Читать книгу Insomnia : Savannas Geheimnis - Barbara Voors - Страница 13
9. Kapitel
ОглавлениеAm Morgen wache ich in einer von Sams Hängematten auf. Quer über das Zimmer ausgestreckt hängt Sam, seine Beine ragen unter der Bettdecke vor, die Füße sind aus diesem Winkel ungewöhnlich groß. Ich weiß, was Martin gesagt hätte: »Es riecht hier nach altem Fuß, Mama.«
Er hat recht. Sam wurde dann immer ins Badezimmer geführt, wo Martin beharrlich die großen Füße schrubbte und schiefgewachsene Nägel inspizierte, die nach langer Zeit in zu engen Schnürstiefeln resigniert aufgegeben hatten. Die Frauen sehen diese Füße nie, sie sind viel zu beschäftigt mit den Aktivitäten von Sams restlichem Körper. Zu mir sagte Martin manchmal: »Mama, aus deinem Mund riecht es eklig.«
Das war nach Abenden mit allzu viel Rotwein. Er hatte auch darin recht, erklärte aber stets mit Nachdruck: »Das macht doch nichts.« Er übersäte mich danach mit einer Menge Küßchen. »Ohne Zunge«, sagte er bestimmt – er hatte Sams Frauen gesehen, und das hatte ihn abgeschreckt. »Zunge nur, wenn ich eine Katze bin.« Wir schmatzten uns ab, ohne Katzen zu sein.
Eine Weinflasche unter meiner Hängematte, eine weitere unter Sams. Ich recke mich behaglich, der Körper ungewöhnlich geschmeidig, eine Sehnsucht, die aus dem Bauch hochsteigt. Ich schaue rasch auf die Uhr. Zwölf Uhr mittags. Zwölf Stunden Schlaf. Eine Gnade, von der ich geträumt hatte – heute gehört sie mir.
»Du hast ein Rendezvous!« jubelt Sam durch das Zimmer.
»Kein Rendezvous«, sage ich entschieden, »nur ein Treffen, auf dem ich um ein bißchen Hilfe bitten werde.«
»Egal, was dich angeht, sind beide Ereignisse gleich unwahrscheinlich.«
Wie immer hat er recht, heute ärgert mich das nicht einmal.
»Schwesterchen«, sagt er und seufzt tief. »So hier sollte man leben.«
Ich betrachte das Schlachtfeld, das wir hinterlassen haben: Süßkram, Speisereste, in der Ecke ein stummer, aber eingeschalteter Fernseher, das Fenster weit auf, Kleidungsstücke auf dem Boden, Weinflaschen, die in der Morgenbrise leicht hin und her rollen. Vielleicht hat er recht, meine Mappen und Listen machen das Leben unerträglich, nicht Sams ungehemmter Wunsch nach Genuß. Aber die Mappen sind meine Art, in einer zusammengebrochenen Welt, meiner eigenen, Ordnung zu halten. Bis die Schlaflosigkeit kam, funktionierte das auch ausgezeichnet, danach – überhaupt nicht mehr.
»Mit dir könnte ich das ultimative Leben leben«, philosophiert Sam weiter.
»Aha?« sage ich gähnend.
»Warum sind nicht alle Frauen wie du?«
»Ohne alle Forderungen, meinst du? Vorbehaltlose Liebe und all das? Bitte, nicht schon wieder!«
»Aber ich finde«, versucht er zu erklären, »mit dir habe ich die perfekte Beziehung.«
»So, findest du?«
»Ja, sicher! Außer dem Sexuellen, natürlich.«
»Das wollen wir meinen«, sage ich, lasse mich aus der Hängematte plumpsen und berühre wieder festen Boden.
»Das beste wäre natürlich, wir würden zusammenleben und das andere mit beliebigen Partnern innerhalb begrenzter Perioden zufriedenstellen.«
Er klingt wunschlos glücklich, setzt Kaffee auf und bemerkt mit einem Lächeln, daß die Tür weit offensteht, verzieht dann aber das Gesicht, als er sieht, daß die Verplombung gelöst ist.
