Читать книгу Vom Rauschen und Rumoren der Welt - Belinda Cannone - Страница 11

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Es ist schwierig, wirklich zu verstehen, was Verstehen heißt, warum er sein Alleinsein jetzt so gut hinnimmt, wo doch über Jahre hinweg jeder Gedanke, jedes Begehren von Zélie besetzt – überschwemmt – war. Jeden Abend kommt er allein nach Hause und ist kaum betrübt. Hat er sich denn nicht daran gewöhnt (er, der sich für einen großen Romantiker hielt!), ohne Liebe zu leben? Er erinnert sich – aber das ist eine Vorstellung ohne Emotion, ohne Substanz –, wie er sich, sobald sie sich ein wenig entfernte, sobald sein Körper nicht mehr befriedigt wurde, nach ihr sehnte. Seltsam, wie sein Begehren, das er für die wichtigste Sache in seinem Leben hielt, sich gelegt hat. Heute, da er allein ist – da es nur einen Austausch guter Dienstleistungen zwischen ihm und Clotilde gibt und weiter nichts –, weiß er – rein mental –, dass die Liebe mit Zélie sein großes Abenteuer war, die Leidenschaft eines jeden Moments. Und doch beschwert sich nichts in ihm über die Verdrießlichkeit seines Gefühlslebens. Und seines Sinneslebens.

Zélie! Elisabeth mit echtem Namen, aber sie fand Zélie weniger banal. Wie prätentiös.

Wenn er es recht überlegt, hat die Reisgeschichte eine gewisse Bedeutung. Für die Trennung. Die unterschwellige Reislogik. Dass er immer gerne welchen gegessen hat, war kein Problem. Aber warum hat er immer zu viel davon gekocht? Sie sagte, Reis würde sich nicht halten, selbst in Ländern, in denen er das Hauptnahrungsmittel sei und man mit der Nahrung spare, wüssten die Einheimischen, dass man gekochten Reis nicht aufbewahren dürfe. Sie sagte Warum kochst du denn nicht genau so viel, wie du dann isst, warum diese … ach, diese … Manie, zu viel zu kochen? Hast du Angst, es wäre nicht genug? Und dann? Würdest du mehr Käse essen! Ach! Was für eine absurde Angst. Sie selbst hatte am Ende gar keinen mehr gegessen, frisch gekocht oder nicht.

Sie hätte darüber lachen können. Die Verschwendung (am Ende warf er welchen weg) war schließlich minimal und seine Manie harmlos. Also? Warum diese Verärgerung? Wegen der irrationalen Logik. Zu viel Reis zu kochen entspringt bei ihm einer persönlichen Logik, einer sehr stringenten und sehr persönlichen, also einer von denen, die man mit keinem teilt und die, weil sie einem verborgenen Mechanismus gehorchen, eine heilende und besänftigende Wirkung haben – die aber jedem anderen absurd vorkommen. Zélie fand das absurd. Er hätte übrigens größte Schwierigkeiten, sich selbst über die Gründe für sein Verhalten klarzuwerden: Wie jede einer persönlichen Logik folgende Absurdität ist diese (das spürt er unbestimmt) für sein psychisches Gleichgewicht notwendig. Kurz, sie haben sich wegen Reis getrennt – aber das ist natürlich ein Bild. Sie haben sich getrennt, weil die irrationale Logik des einen am Ende für den anderen meist unerträglich ist, weil der andere verbittert ist, uns Tag für Tag auf schrecklich vorhersehbare Weise, an derselben Stelle versinken zu sehen. Sie sah ihn zu viel Reis ins Wasser schütten, und schon schrillte ihr Inneres vor Gereiztheit, ja, genau, es ist die vorhersehbare Wiederholung der irrationalen Geste, die manche alten Paare in den Wahnsinn treibt, so sehr sie sich auch lieben mögen. Er erinnert sich eines Wortwechsels, den er irgendwo aufgeschnappt hat: Aber nein, wir verpassen den Zug nicht – Lass uns trotzdem schon losgehen, bitte, was stört’s dich, wenn wir zehn Minuten zu früh sind, das ist doch kein Beinbruch – Warum sollte ich zehn Minuten länger in einem dreckigen Bahnhof herumstehen, nur weil du von Geburt an ein Angsthase bist? – Ja und, ist das so schlimm? – Nein, aber ich ertrag das nicht, du könntest dich zusammenreißen. Sich zusammenreißen. Eben nicht, man muss einfach zu viel Reis kochen und zu früh am Bahnhof sein. Heute denkt er, dass Liebe zum Großteil aus Nachsicht besteht – nein, eher, dass die wesentliche Wirkung von Liebe Nachsicht ist: Oh, Liebling (sagt die Geliebte und schmiegt sich mit einem entzückenden Lächeln in seine Arme), du hast schon wieder zu viel Reis gekocht

Gerade will er aus dem Auto steigen, um ohne zu trödeln ins Haus zu gehen (ein großspuriges Gewitter steht bevor), als mit einem dumpfem Knall ein schwerer Stoff auf der Windschutzscheibe landet und ihm die Sicht versperrt.

