Читать книгу Insomnia : Savannas Geheimnis - Barbara Voors - Страница 6
2. Kapitel
ОглавлениеIch hatte einen Sohn, der breitete sich auf dem Boden aus wie ein Seestern und schrie, wenn ein Stiefel auf den falschen Fuß geriet. In den Nächten tue ich es ihm manchmal nach, um zu sehen, ob auch ich dazu fähig bin. Aber nie wird es wie bei ihm. Kein Gebrüll, keine grenzenlose Wut, bei der sich der Körper zum Bogen spannt, die Beine gegen Wände und Boden treten, und dann plötzlich – Frieden und ein Seufzen, das anzeigt: Jetzt ist es vorbei, o Mama. Wie herrlich das war. Er wurde sechs Jahre alt. Weiter als bis hierher werde ich nicht gehen. Auch ich möchte schreien, treten und weinen, wie er es getan hat. Warum weine ich nur stoßweise, voller Panik, tief in die aufgeschüttelten, kühlen Kissen? Wann ist mein Leben so geworden?
Von meinem Leben werde ich erzählen in diesen Nächten der fehlenden Ruhe und mit einem Überfluß an Zeit. Ich denke, ich werde die Mappe betiteln: »Sporadische Notizen, weit entfernt von jeder Dissertation«. Ich mache mir Sorgen wegen der Ordnung, es gibt hier keine. Statt mich meiner Dissertation zu widmen, die das Leben der Londoner Schriftstellerin und Journalistin Elizabeth Brown Anfang der siebziger Jahre untersuchen soll, ist es diese Angelegenheit, mit der ich mich beschäftige. Die Schlaflosigkeit ist die äußere Seite, sie wird anhalten. Doch jetzt versuche ich diese Nächte zu nutzen – anders ertrage ich sie nicht. Die schlimmste Konsequenz der Schlaflosigkeit? Die Unfähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Vielleicht sollte ich mit den Liebesbriefen beginnen. Ich weiß eigentlich nicht, ob ich es wage, sie Liebesbriefe zu nennen. Was mich am meisten verwundert, ist ihre bloße Existenz, daß jemand eine Frau wie mich tatsächlich gesehen hat. Ich bin jemand, der existiert, um nicht gesehen zu werden, die Frau auf dem dreizehnten Stuhl an der Tafel, dort an der hinteren Ecke, wo es immer still ist. Pferch die Unsichtbaren zusammen, und sie stören nicht. Ich bin eine Frau, die von den meisten nur mit wohlwollend verborgener Verachtung betrachtet wird: »Ach sie, nein, das ist die Sache nicht wert.« Sie meinen es nicht böse, es ist nur eine Feststellung – ich verstehe sie genau. Auf dem Markt da draußen herrscht eine so harte Konkurrenz um Aufmerksamkeit (kostspielige Operationen, Wirbel in den Massenmedien und die harterkämpfte Bikinilinie), wenn da jemand schon von Anfang an klarstellt, hier gibt es nichts zu holen, gehen die meisten dankbar weiter.
Die erfahrensten Gastgeberinnen haben mir verzweifelte Blicke zugeworfen, auf der Jagd nach einer Möglichkeit zum Gespräch. Doch die kläglichen Angebote, die ich zu machen versuche – ich bin nicht unzugänglich, das ist es nicht –, sind lange vor dem Hauptgericht schon abgehakt. Hinterher, vor dem Toilettenspiegel, verdrehe ich die Augen und sage: »Ich tue mein Bestes.« Aber es ist wohl nicht so. In sehr kleinen Gesellschaften kann ich möglicherweise einen Platz und auch Herzen einnehmen, in größeren bin ich ausgezählt, bevor überhaupt irgend etwas begonnen hat. So will ich es haben. Und für den, der mir trotzdem zu nahe kommt, habe ich tief drinnen einen giftigen Stachel aufbewahrt. Ich kenne meine eigenen diskreten, aber bösartigen Kommentare sehr wohl, die Schwächen anderer ebenso. Zu nahe heran, und ich beiße zu. Es ist nicht immer so gewesen – seit meinem elften Lebensjahr kann ich mich an nichts anderes erinnern.