»Sam, genauso leben wir doch.«
Er sieht erstaunt aus, doch liegt das nur am Kater.
»Da hast du recht. Ich tue es. Aber du?«
»Oh, zu spät für so was.«
Das Beste an Sam? Mir bleiben sorgenvolle Blicke erspart. Ich fahre mit dem Rad durch einen Sommerabend, der seine Gäste wohl ins Jenseits befördern will, indem er Tausende von Düften gleichzeitig ausströmt. Overkill würden die Amerikaner sagen. Warme Stockholmer Abende haben zweifellos genau diesen Effekt – alles auf einmal. Der Asphalt ist weich vor Hitze, die Häuser scheinen zusammengesunken, als seien sie nach einem langen Sonnentag gerade im Begriff auszuatmen – jetzt braucht man sanfte Cremes und Ruhe. Die Autos bewegen sich nur kriechend vorwärts, als hätten ihre Fahrer weder Kraft noch Lust zum Gasgeben. Die Schiffe vor Slussen liegen völlig still, als wäre Aktivität an einem solchen Abend überflüssig. Die ganze Stadt, eingebettet in Grün, ruht im warmen gelben Abendlicht, eine schwache Brise weht zwischen dem Mälaren und der Ostsee, zieht in die Gassen hinein, der perfekte Zeitpunkt, um die Kinder schlafen zu legen. Die Regenrohre hängen wie Zungen durstiger Hunde von den Häusern auf die Straße, die Fensterläden verschließen ihnen die Augen, die Glocken haben aufgehört zu schlagen, und auf den Milchkästen vor dem Kücheneingang sitzen Kellnerinnen und rauchen. Ruhe und Muße, ein stilles Gebet: Möge diese Stadt im Sommerrausch verbleiben, da ist sie am schönsten. Aber wir alle beben bei dem Gedanken an den unbarmherzigen Winter und den nicht existierenden Frühling in dieser Stadt, auch vor dem klaren Herbst. Wir kennen all das viel zu gut, deshalb erholen wir uns jetzt so ausgiebig. Das ist der Grund, warum wir die Schiffsmotoren abstellen, unsere Autos langsam über den ungewöhnlich klebrigen Asphalt rollen lassen und mit solcher Wehmut genießen.
Die Barriere zur Wirklichkeit, die ich in den vergangenen Monaten gespürt hatte, ist beinahe verschwunden, weil ich endlich ausgeschlafen bin. Zwölf Stunden Schlaf, und der Schleier ist weg. Es ist, als hätte jemand eine Plastikfolie, ein Mückennetz vor meinem Gesicht weggerissen, und ich wage es, einen tiefen Seufzer zu tun – ohne die Angst, ersticken zu müssen. Die Schlaflosigkeit hatte meine Nerven bloßliegen lassen, jeder konnte daran ziehen. Bei jeder Kleinigkeit war ich zusammengefahren. Jedes Geräusch hatte mich mit doppelter Stärke erreicht, jede Farbe mit greller Intensität. Meine Kraftreserve war zu gering gewesen: eine falsche Bemerkung, ein Puff zuviel, und ich bin gefallen. Alles erzeugte größtmögliche Irritation. Nachsicht, ein Luxus für die Ausgeschlafenen.
Der einzig akzeptable Nebeneffekt ist die Dünnhäutigkeit. Nunmehr bin ich diejenige, die – wenn auch ein wenig verkrampft – um Hilfe bittet. Daß ich mir gestatte, in Ljunggrens Besuchersessel zu versinken, daß eine Beamtin meine Hand nehmen darf, daß ich die Doppeltür nicht verschlossen halten und die Verplombung nicht an ihrem Platz lassen kann, daß in meinen Mappen totales Durcheinander herrscht und ich mir erlaubt habe, in ein Dunkel zu versinken, das ich nicht einmal benennen kann. Was ist das, Depression? Sagt mir nichts. Brainstorm? Der Sache schon näher. Seelischer Orkan?
