Читать книгу Vom Rauschen und Rumoren der Welt - Belinda Cannone - Страница 14

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Der Himmel ist heute Abend endlich wolkenlos, und er erkennt schon von weitem die Gestalt, die ihn vor seiner Haustür erwartet. Seine erste Regung (Schwanzflossenklatschen eines silbrigen Fischs, der entwischt) ist große Freude.

— Grüß dich, Bulle.

Jodel hört in der rechten Tasche des Besuchers das Prickeln eines Getränks mit Kohlensäure und in der linken das Quietschen. An der Mauerecke verstummt eine Grille.

— Grüß dich, Mongole. Ich heiße Jodel.

— Nenn mich Ulan.

Während Jodel ihm so selbstverständlich die Tür öffnet, als wären sie verabredet – Ich glaube, du hast noch ein bisschen Reis –, sagt er, er fühle sich eigentlich nicht wie ein Bulle, so wie er es versteht, und übrigens sei er auch keiner, er sei Ingenieur. Aber es wäre irgendwie lächerlich, ihm die Feinheiten der Verwaltungskategorien zu erklären.

— Du bist doch wohl nicht zu Fuß aus der Stadt zurückgekommen?

Er wärmt den Reis auf (kleiner rachsüchtiger Gedanke an Zélie) und erklärt ihm den Fall Irène Gaspard und die Arbeit, die er macht. Hält Ulan ihn für einen Knecht des amerikanischen Imperialismus, weil er hilft, die Entführung eines Kindes aufzuklären?

— Du stellst die Frage falsch. Das Problem ist nicht, was man konkret macht, sondern ob man drin ist oder nicht. Ich bin draußen und versuche, drinnen Chaos zu stiften.

Jodel lacht. Das ist etwas pauschal. Aber in Zeiten, wo sich in jedem Büro, an jeder Straßenecke und in jeder Fernsehsendung mindestens zwei bezahlte Rebellen und drei angestellte Aufrührer verbergen, ist ein so authentisch wilder und ungebundener Typ wie Ulan auf jeden Fall eine angenehme Überraschung. Allerdings steht keineswegs fest, dass er nicht tatsächlich gefährlich ist.

— Wie stiftest du denn Chaos?

— Das ist meine Sache.

— Beunruhigend.

— Nicht doch … Ich bin ein Schwadroneur. Ich rede und säe Sturm.

— Schwadroneur heißt aber etwas anderes.

Ein toller Plauderer ist er allerdings, sehr gut informiert, und seine – detaillierten – Nachrichten aus der Welt gehen von den Beziehungen zwischen China und Japan bis zum Vater aller Bomben.

— Das ist eine russische Bombe, so stark wie eine Atombombe, durch die Druckwelle zerstört sie in zwei Etappen.

— Hältst du dich für den Boten der Apokalypse?

— Nein, aber ich versuche dir zu erklären, dass deine Welt gerade zerbröckelt. Und da eh alles im Arsch ist, fördere ich den Untergang, indem ich die größten Chaosstifter eurer Welt unterstütze. Das Morgen gehört euch nicht mehr.

— Komm, nimm noch ein bisschen Reis. Ich bin sicher, Mongolen lieben Reis. Wo schläfst du denn in der Stadt?

— Willst du das wirklich wissen?

— Reine Neugier.

— Gib mir Reis, aber nicht zu viel. Du findest mich durchgeknallt, oder?

— Ein bisschen.

— Und du bist naiv, mein Guter.

— Es ist nett, dass du nochmal zum Essen zu mir gekommen bist.

— Ich mag dich eben.

Dann schweigen sie eine Weile. Das wundert Jodel nicht. Er weiß, dass Männer, wenn sie sich ihrer gegenseitigen Zuneigung versichern, danach stumm bleiben müssen, um den allzu gewichtigen Worten Zeit zu lassen, sich in der Nachtluft aufzulösen.

In diesen friedlichen Minuten denkt Jodel, dass Ulan vielleicht gar nicht so gefährlich ist, dass er vielleicht wirklich nur ein Schwadroneur ist. Er sagt es ihm.

— Ich bin einfach nur wütend, antwortet Ulan. Jeden Morgen wache ich wütend auf.

— Andere werden mit dieser Wut beim Aufwachen zu Serienmördern.

— Na siehst du, ich bin gar nicht so schlecht. Ihr merkt einfach nichts.

— Sag nicht ihr, wenn du mit mir sprichst.

— Doch! Du bist wie alle Bürger der Reichenwelt.

Und wieder legt er los: Jodel erfährt, dass die Russen und die Chinesen durch den Handel mit ihren Rohstoffen derart viel Geld haben, dass sie bald alle westlichen Banken und großen Unternehmen aufgekauft haben werden. Ulan sagt, das seien Staatsfonds, und die chinesischen beliefen sich aktuell auf Tausende Milliarden Dollar – Das sind Summen, die mir gar nichts sagen: zu riesig – und mit diesem Geld kauften sie gewaltige Beteiligungen an den Unternehmen, mit denen sie bald die Politik im Westen beeinflussen würden.

— Ist das klar? Ihr habt zwar die Weltwirtschaft, so wie sie jetzt existiert, erfunden, aber die anderen haben das Geld, deswegen sind sie bald die Herren in eurem Haus. Die Globalisierung, die euch solche Angst macht, wird von diesen Riesenmächten untergraben, die dabei sind, die Macht zu übernehmen, und dann werdet ihr euch nach der ungeordneten Freiheit des Marktes zurücksehnen. Ich sage dir, sogar eure Ängste sind falsch, und ihr seid auf dem Baumweg.

— Wir sind auf dem Holzweg, dem Holzweg. Ich frage mich, ob ich ein guter Gesprächspartner für dich bin … Noch ein bisschen Reis?