Die Liebesbriefe, ja. Jemand hat mich unter diesem Schleier der Unsichtbarkeit gesehen. Oh, bittet mich nicht, mich selbst zu beschreiben, viel zu viele Jahre sind vergangen, seit eine Bewertung oder Einschätzung wichtig war. Irgendwann einmal, in einem anderen Leben, wird sich vielleicht jemand die Zeit für eine Beschreibung von mir nehmen. Aber die Liebesbriefe, so genannt in Ermangelung eines anderen Wortes, treffen immer wieder ein. Sie kommen per E-Mail mit merkwürdigen Absendern, solchen Gratisadressen, von denen man mehrere auf einmal haben kann. Der Stil aber ist immer derselbe. Manchmal heißt der Briefschreiber john.johnson@hotmail.com, ein andermal bengt.westersten und schließlich jill.stenberg. Ich weiß nicht, ob ich darin ein Zeichen von Humor sehen soll oder eher das einer Geschlechts- und Identitätskrise. Offensichtlich weiß der Schreiber mehr über mich als ich über ihn, was genau gesagt überhaupt nichts ist. Merkwürdigerweise scheint der Absender etwas über meine allzu langen Nächte zu wissen. Gestern ertönte wieder das leise Piepen vom Computer.
»Natürlich habe ich Dich gesehen. Das ist es doch wohl, was Du wolltest? Wollen Frauen das nicht immer? Die Art, wie Du Dich bewegst, Du hast genau gewußt, wie Du mich beeindrucken konntest. Das Haar schulterlang, die Grube unter dem Hals, wo ich meine Hand hinlegen möchte, Dein leicht gebogener Schwanenhals. So viele Jahre später, und jetzt: Nonchalance. Du schläfst nachts vielleicht unruhig, wenn überhaupt. So muß es sein. Aber spiel bitte nicht mit mir. Ich bin immer noch hier, direkt hinter Dir, damals und jetzt. Nein, Du brauchst Dich nicht umzudrehen. Es reicht, daß ich weiß, wo ich Dich habe.«
Ich glaube, es muß ein Mann sein. Seine Versuche, sinnliche Liebe auszudrücken, haben etwas Banales und Tastendes, und dann die Aufforderung, nicht mit ihm zu spielen (Mit seinen Gefühlen, seinen E-Mail-Adressen?). Dennoch verspüre ich eine gewisse Zärtlichkeit, dieses Gleiten über die Tastatur in der Hoffnung, daß es mich berührt. Was es ja auch tut. Mitteilungen mitten in der Nacht zu erhalten, wenn anscheinend nur die Zeitungsboten und ich in Bewegung sind, gibt Zuversicht. Doch verblüfft es mich, wie meine Inaktivität einen anderen Menschen in Gang gesetzt haben kann.
Ich sagte, ich wohne in einer viel zu großen Wohnung, uneinnehmbar wie eine Festung. Das stimmt nicht ganz. Sie ist zwar groß, aber besteht, wie gesagt, aus zwei Behausungen, mit einer gewaltigen Doppeltür dazwischen, die verbarrikadiert und verschlossen ist, meist von meiner Seite her, sehr selten auch von Sams Seite. Nach dem Tod unserer Eltern haben wir das L – oder den Winkelhaken, wie Martin sagte – geteilt, jeder bekam einen Schenkel, so daß in beiden Wohnungen Fenster auf den Innenhof führen, ohne daß wir einander sehen können, und ebenfalls zur anderen Seite, auf den Friedhof. Sam und Martin haben sich ausgemalt, eine Hängebrücke zu konstruieren, die die Wohnung zu einem Dreieck verbinden würde und auf der man im Sommer durch die Luft zueinander spazieren könnte. Sie wurde nie Wirklichkeit, zu meiner Erleichterung und der der Nachbarn. Doch einmal hörte ich, wie Martin Sam durch das Fenster zurief: »Fang auf!«
Und dann zweifaches Geschrei: ein fröhliches von Martin und ein entsetztes von Sam.
»Du willst es nicht wissen«, sagte Sam, er war bleich, als er mit Martin in den Armen zu mir hereinkam.
»Nein, ich glaube nicht.«
Das gelbe Haus, sagte Martin immer; es war das einzige Zuhause, das er kannte. Im Bus pflegte er Fremden zu berichten: »Ich wohne in dem gelben Haus!«
Er sagte es geradezu böse, so als hätte jemand seine Autorität bezweifelt.
»Dort?« versuchte einer und zeigte auf das nächstliegende gelbe Haus.
»Nein!« schrie Martin empört. »Zu Hause.«
Wir haben eine Schuld geerbt und eine Wohnung, behaupte ich immer. Die Wohnung ist wohl doch leichter zu verwalten. Die Schuld rührte daher, daß mein Vater Deutscher war. Er ist Kommunist gewesen und floh Mitte der dreißiger Jahre nach Schweden. Dort heiratete er meine schwedische Mutter und änderte schließlich seinen Namen in Elmbrandt – nach den Schrecken des Krieges und der Konzentrationslager war die Schande zu groß. Mein Vater lernte perfekt Schwedisch, wir wurden eine typische kleine schwedische Familie. Aber als mein Vater gestorben war, nahmen mein Bruder und ich wieder seinen Namen an: Brandt. Wir entschlossen uns, die Sache abzuschließen, die Wohnung zu tauschen, uns die Schuld vom Halse zu schaffen, einfach alles hinter uns zu lassen. Gut zehn Jahre sind vergangen; wir wohnen noch immer hier.
