Читать книгу Insomnia : Savannas Geheimnis - Barbara Voors - Страница 5
1. Kapitel
ОглавлениеIch habe aufgehört zu schlafen. Es gibt sicher tausenderlei Arten einzuschlafen, doch ich beherrsche keine einzige.
Früher einmal schlief ich abgrundtief und ohne jede Besinnung. Als ich elf war, sind meine Nächte ein Dunkel geworden, aus dem mich nur ein sehr entschlossener Mensch hat hochreißen können. Bis vor genau vierundsechzig Tagen. Ich schlafe nicht. Aber denke um so mehr. Denken ist vielleicht zuviel gesagt, ich weiß nicht, wie man diese Nächte bezeichnen soll, angefüllt mit ziellosem Umherwandern in einer Riesenwohnung, allzu nahe bei einem Bruder, den ich liebe und zuweilen aus meinem Leben fort wünsche. Heute ist die Wohnung entschieden zu groß, denkt man an das Kind, das sie einst mit seinen Tretautos, mit Geschrei und unerschütterlicher Freude erfüllt hat. Bei meinen nächtlichen Wanderungen bleibe ich manchmal vor Martins Zimmer stehen – das ist der letzte Fixpunkt, wenn Brotbacken, Kühlschrankabtauen und Zehennägelschneiden erledigt sind –, und jedesmal löse ich ganz vorsichtig ein Stück des Klebestreifens, den mein Bruder über der Türklinke angebracht hat: Verplombt.
»Verplombt« meint »Nicht berühren, nicht reingehen, bitte schlaf jetzt, Savanna«, so sagt mein Bruder Sam. »Schlaf einfach.«
Aber mein Bruder weiß nichts von Schlaflosigkeit, nichts von den Gedanken, die einen Menschen zwischen drei und fünf Uhr morgens beschäftigen können, in den gefährlichen Stunden, in denen der Sonnenaufgang unmöglich erscheint und das Einschlafen ebenso. Wie auch ich es zuvor nicht gewußt habe. Ist man zu diesem Zeitpunkt noch immer wach, kann man sich ebensogut ankleiden, Kaffee trinken und danach, wie zur Täuschung, alles wieder ausziehen und vorsichtig flüstern, obwohl niemand da ist: »Gute Nacht.«
Manchmal schlafe ich ein. Manchmal schlafe ich überhaupt nicht ein. Manchmal liege ich in einer Art Dämmerzustand und sinne unergründlichen Dingen nach – niemals sind sie interessant. Wenn ich alle Milchpackungen im Laden auf den Kopf stellen würde, wieviel Zeit brauchte es? (Eine Stunde in der Wirklichkeit und vier Stunden verpaßten Schlaf.) Wenn ich versuchen würde, mich an alle gelesenen Romane zu erinnern, deren Titel mit dem Buchstaben P beginnen? Wenn ich völlig still liege, einfach unbeweglich? Wenn ich nur ... Schlaflosigkeit, ja. Nicht viel weiß ich über die Ursachen, um so mehr über ihre Symptome und Konsequenzen.
Es ist ja wohl klar, daß ich weiß, warum ich nicht schlafe. Ich habe davon gesprochen, wie sich die Sache äußert, ohne auf die Ursachen einzugehen. Aber natürlich weiß ich Bescheid! Doch nehmen mich die Symptome vorläufig so sehr gefangen, daß ich nicht recht Zeit habe, mich mit den Ursachen zu beschäftigen. Man muß wohl sagen, daß ich im Reich der Details und des Auflistens steckengeblieben bin: heute nacht zwei Stunden Schlaf. Der Rest verging damit, den Kühlschrank aufzuräumen, mir wegen der bevorstehenden zwanzig Sommerurlaube Sorgen zu machen, und endete mit einer leichteren Konversation auf portugiesisch zwischen mir und meinem Rekorder. Danach eine Stille so abgrundtief, daß Atem und Herzschlag störend erschienen, mörderisch laut in dem kleinen Teil des Universums, das ich darstelle. Natürlich weiß ich, warum ich nicht schlafe. Laßt mich das Ganze nur erst auflisten. Ordner und Verzeichnisse, das bin ich.