Während sein Nervensystem sich mit Mühe von der heftigen Adrenalinausschüttung erholt, erkennt er beim Öffnen der Autotür eine dunkle Gestalt, die vor dem Haus sitzt. Man mag ein ruhiger Mensch sein (sagt er sich, um die Erholung zu beschleunigen), aber manchmal zwinkert dir die Hölle zu (Westernsprache).

— Das ist mein Mantel.

— Wenn dem so ist, gebe ich Ihnen das Teil zurück, sagt Jodel und schnappt sich den unappetitlichen Stofffetzen.

— Es wäre mir ein Vergnügen.

Starker russischer Akzent. Der Mann hat eine Bassstimme, sehr tief, sehr kaputt, angenehm fürs Ohr trotz der etwas alkoholschweren Zunge und der unheimlichen Situation. Kurzes Schweigen. Ein leichtes Quietschen an seiner Linken. Ihn fragen, wo sein Pferd ist? Oder sich beschweren, dass er auf seinen Stufen sitzt – nein, gegenüber einem Höllenreiter wäre das doch sehr spießig.

— Wohnst du hier? (Jodel nickt.) Ich brauche einen Unterschlupf.

— Sie sind ganz schön direkt.

— Direkt?

— Grob.

— Das Gewitter, das da kommt, wird kein Trelala.

Der Ton ist rau, aber nicht aggressiv.

— Tralala. Man sagt Tralala. Warum haben Sie Ihren Mantel geworfen?

— Ich wollte nicht, dass du Angst bekommst, wenn du mich vor deinem Haus siehst.

Jodel stößt ein leises Lachen aus: Sehr gelungen. Eine absolut beruhigende Art, sich anzukündigen.

Der Mann lacht ebenfalls: Ha, ich bin keiner mit guten Manieren. Hör zu, ich brauche einen Unterschlupf, ich muss die Stadt erreichen, aber jetzt ist es zu spät, gleich bricht das Gewitter aus, lass mich in deiner Garage schlafen.

Es ist blöd, aber weil er sich den ganzen Tag lang Stimmen anhört, vertraut er schließlich seiner Intuition: Die Stimme hier offenbart, dass der Mann nicht gefährlich ist. Und sein Akzent ist eine Wonne.

— Gut, kommen Sie rein, was trinken.

Also, das ist eine Dummheit. Der Typ wirkt schon ordentlich alkoholisiert. Zu spät.

— Sagt man wirklich Tralala? Ich mag das Wort sehr. Es ist ein bisschen lächerlich, oder?

— Sicher. Ich bin es gewöhnt.

— Regnet es hier immer so?

— Nein. Das ist ungewöhnlich für die Zeit. Vielleicht geht da ja was kaputt.

Bei Licht betrachtet hat er nichts Dreckiges. Eher elegant sogar, auf seine Art. Über beeindruckenden Wangenknochen tief sitzende, sehr schmale blaue Augen, die schwer zu fixieren sind – zu durchscheinend. Man erahnt einen schmalen und muskulösen Körper. Der Gürtel hält die etwas zu weite Hose. Fett am Bauch ist was für Ingenieure.

— Kommen Sie von weit her?

Von da an verblüfft ihn der Strudel des Gesprächs. Morgen wird ihm sicher alles in zusammenhanglosen Fetzen wieder einfallen. Der Mann kommt von weit her, aus Russland, über die Ukraine, Polen, Deutschland, Straßburg, Paris, er hat den Kontinent durchquert, er will nach Ulan-Bator – Du hast nicht gerade den kürzesten Weg genommen! – Nein. Er macht einen Umweg über Europa, um Chaos zu stiften. Aha. Warum Ulan-Bator? Er glaubt, dass er sich dort, wo seine Urgroßeltern lebten, ausruhen kann, dort ist es so anders als hier, dass er endlich an etwas anderes denken kann. Chaos? Ja, davon wird er ihm vielleicht später erzählen. Wiegt er sich nicht in Illusionen, wenn er glaubt, in Ulan Bator sei alles anders als hier? – Vielleicht, aber hast du schon mal in einer Jurte gelebt? – Nein – Na, dann stell dir das mal vor – Schwierig – Siehst du, ist zwangsläufig was anderes. Jodel bietet ihm ein Glas Wein an. Er hört die ganze Zeit ein leises Quietschen, das aus seiner linken Tasche kommt, und ein Kollern verrät ihm, dass der Magen des Besuchers leer ist. Essen? Er kann Reis kochen. Warum nicht. Leben dort alle in Jurten? Nein, immer weniger, die Sowjets haben Häuser gebaut, aber die Mongolen sind traditionell Viehhalter, also Nomaden, und außerdem gibt es noch Tausende Pferde (aha! eine Pferdegeschichte, hatte Jodel doch geahnt). Er spricht wirklich ein ausgezeichnetes Französisch. Ja, in Russland kennt man sich mit Sprachunterricht aus, und außerdem hat er sehr ernsthaft gelernt: Früher war Frankreich für ihn wie Ulan-Bator, dieselbe Sehnsucht.

