Читать книгу Insomnia : Savannas Geheimnis - Barbara Voors - Страница 9
5. Kapitel
ОглавлениеDreieinhalb Stunden heute nacht. Das Leben fällt langsam in sich zusammen. Das wenige, was ich einmal kontrollieren konnte – meine Erinnerungen, beschnitten; Martin, verplombt; meine Arbeit, eingestellt –, ist zu kleinen Stücken Unbegreiflichkeit geworden aufgrund einer Schlaflosigkeit, deren Ursache ich nicht kenne. Es erstaunt mich, wie wenig dazu gehört, das Leben unerträglich zu machen. Wie dicht am Abgrund wir leben. Daß es gefährlich ist zu leben, hatte ich frühzeitig begriffen und eine Fähigkeit zum einfachen Überleben entwickelt. Aber daß man dennoch nicht entkommt, das habe ich nicht gewußt.
Weil es schon halb sechs ist und ich vermutlich nicht wieder einschlafen werde, ziehe ich mich an und gehe ins Institut. Es ist lange her, daß ich dort gewesen bin. Ich komme meinen Verpflichtungen nach, nicht gut, eigentlich mehr recht als schlecht, aber ich bin wenigstens anwesend, wenn man mich darum bittet. Das reicht keineswegs. Ich weiß, daß auf den Korridoren geredet wird, die Art Gerede, bei dem die Sprechenden sich vor Wollust und einsetzender Reue winden. In den Jahren im Institut habe ich etwas über Konkurrenz gelernt. Ein Spiel, das ich wahrhaftig mißbillige, hat sich mir dennoch offenbart. Ich habe entdeckt, daß Politik, Position und Manipulation für manche wichtiger sind als Sachfragen. Sie haben den glühenden Wunsch, im System weiterzukommen, das Spiel so gut zu spielen, daß nicht erkennbar ist, wie sehr bei ihnen die Position immer vor dem Inhalt rangiert, unabhängig von den Folgen. Einige Jahre voll von Entsetzen, aber auch von Faszination waren nötig, bevor ich das Spiel deutlicher durchschauen und mich abseits stellen konnte.
Für die übrigen Doktoranden bin ich ein Hund, der schon am Boden liegt, keiner, mit dem man noch rechnen muß. Das hat die meisten beruhigt, ich bin unschädlich gemacht. Ich glaube sogar, daß einige begonnen hatten, Sympathie für mein Schweigen zu entwickeln, in Kombination mit charmanten kleinen Boshaftigkeiten. Doch da ich keinen Schritt unternommen habe, um ihren Interessen wenigstens auf halbem Weg entgegenzukommen, ist es meist dabei geblieben. Es gibt ein paar Leute, die mich noch nicht ganz abgeschrieben haben, sie betrachten mein Nichtagieren als Taktik, mit der ich hochgesteckte Ziele kaschieren will. Halten eben das für den Grund, weshalb Professor Sten Ljunggren ein unerträglich großes Interesse an einer Person zeigt, die so langsam und undiszipliniert arbeitet. Ich verstehe ihre Irritation, ich habe nichts getan, was Ljunggrens Aufmerksamkeit verdient. Im Gegenteil, ich erbringe gerade so viel an Leistung, wie notwendig ist, um klarzukommen. Manchmal frage ich mich, warum ich das überhaupt noch tue; ich weiß, daß andere es genauso machen.
Kurz nach sieben betrete ich das Institut. Der Kaffeeautomat scheint warm, noch jemand ist zeitig hier. Der lange Korridor liegt vor mir, mein Kabuff befindet sich fünf Türen weiter auf der rechten Seite – ich meine es nach meinen sechs Jahren hier im Dunkeln finden zu können. Es war zwei Jahre vor Martins Tod, als ich hier angefangen habe, ein gutes Stück ehrgeiziger als die schlaflose Frau, die sich heute planlos zwischen Ordnern, Telefon und Computer bewegt. Damals verfaßte ich die wissenschaftlichen Artikel, die mir die Aufmerksamkeit des Professors und anderer einbrachten; heute bin ich diese Aufmerksamkeit nicht mehr wert. Ich verstehe die Verachtung, manchmal ist es auch Abscheu, der anderen Doktoranden. Vielleicht würde ich mich selbst genauso verhalten. Die Trauer, ich glaube, sie nennen sie so, hat offenbar zwei Jahre anwesende Abwesenheit entschuldigt. Die letzten beiden Jahre durfte ich bleiben aufgrund von ... Ja, was? Nicht einmal ich weiß es, ich könnte es auch nicht begründen. Ich frage mich manchmal, ob ich nur hierbleibe, weil ich darauf warte, daß ein anderer sagt, jetzt ist es genug. Auf eine Möglichkeit, den beschämenden Job jemand anderem zu überlassen.