Zuerst ein paar sporadische Überschriften: Ursache der Schlaflosigkeit: Unentdeckt. Plan: Sicher, aber weiss noch nicht. Zeit: Frühsommer 1997. Danach der Text: Savanna Brandt, fünfunddreißig Jahre alt. Hatte einmal ein Kind. Ein Satz, auf den ich nicht näher eingehen will. Arbeite halbtags in der Ministerialbibliothek, ebenfalls halbtags als Doktorand in einem Stockholmer Institut – manche dort halten mich für »grandios« (ein anspornender, doch immer sorgenvoller Professor), andere für chaotisch und pathetisch (nicht gleichgesinnte Doktoranden). Bewohne eine unverhältnismäßig große Wohnung mit meinem älteren Bruder Sam, diese ist in zwei Hälften geteilt durch eine Doppeltür, die mal von mir, mal von ihm geöffnet wird – immer abhängig von den Lebensumständen. Wir wohnen ganz oben in dem gelben Haus, das auf den Friedhof hinausgeht, in Södermalm, dem inzwischen gefragten Teil von Stockholm. Machen wir das Fenster auf, können wir uns über die Gräber zuwinken, falls das unsere Art wäre. Von unseren Eltern haben mein Bruder und ich eine riesige Wohnung und eine historische Schuld geerbt. Ich weiß nicht, was schwieriger zu verwalten ist.
Warum schlafe ich nicht? Man kann die Sache auch umdrehen: Warum schlafen so viele andere? Nacht für Nacht, eigentlich furchtbar eintönig. Mehr Menschen sollten erfahren, was man aus einer Nacht wirklich machen kann. Ob es konstruktiv ist, läßt sich noch nicht sagen, ich selbst bin erst bei der vierundsechzigsten Nacht. Schlaflosigkeit -Insomnia. Ich habe so viel zu erzählen, genau das scheint mein Problem zu sein. Dieser vollgestopfte Kopf, die Gedanken, die sich durch das Gehirn bewegen und meine Ruhe in kleine spitze Stücke zertrennen. Der Körper wird ein Kraftfeld, in dem sich Ruhe zuallerletzt einfinden kann. Viel zu erzählen, am Morgen erinnere ich mich an keinen einzigen Gedanken. Nur die Symptome habe ich nicht vergessen: das Schwitzen, die langsam, aber methodisch zunehmende Panik, die Kurzatmigkeit, das Herz, das sich nach oben verschoben zu haben scheint, weil es dicht am Ohr so schonungslos hart schlägt. Heute nacht: drei Stunden Schlaf.
Im Institut lacht man, wenn man mich sieht.
»Spät geworden, Savanna?« fragen sie und lächeln vielsagend.
Ich reiße mich zusammen, das wird von einem modernen Menschen verlangt.
»Ja klar!«
Sie glauben, ich arbeite hart, feiere vielleicht oder schlafe mit jemandem »ganze Nächte hindurch«.
»Spät geworden«, nicke ich, als steckte Stolz dahinter und auch ein bißchen Lässigkeit: Ha, wen kümmert schon der Schlaf!
Ansonsten sagt im Institut niemand sehr viel. Wir Doktoranden müssen allein zurechtkommen. Aber manchmal findet Professor Ljunggren, daß ich aussehe, als sei ich erkältet, fahl im Gesicht, als hätte ich mich selbst zu Hause vergessen.
»Ich wünschte, ich wäre zu Hause und könnte schlafen«, sage ich wahrheitsgemäß, worauf er lacht.