— O nein, ich glaube, jetzt reicht es.

Jodel denkt an die Lichtung des Großen Lauschens, an die drei Turmfalken, die ihm in letzter Zeit mächtig auf die Ohren gegangen sind, weil sie so nah bei seinem Haus schreien (am Anfang war es nur einer in einer benachbarten Scheune, er hatte ihm zugesehen, wie er zwei Junge fütterte, deren Fell so flauschig war, dass sie dicker aussahen als die Mutter, er weiß nicht, ob die drei jetzt diese Familie sind oder eine neue Ménage à trois, er denkt an die Diskrepanz zwischen der Welt und seinem Leben, dabei hört er genau zu, er hat das Gefühl, ständig dem Rumoren der Welt zuzuhören, aber das reicht nicht. Es ist ihm fast unmöglich, sich die aktuelle Welt vorzustellen, sich ein Bild von ihr zu machen. Ja, genau. So viele Länder, Kontinente mit ihren Besonderheiten, von denen er höchstens das Kräuseln an der Oberfläche wahrnimmt, die alle in politischen, ökonomischen, psychologischen Interaktionen gefangen sind, von denen er nicht mal die Hälfte begreift (ein Viertel, wenn er ehrlich ist) – und die, wer weiß? vielleicht auch einer persönlichen, irrationalen Logik gehorchen, wie die Menschen. Gibt es im Kollektiv vielleicht etwas Persönliches? Bei den Nationen etwas kollektiv Irrationales? Das sagt er Ulan, der nickt.

— Ich kann es auch nur schwer entschlüsseln. Dabei denke ich an nichts anderes.

— Unmöglich, die Siriusperspektive einzunehmen.

— Was heißt das?

— Eine erhöhte Perspektive, entfernt und objektiv, weil distanziert.

— Weißt du, dass die Chinesen – runzle nicht die Stirn …

— Du denkst wirklich an nichts anderes.

— … dass die Chinesen eine Forschungssonde zum Mond geschickt haben? Glaubst du, das ist für irgendwas gut?

— Ich weiß nicht. Die Amerikaner haben es auch schon gemacht.

— Das ist für gar nichts gut. Nur um Eindruck zu schinden und um euch zu zeigen, wie groß der Fortschritt der chinesischen Technologie und Wissenschaft bereits ist.

— Also, wo schläfst du nun in der Stadt? Das beschäftigt mich.

— Sieh mal an! Du willst es also wissen. In den Quatre Chemins.

— Wo ist das?

Wenn man vom Süden in die Stadt kommt, fährt man durch ein Industriegebiet, da steht ein leeres Fabrikgebäude – er weiß, dass es eine Fabrik war, typische Hässlichkeit des Gebäudes, im Erdgeschoss noch Ölflecken –, man geht eine Art Rampe hoch, die in einer Spirale ins Obergeschoss führt, da ist eine große Betonfläche, die wohl mal der Parkplatz war. Ganz hinten acht oder zehn Räume, sicher frühere Büros.

— Dort sind wir.

— Dort seid ihr?

— Ich und andere wie ich.

— Wie hast du das gefunden?

— So was weiß man in unserer Welt. Man kennt die Anlaufzonen.

— Anlaufzonen? … Anlaufstellen vielleicht?

— Sicher. Willst du kommen?

Will er kommen? Gute Frage. Beim Gedanken an die Quatre-Chemins wird ihm eher schwindlig. Zweifellos eine Zone. Er erinnert seinen Gast daran, dass er Ingenieur ist, dass er ein Bäuchlein hat, dass er nah am Wald lebt, ganz in Ruhe, und dass er in Sachen Kampfsport wenig Talent hat. Ulan sagt, er werde ihn beschützen. Das mindert seine Sorge nicht gerade: Er braucht also Schutz? Ulan erklärt, es handle sich um ein geschlossenes Milieu, misstrauische Leute, die zu Verschwiegenheit neigen, aber er ist überzeugt, dass Jodel ein paar sehr spezielle Exemplare mögen würde, die er ihm vorstellen kann.

— Exemplare?

— Kommst du oder nicht?

Jodel hört vorsichtige Schritte nahe beim Haus, jemand läuft da draußen herum, bleibt vor dem Wohnzimmerfenster stehen, von wo er wohl beobachtet, ohne sich zu rühren. Ein Vagabund? Oder ein Besucher aus der Anlaufzone? Die Stimme seines Gastes rutscht in den Hintergrund, er konzentriert sein Gehör auf diese Präsenz.

Der Neugierige rührt sich ein paar Minuten nicht. Er ist nicht allein. Jodel vernimmt das leichte Hecheln eines Hundes. Die Luft wird dichter. Ulan redet, der Neugierige beobachtet, der Hund hechelt, Jodel lauscht. Die Wirklichkeit gleicht kaltem Aspik. Hundert lange Sekunden später entfernen sich die Indiskreten lautlos, und ihre Schritte verlieren sich. Was wollten sie? Ein Herumtreiber und sein Gefährte? Oder war Ulan das Ziel dieser nächtlichen Aufmerksamkeit?

Seine letzten Gedanken, bevor er in den Schlaf sinkt, gehen zu den Quatre-Chemins, zu den Exemplaren und zu der Antwort, die er morgen auf die Einladung geben wird. Schon seltsam, man lebt in einem friedlichen Weiler, an einem dieser Orte, wo schon ein ungeordneter Vogelflug als Unruhe gelten kann (vor allem früh am Morgen, aber auch wenn niemand da ist – zumindest wenn die Vögel das glauben), und nun häufen sich die Besuche. Erstaunliche neue Freunde. Dabei ist er doch ein ruhiger Mensch. Geht er hin? Geht er nicht hin?

Vom Rauschen und Rumoren der Welt

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