Ich bin klug genug, diesen Abend im Zeichen des Ausgeschlafenseins zu genießen. Ich weiß, daß der morgige Tag ganz und gar nicht so werden muß. Man hat mir eine Frist eingeräumt, das ist alles. Zuversicht, genau wie Nachsicht, ist ein Privileg für die ausgeruhten Bewohner dieser Stadt.
Wie beschreibt man einen Menschen? Die Ausstrahlung, die von den Augen, der Haltung, dem Körper ausgeht? Wie sieht man einen anderen? Ich wünschte so sehr, Sam wäre hier, denke ich, als ich mein Fahrrad abschließe und zu dem Mann hinüberschiele, mit dem ich verabredet bin. Wie lernt man, ohne irgendwelche Absichten zu reden, ohne schlecht verborgenen Nebensinn und widerspruchsvolle Botschaften? Dennoch weiß ich, daß Sam auf diese Fragen nicht antworten könnte. Er hat die Fähigkeit, die Herzen anderer überquellen zu lassen, aber bei seinem eigenen fehlt ihm das. Die perfekte Beziehung? Hu! Nein, Martin hätte ich fragen müssen. Oder ihn besser beobachten sollen, denn er wußte, wie man Leuten begegnet. »Direkt zu ihnen hin, Mama«, hatte er gesagt. »Einfach geradeaus.«
Ich überquere den Platz, den wir für unser Treffen gewählt haben. Ein merkwürdiger Gedanke: Das hier ist schon Erinnerung. Absurd. Ein Mann, den ich nur einmal auf einem Foto gesehen habe, ein Vater, den ich gemocht hatte – das ist alles. Er ist bestimmt verheiratet, geschieden, wiederverheiratet, hat drei Kinder adoptiert und erwartet jetzt ein eigenes mit seiner dritten Frau. Aber das ist gleich wieder vergessen. Jack Fawlkner hat dunkles, kurzgeschnittenes Haar. Ich vermute, er benutzt einen solchen Apparat, wie Sam ihn besitzt: eine Einstellung für den ganzen Kopf, x Millimeter, ein paar Minuten Surren, auf dem Fußboden ein Häufchen, eine Runde mit dem Staubsauger (Martin: »Bitte, Sam, darf ich was zum Ausstopfen behalten?«), worauf das Ritual beendet ist.
Jacks Körper scheint in sich selbst zu ruhen, obgleich er aussieht, als wollte er sich ständig bewegen. Als sei der Zwang, still stehen zu müssen, etwas äußerst Zufälliges. Bald ist sein Körper wieder bereit, sich zu straffen, um die Welt in Besitz zu nehmen. Das hier ist kein Mann, dessen Nerven bloßliegen. Das ist ein Mann, der jede Nacht seine acht Stunden schläft, selbst nach fünf Stunden ist er nett und angenehm, und am Abend würde er es nicht einmal schaffen, das Vaterunser zu beten. »Ausgeglichen«, hätte Sam gesagt, vielleicht eine Spur von Neid in der Stimme. Er erscheint mir so frisch und gesund, daß ich meinen Schritt verlangsame. Was kann ein solcher Mann anderes tun, als mich an meine Mängel zu erinnern, an die Jahre der Isolation und der fehlenden Liebe? Sowie an sechsundachtzig schlaflose Nächte.
Doch da sieht er mich. Er macht eine Bewegung mit den Händen in meine Richtung, beinahe wie Martin es immer tat, wenn er mich kommen sah, kurz bevor er die Arme in die Luft streckte, damit ich ihn hochnahm. Es ist eine winzige Bewegung des Willkommenheißens, aber sie genügt, um meine Hand instinktiv zum rechten Ohr zu führen. Nein, nicht so etwas. Hilfe brauche ich. Ein albernes Lächeln wie in der Bibliothek, weiter werde ich nicht gehen.
Dennoch weiß ich Bescheid. Wie lange dauert es, bis man weiß, daß man einen anderen küssen will? Den Bruchteil einer Sekunde. Hitze im Bauch, es ist, als zöge sich die Gebärmutter zusammen.