»Ich weiß, es ist wahnsinnig schwer, morgens aufzustehen.«
Überhaupt nicht, ich war schon auf, möchte ich sagen. Oder: Ich hätte nichts dagegen, wenn es mir schwerfiele, wach zu werden, denn das würde bedeuten, ich hätte wirklich geschlafen. Aber ich fülle nur meine Tasse am Fünfkronenautomaten, den sich das Institut gegönnt hat und der uns mit seiner Plörre langsam vergiftet. Gehe in mein mit Ordnern vollgestopftes Kabuff. Ich bin dicht davor, zu einer Person zu werden, die sich in ihrer eigenen Verzweiflung wälzt. So dicht davor, daß ich mein übernächtigtes Gesicht an den Tweed des Professors presse, und das erschreckt mich und bringt mich zum Schweigen. Noch immer. Selbstmitleid serviert man nicht zum Kaffee, ich jedenfalls nicht, nicht einmal zu einem solchen, den der Automat zustande bringt. Ich spreche nicht von meinen nächtlichen Eskapaden, weil ich mich einerseits ihrer schäme (Mein Gott, man braucht sich doch nur hinzulegen!) und sie mich andrerseits erschrecken (Was will die Schlaflosigkeit von mir?). Wenn ich nicht zulasse, daß die Nächte auch über meine Tage Macht bekommen, habe ich vielleicht endlich Ruhe. Eine vergebliche Hoffnung, aber ich hege und pflege sie.
Von Martins Tod kann ich nicht erzählen. An wen ich mich in diesen Nächten hingegen mit erstaunlicher Klarheit erinnere, das ist die Frau, die ich eigentlich nie kennengelernt habe. Es ist jetzt bald vierundzwanzig Jahre her, seit sie gestorben ist. Ich erinnere mich, wie ich als Elfjährige auf der Treppe der Pension in Roslagen saß, wo meine Eltern und ich übernachtet haben, auf dem Weg zu einem Segellager, von dem wir meinen Bruder Sam abholen wollten. Schon früh am Morgen war es drückend heiß, und ich saß barfuß dort draußen und warf kleine Steine auf den Weg. Man trug die Frau auf einer Bahre heraus. Diese war mit einem Laken überdeckt, um die Tote vor den neugierigen Blicken der Lebenden zu schützen. Nur ihre Konturen waren durch das Baumwollgewebe sichtbar: Knie, Brust, Nase und Stirn. Ein paar Haarsträhnen hingen heraus, sie waren rotbraun; und das war alles, was ich von der Frau zu sehen bekam. Eigentlich gab es nicht viele Neugierige: die Pensionsinhaber, eine Familie mit Kindern, meine Eltern und mich. Und dann natürlich einige Polizisten, sie liefen schwitzend in der Hitze umher, mit müden Blicken, die nicht mehr neugierig waren auf Blut wie die von uns anderen. Ich weiß noch, wie einer von ihnen, ein dicker, sommersprossiger, mürrischer Mann, über die Frau auf der Bahre sagte: »Diese ewigen Familienstreitigkeiten ...«
Ich warf einen Stein und fiel zusammen mit ihm hinunter. Mutter trug mich in die Kühle hinein – »Was macht sie hier draußen, sie muß das doch nicht sehen!« –, legte ihre Hand auf meine Stirn und strich mir das Haar aus dem Gesicht, so wie es nur Mütter tun, so wie ich wünschte, daß sie es auch jetzt in den Nächten für mich tun könnte.
»Savanna«, sagte sie sanft. »Liebling, du bist nur bewußtlos geworden. Es ist nichts Schlimmes.«
»Die Hitze!« rief jemand und kam mit eiskaltem Saft über die knarrenden Dielen geeilt.
Ich erinnere mich an die Kopfschmerzen, die einsetzten, als das Glas halb geleert war.
»Der Schock«, sagte ein anderer, und dann murmelnde Zustimmung – schlechtes Gewissen gepaart mit Erleichterung, weil ich aufgewacht war.
Birnensaft gegen den Schock? In der Verwirrung bekam ich zwei Gläser voll.
Ein Mann betrat den Raum, füllte ihn aus und übernahm ihn, ohne daß jemand wußte, wie es zugegangen war. Doch schon damals begriff ich, was es war: der Blick des Mannes, seine Ausstrahlung. Er war jemand, dem man alles erzählen, dem man vertrauen wollte. Seine weiche Stimme ertönte über mir, meine Mutter stimmte ein, und es klang wie Melodien, die mich erfaßten.
»Der Polizist will dich etwas fragen, nach dem, was heute nacht passiert ist«, sagte Mutter vorsichtig und schüttelte mich ein wenig.