— Wenn du das gewaltige Reiterstandbild von Dschingis Khan zu Pferde siehst, hast du den Eindruck, dass seine Füße die Erde berühren würden, sobald er die Beine streckt. Es sind sehr kleine Pferde, und trotzdem haben sie mit ihnen die Kontinente überschwemmt.

— Hast du die Statue gesehen?

— Nein. Fotos.

Er redet weiter: Kleines Land, aber stell dir mal vor, das Changai-Gebirge, die Wüste Gobi! – Nein, das kann ich mir nicht richtig vorstellen. – Leider haben sie bald alle Strom, aber das kann man ihnen schlecht vorwerfen, was? Seine durchscheinenden Augen versprühen glühende Funken. Er esse wenig, denn er zwinge sich, Maß zu halten, erklärt er, um schwierige Phasen besser zu überstehen. (Natürlich bleibt ganz viel Reis übrig.) Er sagt, die Mongolei ähnele einer stehenden Scheibe Wassermelone. Oben drüber Russland, der Baikalsee, Sibirien, und darunter China. Und alle haben sie irgendwann genervt. – Eine gerechte Umkehrung der Dinge, oder? Ich glaube mich zu erinnern, dass die Mongolen die größten Eroberer des Mittelalters waren. – Ja, einverstanden, aber sie sind nicht mal drei Millionen, weißt du, weniger als ein Einwohner pro Quadratkilometer, stell dir vor, wie du da atmen kannst, kann ich mir noch Wein nehmen? Nein, kein Maßhalten beim Alkohol, er kaufe nie welchen, nutze aber die Gelegenheit, sobald es welchen gebe. Da habe er sich noch nie beschränken können, und außerdem trinke man dort, wo er herkomme, solange der Vorrat reicht — das ist Tradition. Außerdem hindere Alkohol einen am Denken, das sei also von Zeit zu Zeit ganz gut.

— Warum die Wut, fragst du? Wegen der Amerikaner. Ihr hier, ihr Bewohner der Reichenwelt, merkt das nicht. Das sind Raubtiere. Sie fressen alles, alle Kleinen um sie rum, sie verachten uns alle, ihr merkt das hier nicht, sie haben die sogenannte ukrainische Revolution organisiert, sie haben einen proamerikanischen Präsidenten in Georgien eingesetzt, und jetzt installieren sie Raketenabwehrsysteme in den Ländern um uns herum, sie versuchen, uns im kleinen Russland einzuschließen. Sie glauben, sie hätten den Kalten Krieg gewonnen, aber wir haben unser letztes Wort noch nicht gesprochen. Russland ist zu mächtig, um geschluckt zu werden. Russland ist ein riesiges Land, ein Land von Wölfen, so wie ich, und wir lassen uns nicht von fettleibigen, dummen Konsumenten reinlegen. Wir Orientalen werden das wieder in die Hand nehmen.

— Orientalen?

— Na klar, siehst du das nicht, die Russen verbünden sich mit den aufsteigenden Ländern, China, Indien. Vor kurzem hat China gezeigt, dass es fähig ist, das Computersystem des Pentagons und mehrerer Länder in Europa zu hacken. Die Macht verlagert sich, sie wandert nach Osten. Vergiss nicht, was ich dir sage: 2025 ist Shanghai die Hauptstadt der Welt, und ich bin in Ulan-Bator.

Seine Heftigkeit beunruhigt Jodel (ein ruhiger Mann ist er, Ingenieur für Klangphysik, ein so friedlicher Mensch). Er bietet ihm nochmal Reis an in der Hoffnung, ihn zu beruhigen, indem er ihn auf andere Gedanken bringt. Der Mann sagt ihm, dass er viel zu viel gekocht hat. – Also wirklich! Du isst ja auch nichts. Der Besucher der Apokalypse verheißt noch den Untergang Amerikas, aber jetzt, wo seine Erschöpfung größer ist als die Faszination, hört Jodel nichts mehr, er muss schlafen. Er bietet ihm das Sofa statt der Garage an.

— Ich stehe sehr früh auf, erklärt er.

— Musst du arbeiten gehen?

— Ja.

— Zum Glück hast du mich nicht draußen gelassen. Hast du gesehen, was da runterkommt? Was hast du denn für eine Arbeit?

— Zu umständlich zu erklären. Ich muss abwaschen und schlafen.

— Ja, Entschuldigung. Ich habe keine festen Zeiten. Kannst du nicht morgen abwaschen?

— Es stört mich, Unordnung zu hinterlassen.

— Setzt du mich auf der Straße in die Stadt ab, wenn du fährst?

— Ich hoffe, du schläfst gut auf dem Sofa.

Der Mann lacht spöttisch.

Vom Rauschen und Rumoren der Welt

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