Hier in unserer gelben Festung können wir das Leben des anderen bis in alle Einzelheiten verfolgen. Wir sehen, wenn jemand übernachtet (bei mir nie, bei Sam immer) und wenn das Licht gelöscht wird.
Ich habe gesagt, nur die Zeitungsboten und ich seien nachts auf den Beinen. Auch das stimmt nicht ganz. Mein Bruder und die jeweilige Frau, die er bei sich wohnen läßt – Tage, Wochen und seltener Monate –, sind ebenfalls wach. Der Unterschied ist nur, daß sie all das tun, was mir die Doktoranden mit ihrem »Spät geworden, Savanna?« unterstellen. Sams Mangel an Schlaf hat nichts mit Schlaflosigkeit zu tun, allerdings weiß ich auch nicht, ob es sich um Liebe handelt. Während meines Lebens mit ihm, davon zehn Jahre in diesem gelben Haus, habe ich Block um Block vollgeschrieben: Maja hat angerufen, außerdem Sussie, Susanne (dieselbe Person?), Martina, und vergiß bitte nicht Anne-Charlotte. Wo kommen die Frauen her? Ich weiß es nicht. Aber alle finden sie meinen Bruder, oder vielleicht findet er sie, und dann beginnt das Liebeskarussell, von dem ich seit langem abgesprungen bin.
Nach aufreibenden Szenen und Tränen im Korridor stößt er die Doppeltür krachend auf, und damit wohnen wir wieder zusammen in der riesigen Wohnung. Er sieht unsäglich erleichtert aus.
»Alles ist also wieder wie vorher?« frage ich und blicke von der vierten Tasse Morgenkaffee auf.
Genau das sage ich immer, wenn die eben noch aktuelle Freundin gegangen ist.
»Genau wie vorher«, sagt er und stöbert in meinem Kühlschrank herum, um sich von dem zu bedienen, was ihm behagt.
Ich weiß nicht, wie man das Gefühl nennen soll, das zwischen Sam und mir besteht. Wir haben drei Personen zusammen beerdigt. Zuerst starb unsere Mutter 1981, viel zu früh, an Demenz, danach, 1986, unser Vater, an Kummer in tödlicher Kombination mit Schlaftabletten, und vor vier Jahren Martin. Wir wissen alles über Bestattungsinstitute, Kondolenzkarten, Todesanzeigen, Testamente, Kaffee mit Gebäck, Krankenhauscafeterias, die kleine gestreifte Figur vor dem Eisstand, die so naßgeregnet aussieht in dem obligatorischen, äußerst schlecht gepflegten Krankenhauspark, wo Angehörige »Ruhe« finden sollen. Nach Martin will ich nichts mehr davon wissen. Wir haben mehr geteilt als das, was zwei erwachsene Menschen, nicht zuletzt erwachsene Geschwister, teilen sollten, und es gibt Stunden, in denen wir finden, daß unsere Quote, falls es eine solche gibt, erfüllt ist. In solchen Fällen schließe ich die Doppeltür, in solchen öffnet sie Sam. Da ist er, der Unterschied zwischen uns.
Vielleicht ist unsere Liebe bedingungslos, vielleicht selbstverständlich oder einfach nur ungesund. Ich weiß es nicht; es gibt sonst niemanden, von dem ich mir vorstellen könnte, neben ihm zu leben.
»Wie stehts, Savanna?« fragt er und sieht so unendlich munter aus dort vor dem Kühlschrank, daß ich über ihn hinwegsehe.
»Ich schlafe nicht«, sage ich und ärgere mich über mein schamloses Klagen.
»Wer tut das schon.«
Ein schwaches Lächeln.
»Herzchen«, sagt er. »Herzchen.«
»Du auch.«
»Martin?«
Ich zeige auf die Brusttasche. Hole tief Luft. Er setzt sich mir gegenüber an den Küchentisch.
»Es geht nie vorbei.«
»Was soll ich tun?« frage ich mit gebrochener Stimme.
»Nichts. Deshalb bin ich ja hier.«
Er streckt die Hand über die Tischplatte und greift nach meiner. Es ist ungewöhnlich: Intimität zwischen uns. Ich glaube, ihm gefällt es; es ist lange her, daß mich jemand berühren durfte.