»Savanna Brandt«, sagt er leise lächelnd.
Mehr ist nicht nötig, da sein ganzes Gesicht geradezu von innen leuchtet, eine schlecht verborgene Freude in seinen Augen. Irritiert denke ich: Was hat er für einen Grund, so froh auszusehen? Woher diese Ausstrahlung, so etwas vererbt sich doch nicht. Mach dich nicht lächerlich.
»Sie sind Jack«, stelle ich nur fest.
Wir gehen in eine Bar in der Nähe. Ich nehme mir vor, mich an die Fakten zu halten. Person und Sache zu trennen. Außerdem ist er Polizist, wenn auch in Zivil. Er will wissen, was passiert ist, als Geste gegenüber seinem toten Vater.
Doch das will er ganz und gar nicht, er will über andere Dinge reden. Ich glaube, er will sich einmal richtig aussprechen. Warum er mich dafür ausgewählt hat, ist mir unbegreiflich.
»Meinen Vater haben oft Frauen angerufen«, beginnt er unbekümmert. »Oh, nicht so. Er hatte den Ruf, bei Frauen gut anzukommen. Aber nicht deshalb riefen sie an«, sagt er und sucht meinen Blick zur Bestätigung. »Sie riefen an, weil sie sich Schutz erhofften, eine Möglichkeit der Hilfe und eine Freistatt. Wenn sie anriefen, waren sie schon jenseits der heftigen Verzweiflung, sie steckten in einer Sackgasse. Mein Vater wußte etwas darüber, wie man da wieder rauskam. Offenbar sprach sich das herum, denn sie riefen immer öfter an. Mißhandelte Frauen aus dem ganzen Bezirk. Man sagte, er höre sich ihre Geschichten an und könne helfen. Und daß man mit ihm reden könne, obwohl er ein Mann sei. Ich meine, daran ist nichts Falsches, aber in diesem Fall hier ...«
Ich versuche aufmunternd zu lächeln.
»Nun ja, oft konnte er ja nichts anderes tun, als ihnen die Nummer der Frauennothilfe zu geben und sie aufzufordern, ihre Verletzungen im Krankenhaus dokumentieren zu lassen, vielleicht daß sie es auch wagten, den Mann anzuzeigen. Wie viele von diesen Männern wirklich verurteilt wurden, hat er nicht erzählt. Ich glaube, es ist ihm viel zu nahegegangen, als daß er darüber hätte reden können.«
Unsere Getränke werden gebracht, er hatte auf Cocktails mit bunten Papierschirmen bestanden, weil er »sich in diesem Sommer keinen Urlaub gönnen kann«. Wir fingern verlegen an der Verzierung herum und bestellen etwas zu essen, denn ich bemerke voller Überraschung, daß ich hungrig bin.
»Als Sie angerufen haben, glaubte ich, Sie seien eine dieser mißhandelten Frauen. Eine, die nicht wußte, daß Vater gestorben ist. Ich konnte die Frau, konnte Sie doch nicht einfach am Telefon hängenlassen. Es kostet so viel Kraft, um Hilfe zu bitten, da kann ich Sie nicht einfach weiterverweisen. Ohne zu überlegen, habe ich es wie Vater gemacht, fragte genauso, wie er es tat. Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht. Der Einfluß über Jahre ...«, sagt er und sieht plötzlich gerührt aus.
Dieser Mann hier hat offenbar keinerlei Kontaktschwierigkeiten und ist ohne jede Scheu. Man steckt sofort mitten im Gespräch. Wir nehmen beide einen großen Schluck zwischen den Schirmen.