Natürlich begreift mein durch Schlaflosigkeit wie in Watte gehüllter Kopf das Verwerfliche meines Verhaltens. Ich habe mich an diesen Zustand bloß nicht gewöhnen können, vielleicht sollte kein Mensch das tun müssen. Dieser neue Kopf läßt die Welt noch fremder, irgendwie verschwommen erscheinen. Die Füße bewegen sich ein Stück über dem Boden, ich segle durch den Korridor wie durch eine Welt, die aus Nebelschwaden und Rauchwolken besteht, hauchdünne Gardinen hängen vor den Gesichtern der Menschen, die das Sehen unmöglich machen.
Aber mitten in diesem Unwirklichkeitsgefühl existiert eine Dünnhäutigkeit. Zynismus unter dicker Watte läßt sich schwer meistern. Das Schwierige ist: Würde mir heute jemand die Hand hinstrecken, würde ich sie fast zwanghaft ergreifen. Es reicht nicht länger, einfach zu überleben und in Ruhe gelassen zu werden, wie es in der Zeit nach Martin war. Die Schlaflosigkeit hat es unmöglich gemacht, ich muß um Hilfe bitten. Meine allzu langen Nächte haben mir die Fähigkeit zur Unberührtheit genommen, die mein größtes Plus war und mir half, Fragen zu entgehen, die sich nicht beantworten ließen. Der winzige Platz, den ich viele Jahre lang eingenommen habe, fordert Vergrößerung. Was ich zuvor allein mit Sam zu teilen brauchte, muß plötzlich mit mehreren geteilt werden. Ich ahne, daß ich bereit bin, mein Herz jedem beliebigen zu öffnen, der mehr als ein paar Minuten in meinem Kabuff bleiben würde und sich von unsortierten Ordnern und zerfallendem Leben nicht abschrecken ließe. Das macht mir angst. Bei den Zeitungsboten kann ich Verletzlichkeit zeigen – sie kennen mich nur nachts. Am Tage wäre dasselbe undenkbar.
Jetzt höre ich schwere Schritte auf dem Korridor. Ich warte darauf, daß die Person vorbeigeht, doch bleibt sie vor der Tür stehen. Erspar mir das! Ich will nicht den Blick heben müssen, die Augen sind die eines Hundes geworden, der um Trost, einen Keks und einen Nachtplatz zu Füßen eines Menschen bettelt. Kein Blick, den ich auf jemanden richten möchte. Die Hand als Schirm über den Augen und gesenkten Blickes murmle ich: »Keine Zeit. Komm später wieder.«
»Unsinn, Savanna«, höre ich Ljunggren in der Tür sagen. »Um zehn in meinem Zimmer.«
»Hab dann noch immer keine Zeit.«
»Aber ich. Egal, wir nehmen uns die Sache gleich vor.«
»Vor der Arbeitszeit?« versuche ich.
»Nicht so, Savanna. Bring mit, was du von deiner Dissertation hier hast und komm rüber.«
»Du meinst, sporadische Notizen und unbeschriftete Mappen?«
»Ich meine, etwas weniger Märtyrertum und etwas mehr Präsenz.«
Roter Kopf hinter provisorischem Mützenschild, ich weiß, er sieht es.
»Wie lange?«
»Bald drei Monate.«
»Heute nacht?«
»Dreieinhalb Stunden.«
»Ursache?«
»Wenn ich das wüßte.«
»Komm jetzt.«
Er ist ein hochgewachsener Mann, der nach Pfeifentabak riecht und immer in Tweed gekleidet ist, meist Braun und Beige. Weiße struppige Haare, als wäre er nur kurz von seinem Segelboot gestiegen, mit dem Wunsch, so bald wie möglich zurückzukehren, um die Fock zu hissen. Er hält mir den Arm hin, zu unser beider Verwunderung fasse ich ihn unter. Wie ein zielstrebiges Paar gehen wir den Korridor entlang bis zu dem Zimmer, das alles andere ist als ein Kabuff, mit schönen behördlichen Besucherstühlen und der obligatorischen Einrichtung aus hellem Holz. Eine private Vase am Fenster, hingestellt von seiner Frau, ein gerahmtes Plakat von einer Kunstausstellung, eine Obstschale auf dem Tisch. Und Bücher, so viele, wie man in ein zu knapp bemessenes Institutsregal nur hineinstopfen kann.
