben in Roslagen, falls er überhaupt einen solchen hat. Ich meine sein zerfurchtes Gesicht sehen zu können, bemerke, wie er die Hand nach der fünften Tasse Kaffee dieses Tages ausstreckt und dann die Schreibtischlampe so einstellt, daß ihr Licht auf das Bild seines Sohnes fällt. Doch vielleicht ist sie ausgeschaltet, die Abende in Roslagen sind genauso hell wie unsere hier.
Ich entschließe mich, hole die Visitenkarte unter meinem Kissen im Schlafzimmer hervor. Auch dort frische Wäsche. Sam verwöhnt mich, er macht sich Sorgen. Auf der Karte steht noch eine handgeschriebene private Nummer. Zunächst rufe ich in seinem Büro auf der Wache an. Einfach zu hören, wie die Signale dort ankommen, verschafft mir ein Gefühl von Erleichterung, läßt mich denken, wie sehr das Gespräch meine Nacht verkürzen wird. Es ist wohl so, wie meine Kolleginnen und Ljunggren behaupten, ich brauche wirklich Hilfe. Und vielleicht ist es auch so, wie Sam gesagt hätte, wenn er mich nicht so gut kennen würde: »Aber so tu doch etwas, Savanna. Komm raus aus dem Dunkeln, mach etwas und nimm einen Platz ein! Alles andere, nur nicht diese Isolierung.«
Niemand hebt ab, ich drücke den Finger auf die Gabel und zögere vor dem nächsten Anruf. Spätabends bei ihm zu Hause anrufen? Ich lüfte mein Schlafzimmer, drehe das Kissen zum fünften Mal um. Keines meiner Rituale pflegt zu funktionieren; ich vollziehe sie dennoch. Vielleicht sollte ich Martins und Pippi Langstrumpfs Trick ausprobieren, die Füße auf das Kopfkissen legen? Natürlich habe ich es versucht, ich habe doch gesagt, ich habe alles versucht, und dennoch: trockener Mund, steife Glieder, tränende Augen – nein, genug davon.
Ich mache drei lange Schritte zum Telefon zurück, die Visitenkarte in meiner Hand ist fast völlig zerfleddert, bald sind die Zahlen verschwunden. Eine letzte Chance. Ein Mann meldet sich, mit dem richtigen Familiennamen, aber einer fremden Stimme.
»Ich heiße Savanna Brandt, würde gern mit David Fawlkner sprechen.«
Es wird still.
»Ich bin sein Sohn, Jack. Was möchten Sie von ihm? Sie verstehen, ich meine, er ist tot.«
Ich weiß nicht, wie ich weiterreden soll. Schwarze Leere im Gehirn, ich starre vor mich hin. Lassen Sie mich hier nicht hängen, möchte ich sagen, überlassen Sie mich nicht einer weiteren Nacht in meiner Festung. Das Klebeband an Martins Tür hält so schlecht, und das ist meine Schuld. Nicht einmal Sam kann ich um Hilfe bitten, ich habe verlangt, daß er die Tür abschließt, und er ist genauso stolz wie ich. Keiner von uns wird sie öffnen. Sie verstehen, hier herrscht Durchzug, möchte ich sagen, und deshalb hält das Klebeband nicht. Jeden Augenblick kann jemand dort hineingehen. Das läßt mir keine Ruhe, ich muß denken können, daß er dort geborgen schläft. Wie haben wir noch diesen Choral gesungen, als wir klein waren? Krebs Gott, geborgen will sein. Ich sang von dem geborgenen Krebs und sah ihn vor mir: rot und schön schwamm er durch die Meere, und ich wußte, wenn ich nur an ihn glaubte, an ihn und Gott, wenn ich mich an diese beiden hielt, konnte nichts Böses geschehen. Das war es, was ich Martin gelehrt habe, worin ich lebte. Das ist es, worin wir alle leben. Darüber wollte ich mit Ihrem Vater reden. Über den geborgenen Krebs und das Echo meiner Schritte, über bedrohliche Worte, die ich nicht verstehe, und meine plötzliche Sehnsucht nach Berührung. Also wollen Sie ihn bitte an den Apparat holen? – Doch nichts kann ich sagen.
»Er ist vor einem Jahr gestorben. Ich bin hier, weil ich das Haus verkaufen will. Jack Fawlkner«, fährt er unsicher fort, »das sagte ich vielleicht schon. Ja, fast ein Jahr ist es jetzt her.«
Er unterbricht sich, weiß nicht, warum er so lange zu niemandem spricht. Warum es ihm nicht gelingt, die Sache abzuschließen, den Hörer aufzulegen. Vielleicht weil es am anderen Ende der Leitung so still ist.
»Was machen Sie?« fragt er schließlich.
Nicht: »Was wollen Sie?« oder »War noch etwas?«.
»Wollen Sie, daß ich rede, damit Sie es nicht tun müssen?«sagter dann.