»Ich habe ihn so oft gehört. Das erste Mal, als ich vielleicht vierzehn war, kurze Zeit nachdem diese Frau mit Namen Weller in seinem Bezirk ermordet worden war. Vielleicht 1973? Aber ich habe nicht gedacht, daß ich selbst anfangen würde, so zu reden wie er.«
»Vielleicht war Ihr Vater wirklich ein Mann, der bei Frauen gut ankam?«
»Wie bitte?«
»Im buchstäblichen Sinn des Wortes.«
»Möglich«, erwidert er. »Aber manchmal frage ich mich, was ihn trieb. Er mußte eine ganze Menge Spitzen einstecken.«
»Weichling?«
»Und anderes.«
»Damit konnte er vielleicht leben?«
»Sicher konnte er das.«
»Aber was hat ihn nur getrieben?«
Es scheint nicht oft vorzukommen, daß er sich unterbricht, doch wenn er es tut, dann voller Nachdenklichkeit. Er sagt, leicht überrascht, so als käme er erst jetzt zu dieser Einsicht: »Ich glaube, er hat es nicht ertragen, sie leiden zu sehen.«
»Nein«, sage ich und denke an Paulina Weller, die Fotografie auf David Fawlkners Schreibtisch und an mein eigenes inneres Bild, das rotbraune Haar unter dem Laken.
»All diese Spektakel in den Wohnungen und das Gerede von Gewalt in der Familie. Was Vater sich fragte, war: Kann man von Gewalt in der Familie sprechen, wenn nur einer prügelt?«
Wir bestellen zwei neue Drinks, deren Schirme wir zwischen den Fingern drehen: »Ist genauso gut wie Nachtisch, bestimmt.«
»Was wollten Sie von meinem Vater?« fragt Jack.
Wir haben gerade das Essen beendet, bei dem ich sein Alter (achtunddreißig), seinen Beruf (Kriminalinspektor, zehn Jahre im Dienst), seine Interessen (Sport treiben! tja) und seinen Familienstand (geschieden, keine Kinder) erfahren habe.
»Wieso wollte?«
»Die meisten haben einen Grund für ihren Anruf.« Er lächelt herzlich.
»Ja, ja«, fauche ich.
Ich begreife, es ist, weil er Sam ähnelt: dieselbe Fähigkeit, Ablenkungsmanöver zu durchschauen, und das Ausbleiben ironischer Kommentare.
Ich kaue an einem Nagel herum und wende mich irritiert zum Fenster.
»Es war nichts. Ganz unwichtig.«
»Nur ein nettes Essen«, sagt er. »Nach einem sonderbaren Telefongespräch.«
»O nein. Nicht wegen dem netten Essen. Ich meine, es war nur so, daß ich Hilfe brauchte.«
»Brauchte?«
»Jetzt hat sich die Sache gelöst.«
Schweigen. Er streckt seine langen Beine unter dem Tisch aus, lehnt sich zurück, seine Füße berühren die meinen. Ich ziehe meine Beine zurück.
Er hat jetzt die Hände im Nacken verschränkt, sein Blick in meinem. Er wartet. Dieser Arm, dunkelbraun an der Oberseite, hellere Haut unten. Der Mund wird mir trocken, ich fühle mich den Tränen nahe. Bin ich an der Reihe, das Gespräch zu übernehmen? Oh, Sam, ich kann nicht. Aber Jack ist schnell. Er beugt sich plötzlich vor, faßt meine Hände, zieht sie in einer einzigen langen Bewegung über den Tisch zu sich. Und sagt: »Erzähl jetzt.«
Ich erzähle alles. Die Schritte, die Schlaflosigkeit, die E-Mails, die Gedanken an Paulina Weller, die Begegnung mit seinem Vater David, die Visitenkarte unter dem Kopfkissen, meine Angst, weil jemand nachts draußen vor der Tür ist. Die ganze Zeit hört er mit größter Aufmerksamkeit zu.
Als letztes sage ich: »Ich glaube, jemand will mich töten, aber ich weiß nicht, warum«, doch erst ein Weilchen später verstehe ich das Gesagte wirklich.
Vielleicht ist der Alkohol schuld, daß ich so dramatisch werde, der Papierschirm, der aus irgendeinem Grund hinter meinem rechten Ohr gelandet ist. Ich wußte nicht einmal, daß ich in diesen Nächten zu einem solchen Ergebnis gekommen bin.