Er greift nach seiner Großpackung Erfrischungstücher und bietet sie feierlich an. Für jeden, der das Ritual nicht kennt, muß diese Geste beinahe anstößig wirken. Rieche ich denn schlecht? Bin ich schmutzig? Aber so ist es nicht. Mein Professor behauptet, er mag das Gefühl von Abenteuer, das einem jeden Treffen anhaftet – man macht sich auf gebührende Weise dafür zurecht. Wir wischen sorgfältig unsere Hände ab. Dann fange ich an, Ohren und Hals abzureiben.
»Danke, Savanna, es reicht.«
Trotzig wie ein Teenager, voll aggressiver Hormone. Nur daß ich weder fünfzehn bin noch daß die Hormone verrückt spielen.
»Martin hätte gesagt: Geht jetzt der richtig große Ausflug los?«
»Und was hättest du geantwortet?«
»Klar. Jetzt, wo wir sauber sind, geht er los.«
Das Gefühl des Professors für Abenteuer schließt auch ein, daß er eine Schale mit Wüstensand aus Botswana auf dem Tisch stehen hat.
»Habe ich nicht mal gesagt, daß du grandios bist, Savanna?«
»Ja, Herr Professor.«
Es irritiert ihn immer, wenn ich ihn so nenne, aber er zeigt es nicht. Ist auch jetzt genauso rücksichtsvoll zu mir wie vor sechs Jahren. Ich bin seine Anwesenheit nicht wert. Das macht mich beklommen.
»Grandios. Ich hatte es ernst gemeint. Das ist jetzt einige Jahre her. Glaubst du, so etwas verschwindet?«
»Absolut.«
»Ich nicht. Als du gekommen bist, hattest du eine ungewöhnliche Begabung für die Wissenschaft. Du schriebst in einer Sprache, die nicht nur verständlich war, sie war glasklar und bereichernd. Ich war froh, dich hier zu haben.«
»Und jetzt?«
»Jetzt weiß ich nicht, ob du überhaupt dein minimales Kabuff behalten kannst.«
»Also deshalb wolltest du mit mir reden.«
Ich höre den Anflug von Erleichterung in meiner Stimme, das ist fast das Schlimmste. Er hört es auch und wechselt das Thema.
»Wie geht es mit Elizabeth Brown?«
»Englische Schriftstellerin und Journalistin. Geboren 1940, gestorben 1972«, rassele ich bereitwillig herunter. »Ist in London aufgewachsen und wohnte den größten Teil ihres Lebens mit ihrem Vater Patrick in Hammersmith. Sie gab erfolgreich eine Anzahl von Frauenzeitschriften heraus, war außerdem zeitweise angestellt bei einer größeren Tageszeitung und verfaßte eine ganze Reihe aufsehenerregender Beiträge und Artikelserien. War in ihrer Zeit eine der berühmtesten Kulturpersönlichkeiten unter den Frauen. Sie schrieb auf ganz neue Weise über ungewöhnliche Themen: über Gewalt gegen Frauen, Abort, psychische Krankheiten, Hypnose, das Königshaus und Homosexualität. Sie hat auch zwei Romane veröffentlicht, wo mehrere dieser Themen in literarischer Form behandelt werden, zunächst Persecuted und dann Beaten. In der Übersetzung heißen sie, vielleicht ein wenig unerwartet, Umzingelt und Geschlagen.
Sie kümmerte sich nicht um das Geschrei der Massenmedien, was damals wohl nicht so laut war wie heute, erreichte einen relativ großen Leserkreis und machte sich eine eindrucksvolle Zahl von Feinden. Ihre Ansichten, Artikel und Romane widersprachen den geltenden Wertvorstellungen der damaligen britischen Gesellschaft.«
»Aber deine Dissertation ...«
»Greift natürlich all das auf eine brillante und grandiose Weise auf, wenn ich deinen Ausdruck benutzen darf. Ich untersuche Übereinstimmungen und Unterschiede bei den Themen, die sowohl in journalistischer als auch in literarischer Form behandelt werden, zeige ihre Spannbreite auf. Welches Forum ist für die entsprechende Botschaft am besten geeignet? Ich diskutiere außerdem – man ist schließlich nicht kleinlich! – die Medien als Wohnzimmer der Gesellschaft. Eine Art Zeitbarometer, was die Literatur nicht ganz auf dieselbe Weise bieten kann. Worüber schreibt man in den Zeitungen und worüber nicht? Wer ist der Agierende und wer das Opfer? Wer ist drinnen und wer draußen? Was wird als humoristisch angesehen und was nicht? Was ist selbstverständlich, widerspricht der Ethik oder ist akzeptabel?«
»Als dein Mentor weiß ich das doch wohl alles, Savanna! Aber wie weit bist du mit diesem Prachtwerk gekommen?«
»Ich habe an ihren Vater Patrick geschrieben und ein paar Fragen gestellt.«
Es folgt ein bedeutungsvolles Schweigen. Erst eine Explosion von Wörtern meinerseits und schließlich nur ein kurzes Puffen. Ich gebe Ljunggren ein paar Minuten, damit er sich erholt. An Patrick Brown habe ich nicht geschrieben, doch gibt es Pläne dazu in Mappe drei der Elizabeth-Brown-Reihe, unter dem Buchstaben S.