»Unterwegs zur Arbeit, oder?«
»Genau«, antwortet mein Bruder.
Sam kennt meine Grenzen besser als ich. Er blickt auf Martins Tür, deren Klebestreifen seit einigen Nächten ein bißchen zu häufig abgelöst wurde und nun nicht mehr richtig fest sitzt, dann schaut er mich an und zuletzt die geöffnete Doppeltür.
»Wir lassen sie eine Weile offenstehen, oder?«
»Wird wohl so sein.«
Er sieht mich flüchtig an und sagt nicht zum ersten Mal: »Warum können Frauen mich nicht so lieben, wie du es tust?«
»Weil dein Platz in meinem Leben selbstverständlich ist, umgekehrt genauso. Bei den Frauen, die du kennenlernst, ist es nicht dasselbe. Und du gibst ihnen auch keine Chance«, antworte ich und gähne.
Er schüttelt sich, wie eine Katze, die aus einem Unwetter ins Haus gekommen ist und Nässe und Unbehagen hinter sich lassen will.
»Ich fühle mich von ihnen überwacht«, sagt er fröstelnd. »Es ist, als würden sie an mir herumwienern, als versuchten sie mich umzumodeln, als verurteilten sie mich ...«
Das habe ich schon früher gehört. Entzücken, Erregung, Enthusiasmus, Verwirrung, Irritation, Frustration, Bruch und schließlich: Analyse.
»Sam, bitte ...«
»Entschuldige. Ich vergesse so schnell.«
»Ist nicht schlimm.«
»Und wenn Susanne anruft?«
»Dann bist du lange unterwegs.«
Er nickt.
»Du verurteilst mich also nicht?«
»Warum sollte ich das tun?«
»Nein, warum solltest du?« sagt er zufrieden.
Mein Bruder ist erstaunlich. Er ist einer von den wenigen, die von der Liebe nicht zerschmettert werden wie wir anderen. Er ist nur leicht von ihr berührt, hat um so mehr Spaß, genießt wirklich – doch zerschmettert? Niemals. Falsch, einmal. Martin. Sonst: »Jetzt machen wir wieder die Doppeltür auf, Savanna.« Gemeint ist: »Endlich wieder allein.« Daß ich da bin, betrachtet er als Bonus. Die Schwester, die ihn in Frieden läßt, ihn vorbehaltlos liebt. Seltene Eigenschaften in unserer Welt.
Ich weiß, was man glauben könnte. Daß es der Verlust von Martin ist, der mich wach hält. Ich denke nicht, daß es so ist. Jetzt ist das bald vier Jahre her. Herbst 1993. Als wir auch dieses Begräbnis hinter uns hatten, fiel ich in abgrundtiefen Schlaf, zehn Stunden jede Nacht, was vor genau siebenundsechzig Nächten sein Ende fand. Ich erinnere mich, daß mich jemand fragte: »Schläfst du, Savanna?«
»Wie betäubt.«
So war es, ich schlief noch fester als in meinem elften Jahr. Wie betäubt.
»Was für ein Glück«, sagte die Person mit Wärme. »Was für ein unfaßbares Glück du hast.«
Ich glaube, ich habe genickt, verstand damals nicht, daß abgrundtiefer Schlaf etwas Beneidenswertes ist. Nicht mitten in der Nacht hochzuschrecken und ständig den Reihen kleiner Schuhe neben meinen ausweichen zu müssen. Glück? Jetzt verstehe ich, was die Person damals meinte, ich hatte keine Ahnung, wie lang Nächte werden können. Aber vielleicht wußte mein Körper es. Vielleicht weiß ein Körper genau, wieviel die Seele in ihm ertragen kann.
Martin ist also nicht der Grund dafür, daß ich nicht schlafe. Es ist auch nicht die Sorge um meinen Bruder und seine – wie nennt man das? – Frauengeschichten. Er landet stets wie eine Katze auf allen vieren, und genau so will er sein Leben haben. Direkt neben meinem.
»Wollen wir wieder eine Anzeige wegen dem Wohnungstausch aufgeben?« rufe ich Sam hinterher, als er zurück in seinen Flügel geht.
Wir betreiben es nur halbherzig, seit Jahren beschäftigen wir uns damit. Einen Moment Schweigen, dann taucht er hinter der Tür wieder auf.
»Wer soll dann die Verplombung überwachen?«
Wir haben drei Dinge gemeinsam. Sie binden uns fester aneinander, als irgendeine andere vorstellbare Beziehung das könnte: unsere Begräbnisse, dann, daß keiner den anderen je verurteilen wird, und schließlich eine Geschwisterliebe, die bedingungslose Nähe und grenzenlose Ruhe verspricht.