Er schweigt. Ich sehe, wie er eine Serviette nimmt und sie sich vor den Mund hält. Einen Moment glaube ich, er weint, dann, daß er etwas in den Hals bekommen hat, doch schließlich begreife ich: Er versucht sein Lachen zu verbergen. Als er meinen Blick sieht und den Papierschirm, lacht er schließlich laut.
»Du muß mich entschuldigen!«
»Keine Ursache«, sage ich gekränkt.
»Es war nur der Wortlaut, nicht der Inhalt!«
Jetzt lacht er noch mehr. Nach einer Weile geschieht das Merkwürdige: Es steckt an, was für eine Erleichterung.
»Entschuldige, Savanna. Es ist unprofessionell und rücksichtslos. Vater würde mir nie verzeihen.«
»Nein.«
»Glaub mir! Die Sache ist nur so, daß es der größte Wunsch meines Vaters war, genau diesen Satz einmal präsentiert zu bekommen. Vor dem Spiegel übte er die Miene ein, die er im entsprechenden Fall aufsetzen wollte. »Ich glaube, jemand will mich töten, aber ich weiß nicht, warum.«
Jetzt lehnt er sich zurück, alles, was ich sehe, ist ein hüpfender Adamsapfel.
»Und was danach?«
»Wollte er ihr das Leben retten. Natürlich«, sagt er lächelnd.
»Das ist klar«, erwidere ich und versuche ärgerlich zu klingen.
»Äußerst pathetisch, sicher. Warum wollen wir Männer den Frauen das Leben retten, Savanna?«
»Manche Männer. Keine Ahnung. Erzähl es mir, Jack.«
»Weil wir uns so für die Männer schämen, die euch drangsalieren?«
Ich kann nicht antworten, aber er bemerkt es nicht, sondern ist wieder konzentriert, zieht einen Block heraus und schreibt ein paar Worte auf.
»Das Formelle nehmen wir uns später vor, ich werde nur ein paar Stichpunkte notieren.« Pause und ein schlecht verborgenes Lächeln. »Unverzeihlich. Haßt du mich schon?«
»Ja.«
Er sieht zufrieden aus; er weiß, daß ich lüge. Denn gerade als er über das Absurde in dem Ganzen – nicht über meine Angst, lachte, da begriff ich, daß er ein Mann ist, von dem ich etwas halten konnte. Ich weiß nur noch nicht, was.
Der Rest des Abends vergeht mit kurzen Fragen und kurzen Antworten. Ich habe Ausdrucke der Briefe mitgebracht, sie scheinen ihn ein wenig nervös zu machen. Ich selbst versuche ruhig zu bleiben. Sache und Person. Das hier ist etwas, das jemandem zustößt. Daß dieser Jemand ich bin, ist im Moment nicht von Interesse. »Wann fing das mit den E-Mails an?« fragt Jack. »Und das Gefühl, verfolgt zu werden?« Ob meine Adressen leicht zu finden sind? Was könnte ich gesehen haben? Und wen? Worauf beruht meine Angst?
Meine Antworten bringen uns nicht weiter. Wir schauen beide auf seinen Block, wo nur wenige Sätze stehen, die meisten versehen mit Fragezeichen. Ich fühle, daß sich auf meiner Stirn eine kleine Sorgenfalte gebildet hat, auch Martin hatte so eine. Morgens saßen wir, einer das Ebenbild des anderen, am Tisch, die Falte wie ein Vorwurf auf der Stirn: Was für eine Zeit, um aufzuwachen?
»Und die Schlaflosigkeit?«
»Erspar mir, darauf einzugehen«, protestiere ich.
»Sicher. Aber wann hat sie angefangen?«
»Vor drei Monaten.«
»Und die E-Mails?«
»Die erste kam vielleicht drei Wochen später.«
»Also war die Schlaflosigkeit zuerst da. Woran kann das liegen?«
»Glaub mir, ich habe versucht es zu verstehen. Ja, ich habe alles probiert.«
»Ich glaube dir«, sagt er nur.