»Ach ja?« sagt er schließlich ein wenig verblüfft.
»Ich will wissen, warum eine zweiunddreißigjährige extrem verbal veranlagte Frau auf dem Höhepunkt ihrer Karriere Selbstmord begeht, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen.«
»Das ist doch wohl nicht unmöglich.«
»Eine Schriftstellerin?«
»Gerade deshalb. Ist der Worte überdrüssig. Und weiter?«
»Ich habe das letzte Interview mit ihr entdeckt, in dem sie angeregt erzählt, daß sie dabei ist, ihren dritten Roman Insomnia abzuschließen. Er wurde nie gefunden.«
»Und diese Amerikanerin, Ruth Bell?«
»Rede nicht von ihr!«
Ruth Bell. Eine entsetzliche sogenannte Wissenschaftlerin, die vor einigen Jahren eine Biografie über Elizabeth herausgebracht hat, voll von Verleumdung, Verachtung und Verhöhnung. Ich will nicht glauben, daß Menschen sich im Grab umdrehen können, bitte, erspart mir das, aber Elizabeth könnte es nach dieser Biografie glatt tun. Die Bell hingegen lacht sich ins Fäustchen auf dem Weg zu Privatjets und überfüllten Hörsälen, wo sie von »der mißhandelten Elizabeth und ihrem tragischen Leben, betrachtet von innen und außen, und dem entsetzlichen Abgrund zwischen diesen beiden Seiten« berichtet. Was Elizabeth mit ihren Büchern verdiente, ist somit »verzinst« und hat in Bells Händen eine ungeahnte Rendite.
»Ich meine nur, du kannst gewisse Probleme mit der Bell bekommen, wenn du all ihren Resultaten widersprichst.«
»Resultate?« schnaube ich.
»Savanna, werde erwachsen«, sagt Ljunggren irritiert, was mich zusammenfahren läßt. »Nun, wie willst du dieses Projekt nennen?«
»›Sporadische Notizen, weit entfernt von jeder Dissertation‹? Aber man weiß nie«, füge ich als Versuch hinzu, die Sache positiv erscheinen zu lassen.
»Man weiß nie!«
»Nein. Man kann es auch nennen: ›Fahndung in einer entschwundenen Wirklichkeit‹. Oder ganz einfach eine Art Privatforschung, das ist mein eigener Terminus. Das heißt, ich weiß, daß es mich einer fertigen Dissertation nicht direkt näherbringt, aber ich kann einfach nicht anders.«
»Privatforschung? Du klingst enthusiastisch.«
»In meinen langen Nächten habe ich viel Zeit zum Planen, verstehen Sie, Herr Professor?«
Er steht auf, wirft ein benutztes Erfrischungstuch in Richtung Papierkorb und trifft mitten hinein. Sagt dann mit harter Stimme, das zielstrebige Paar ist plötzlich nur noch Erinnerung: »Ein Jahr, Savanna.«
»Wie bitte?«
»Du hast höchstens ein Jahr zur Verfügung, um das vorzulegen, was dieses Institut von dir erwartet. Gern noch etwas mehr. Ich will nicht grandios sagen, ohne einen Beleg dafür zu haben. Was du tust, mit wem du sprichst und mit welchen unwissenschaftlichen Fragen du dich zur gleichen Zeit beschäftigst, ist nicht meine Angelegenheit. Wenn du nur rechtzeitig fertig wirst.«
Ungekämmtes Haar, Geruch nach Pfeifentabak, Erfrischungstücher vor jedem Gespräch, all das verdeckt das Selbstverständliche – daß alles, was er sagt, eindeutig ist. Dafür sollte ich dankbar sein, statt dessen möchte ich nur weinen. Ich räuspere mich.