Ich bewegte abwehrend den Kopf, bekam Schüttelfrost, mir klapperten die Zähne, ich bettelte darum, in ihren Armen bleiben zu dürfen, wollte mich nicht hinstellen, nie mehr, ach bitte.
Meine Mutter antwortete für mich: »Du hast also nichts gesehen?«
Ich nickte krampfhaft. Der Mann, der Polizist in einem oben aufgeknöpften Sommerhemd, beugte sich über mich.
»Kannst du uns mit irgend etwas helfen? Bei dem, was heute nacht passiert ist?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Bist du sicher? Hast du überhaupt nichts gesehen? Nichts gehört?«
Wieder nein.
»Der Schock«, sagte jemand und holte noch mehr Saft.
»Die Hitze«, sagte ein anderer.
»Ich schlafe wie betäubt«, hörte ich mich selbst flüstern, und der Mann zuckte zusammen, sah mich an, als wollte er sagen: Sieh an, gratuliere.
Dann wiederholte er: »Wie betäubt.«
»Sie melden sich wohl, wenn Ihnen etwas einfallen sollte«, sagte er schließlich, richtete sich auf und ließ mich in den Armen meiner Mutter zurück.
Meine Mutter erhielt eine Visitenkarte: David Fawlkner, Kriminalkommissar.
Ich besitze sie noch immer, manchmal liegt sie unter meinem Kopfkissen, wenn ich endlich einschlafe. Das ist der letzte Trick, das abschließende Ritual, mit dem ich meinen Körper bitte, das Selbstverständliche zu tun: zur Ruhe zu kommen. Schlafe ich auch dann nicht ein, kann ich ebensogut aufstehen und einen neuen Tag beginnen, ohne daß der vorige eigentlich abgeschlossen ist. Medikamente? Davon habe ich genug bekommen wegen Martin.
Dafür habe ich mir eine Gewohnheit zugelegt, oder besser, eine schlechte Angewohnheit. Ich warte auf Jonas, der die Zeitung austrägt. Manchmal setze ich mich ins Treppenhaus, manchmal in die Diele. Ich habe einen kleinen Klapphocker, den ich aufstelle, genau wie im Museum.
»Du bist immer vor mir da«, sagt er, wenn er schließlich erscheint. »Wie machst du das?«
»Eisernes Training.«
»Welche Nacht?«
»Nummer fünfundsechzig«, sage ich. »Fünfundsechzig«, wiederhole ich, wie um zu betonen, daß dieses Zählen bei dem Ganzen ein System erkennen läßt, daß es zu kontrollieren, einzuordnen, zu meistern ist und nichts mit der Panik zu tun hat, die sich vor dem Eintreffen des Zeitungsboten bemerkbar macht.
Aber er weiß es genausogut wie ich.
»Manchmal ist das Leben angenehmer als üblich, oder?« sagt er sanft.
»Sicher«, erwidere ich, falte die Zeitung mit der linken Hand sauber zusammen und lasse sie eine halbe Drehung rotieren, ein Trick, den ich in der siebenundzwanzigsten Nacht von ihm gelernt habe.
Er küßt mich auf die Wange. Es ist die Schutzlosigkeit der Nächte, die uns das erlaubt. Diese zögernde Nähe zu anderen hätte vor nur fünfundsechzig Nächten niemals existiert. Zu der Zeit glaubte ich noch immer, das Leben ließe sich kontrollieren, wenn auch mit einiger Mühe und nur mit festen Gewohnheiten. Die Schlaflosigkeit hat mich transparent werden lassen, als liefe ich im Nachthemd durch die Stadt, barfuß und dünnhäutig, was jeder, der es nur wollte, leicht feststellen konnte.
»Danke«, flüstere ich mit belegter Stimme.
»War doch nichts weiter, Savanna. Was tu ich nicht alles für eine Kundin, die mir nachts einen Blick und manchmal was Frischgebackenes gönnt.«
»Das ist nur, weil die anderen so tief schlafen.«
»Was du auch tun solltest.«
»Ich ziehe vor, es zu lassen«, versuche ich.
Er schüttelt den Kopf, wie um zu sagen: So nicht.
»Zeit für den Kaffee«, sage ich und schließe die Tür hinter mir – genug an Intimität, zurück ins Anonyme.