Ein tiefer Seufzer von mir, und er fährt fort.
»Sind Sie in schlechter Verfassung? Sind Sie geflohen?«
Ich bin noch immer still, jetzt vor Verwirrung.
»Hat Ihnen jemand weh getan? Ihr Mann oder Ihr Freund? Wie mein Vater – auch ich bin Polizist.«
Die Wortfolge erscheint mir ungewöhnlich. Wieder Schweigen.
»Wenn Sie auflegen wollen, dann verstehe ich das. Aber ich tue es nicht vor Ihnen.«
Nichts geschieht.
»Wir sind noch da. Ich souffliere«, sagt er und lacht kurz.
Das rührt mich.
»Haben Sie vor etwas Angst?« Wenn das der Fall ist, atmen Sie tief durch.
Es ist so lange her, daß ich tief Luft geholt habe, bis in den Bauch hinunter, ich hatte vergessen, welche Erleichterung das bringt.
»Wollen Sie, daß wir uns treffen? Bald?«
Wieder ein tiefer Seufzer.
»Jetzt müssen Sie mir helfen«, sagt er schließlich.
Ich räuspere mich, nehme einen Schluck Wasser aus Sams zurückgelassenem Glas, begreife zu spät, daß es Wodka ist. Eine plötzliche Hitze im Magen.
»Entschuldigung«, flüstere ich. »Es ist nicht so, wie Sie glauben. Niemand schlägt mich. Ich war nur so verwundert.«
»Doch Sie wollten meinem Vater etwas erzählen?«
»Ja.«
»Aber?«
»Ich kann es nicht sagen.«
Jetzt wartet er ab. Was soll ich sagen: Husten Sie, wenn Sie noch da sind? Ich kann nicht erzählen, welch merkwürdiges Gefühl von Geborgenheit es war, die Visitenkarte unter dem Kopfkissen zu wissen, neben der Erinnerung an seinen Vater, als dieser den Sicherheitsgurt über meinen Bauch spannte. Mehr Geborgenheit als bei irgendeinem Krebs. Wie oft ich mir die Begegnung in diesen Nächten doch ausgemalt hatte, und jetzt war keine mehr möglich. Nein, Martin, kein Regen, nur stille Wehmut. Was mir zusetzt, ist das verlorene Bindeglied.
»Ich warte auf die Morgenzeitung«, sage ich statt dessen. »Bei mir kommt sie gewöhnlich zwischen zwei und vier Uhr früh, ich ziehe sie zu mir herein. Ich habe alle Zeit der Welt, verstehen Sie. Ich pflege auf dem Dielenteppich zu sitzen und zu warten.«
Er kommentiert meine seltsame Äußerung nicht. Das macht mich froh. Doch kommt er direkt zur Sache.
»Ich vermute, daß Sie Hilfe brauchen?«
Er kann mich nicht dazu bringen, ja zu sagen, so weit gehe ich nicht. Aber ich bestreite es auch nicht.
»Die meisten, die Vater angerufen haben, brauchten Hilfe. Ich habe es gemacht wie er, habe geredet, wenn sie es selbst nicht schafften. Nehmen Sie es mir nicht übel.«
»Das tue ich nicht«, sage ich, noch immer wie benommen. »Sie haben recht. Ich habe gewisse ... Schwierigkeiten.«
»Wollen Sie, daß wir uns treffen? Irgendwo etwas trinken, vielleicht?«
Noch ein Räuspern, daß es so schwer sein kann, eine funktionierende Tonlage zu finden.
»Ja, sicher.«
Wir legen Zeit und Ort fest. Ehe wir auflegen, sagt er: »Schlafen Sie gut. Sie klingen, als könnten Sie es brauchen.«
»Ach ja?«
»Mein Vater hat auch schlecht geschlafen, redete immer mürrisch davon, wann die Zeitung zu kommen pflegte. Ich erkenne den Tonfall wieder. Diese beginnende Irritation.«
Ich setze eine Miene auf, die er nicht sehen kann. Wer ist er eigentlich, daß ...
»Ich schlafe, wie ich will und wo ich will«, fertige ich ihn ab.
»Und das kann zweifellos erfrischend sein«, antwortet er freundlich und legt auf.
Mit einem sonderbaren Lächeln unternehme ich einen Spaziergang durch die Wohnung, sie ist groß genug dafür. An der Doppeltür angelangt, sehe ich nach: Sam hat nicht abgeschlossen, genau wie er gesagt hat. Ich gehe in seinen Flügel hinein und bewege mich im Zickzack zwischen Hängematten, Kuschelecken und einem Überfluß an Genuß. Zu Sam möchte ich sagen: »Ich werde morgen rausgehen. Gehe morgen raus. Morgen werde ich rausgehen.«
Welche Variante er auch bevorzugt, die Botschaft ist immer dieselbe: »Ich bewege mich, Sam. Schau, ich bin nicht unsichtbar.«