»Nur ein Jahr?«
»Es hätte überhaupt keins sein sollen.«
»Ich verstehe. Müßte ich sonst noch etwas wissen?«
»Nein. Doch, daß ich verdammt allein stehe mit dem Glauben, daß du dich auch nur in der Nähe des Grandiosen befindest.«
»Und die Bedingungen für dieses Jahr?«
»Eine Anzahl solcher Artikel, wie du sie anfangs publiziert hast, nein, noch bessere. Und daß du deinen Verpflichtungen im Institut nachkommst.«
»Ich bin hier.«
»Mehr als nur körperliche Anwesenheit. Außerdem will ich, daß du weit mehr Platz einnimmst, als du es in den letzten Jahren getan hast. Und du ...«
»Ja, Professor ... Sten?« versuche ich bereitwillig.
»Ich habe es schon mal gesagt. Ich will, daß eine Frau meinen Stuhl übernimmt.«
»Aha, aber schau dabei nicht mich an. Viel zuviel Licht, verstehst du? Man wird viel zu sehr gesehen, als daß es zu mir passen könnte.«
»Ich begreife dich nicht.«
»Dann sind wir schon zwei.«
»Da ist noch etwas, was ich ansprechen muß. Mach dich nicht kleiner, als du bist, das ertrage ich nicht.«
»Ich überlebe nur.«
»Du tust nicht einmal das.«
Er hat recht. Es verwundert mich, daß ich so zu durchschauen bin. Er steht auf und begleitet mich zur Tür. Gleich wird er heimlich rauchen, wir anderen spüren das sofort durch das Ventilationssystem – ich erspare ihm die Erkenntnis.
»Du brauchst Hilfe.«
»Wer nicht?«
»Ich meine mehr als das.«
»Keine Therapeuten, Ljunggren«, sage ich warnend.
»Nein, ich kenne deine Einstellung dazu. Aber ich weiß jemand anderen. Die Studentenpfarrerin der Universität, Maria Soros. Ruf sie an«, sagt er und zieht einen Zettel aus der Innentasche.
Ich halte meine Hand abwehrend vor mich, wie um zu sagen, jetzt reicht es, glaube ja nicht, daß ... Aber die Hand hängt so trostlos in der Luft, schwebt, bis Ljunggren sie zwischen seine Hände nimmt und sie vorsichtig zurück an meine Seite legt. Mitfühlende Blicke will ich nicht haben, er schaut taktvoll aus dem Fenster. Ich verlasse entschlossen sein Zimmer.
Im Korridor draußen steht ein aufmerksamer Doktorand, ich sehe, wie er die E-Mails der Kollegen am Drucker durchgeht. Er setzt eine verblüffte Miene auf: »Hm, wo habe ich nur meine kleine Mitteilung gelassen?« Er sieht mich an, hebt die Augenbrauen, heute braucht er weder zu fragen noch zu spekulieren. Ich nicke ihm zu, ausreichend beklommen.
»Schlecht«, sage ich. »Es sieht schlecht aus, Johannes.«
Ich kann nicht anders. Er versucht mich mitleidig anzusehen. Er tut sein Bestes, das muß ich ihm lassen. Dann legt er den Kopf schräg, die Zungenspitze lugt zwischen den Zähnen hervor. »Ja? Erzähle!«
Aber so weit hat mich die Schlaflosigkeit noch nicht getrieben. Daß ich ein Mensch geworden wäre, der sich anderen anvertraut, damit diese ihr Wissen bei völlig unerwarteten Gelegenheiten zur Erpressung nutzen können. Oh, erspart mir das.
»Kümmere dich um deinen Kram«, murmele ich, drehe mich um und schlage die Tür zu meinem Kabuff zu.
Ich bin zu klein und unbedeutend, um großmütig zu sein, bin niemand, der sich darüber hinwegsetzen kann, daß jemand die Post anderer Leute liest. Wie sehr ich es mir doch manchmal wünschte, mehr Einfühlungsvermögen zu haben und meine Gefängniswärter wie ein zweiter Nelson Mandela mit Würde begrüßen zu können. Ich bin kein außergewöhnlicher Mensch, besitze kein tiefes Mit- oder Ehrgefühl. Den Schmerz anderer aufnehmen: so etwas kann ich nicht. Aber sechs Jahre lang habe ich ein Kind so innig geliebt, daß ich mich zuweilen dem Gefühl der Zusammengehörigkeit – zu dem Kinder den Schlüssel zu besitzen scheinen – nahe glaubte. Diesem Gefühl, daß es zwischen Menschen eigentlich keinen Abstand gibt, und sollte es doch der Fall sein, dann nur für äußerst kurze Zeit. Doch ich bin niemals bis dahin vorgedrungen. Ohne Martin wurde ich wieder unsichtbar.
Irgendwie liegt Ljunggrens Enttäuschung schwerer in der Luft als sein Tabakrauch, ich habe sie seit langem gespürt. Und es ist noch schlimmer: Ich meine, Martins Enttäuschung zu spüren.