»Und komm jetzt nicht mit solch stereotypen Sätzen wie: ›Krisen bringen einen voran.‹ Die habe ich schon früher gehört, in völlig falschem Zusammenhang.«
»Ich tue alles, was du willst, wenn du dadurch nur mein Benehmen vergißt. Allerdings möchte ich noch eins sagen. Was will die Schlaflosigkeit von dir? Hast du darüber nachgedacht, ob sie dir vielleicht etwas sagen will?«
Sein aufmerksamer Blick ruht auf mir, ein kleiner Span Grün in all dem Blauen, gleich links von der Iris. Seine Unterlippe ist ungewöhnlich dick, als wäre ihm irgendwann die Kofferraumklappe dagegengeschlagen und die Schwellung nie richtig zurückgegangen – trotz Unmengen von Eis. Eine schwindelerregende Lust, mich an dieser Unterlippe festzusaugen, zwingt mich, daß ich mir auf die eigene beiße. Savanna, bitte!
»Weiß nicht, sage ich nur«, erneut wie paralysiert.
»Ich meine folgendes: Vielleicht hast du wirklich etwas gesehen, hast jemanden erschreckt, bist bei irgend etwas dabeigewesen, das für jemanden viel bedeutet, ohne daß du es registriert hast.«
»Aber?«
»Aber dein, nennen wir es, Unterbewußtsein hat es erfaßt, hat die Gefahr begriffen und läßt dich nicht schlafen ... Bis du das Problem gelöst hast.«
»Da ist noch etwas«, sage ich nachdenklich. »Der die Briefe schreibt, hat nicht begriffen, daß ich tatsächlich nichts gesehen oder auch nur eine Ahnung davon habe, was ihn zu bedrohen scheint. Falls oder als wir aufeinandergetroffen sind, muß es ihm obendrein so erschienen sein, als würde ich ihn zum besten halten, weil ich, in seinen Augen, in jenem Moment so tat, als wäre nichts.«
So einfach: Zusammenhang, Analyse, Schlußfolgerung. Sache und Person.
»Soll ich mir Sorgen machen, Herr Kriminalinspektor?« frage ich, in einem Versuch zu scherzen.
»Das ist schwer zu beantworten. Ein wenig vorsichtig sein, vielleicht, und etwas aufmerksamer.«
»Das fällt schwer ...«
»Wenn man nicht schlafen kann, ich weiß«, ergänzt er. »Aber ruf mich an, wenn sich was Neues ergibt. So was kann sich von selbst erledigen, wenn nicht aus anderem Grund, dann weil er begreift, daß du wirklich nichts weißt.«
Er gibt mir seine Karte. Darauf das kleine Wappen der Polizei. Ich kenne es seit der Kissenzeit.
Wir stehen wieder draußen auf dem Platz. Der Abend ist kühler geworden. Niemand hat einen warmen Pullover dabei – schließlich ist Sommer! Wir legen die Arme um den Körper, um die Wärme zu halten.
»Wie gesagt«, erklärt er, und keiner von uns weiß, was er meint.
Er nimmt meine Hand, drückt sie einen Moment, dreht sich um und geht. Trotz der Sportlichkeit hat er im Augenblick nicht das Bedürfnis, seine physische Energie zu zeigen. Also das war David Fawlkners Sohn. Eine neue Visitenkarte unter dem Kopfkissen? Mit einem Gefühl kindlichen Protestes werfe ich sie in den Papierkorb neben meinem Rad. Ich kann selbst.
Da höre ich ihn über den Platz kommen, er ist kaum außer Atem, obwohl er gerannt sein muß.
»Entschuldige, ich weiß es nicht mehr, habe ich dir meine Karte gegeben?«
Diese Haare. Ich würde ihre Länge so gern mit meinen Fingerspitzen messen. Ist sein Rasierapparat genauso eingestellt wie der von Sam? Nur um die Fakten zu klären. Einen Moment meine Finger in seinem Haar, und ich wüßte Bescheid. Ein Augenblick voller Weichheit.
»Nein. Nein, das hast du nicht.«