Читать книгу Vom Rauschen und Rumoren der Welt - Belinda Cannone - Страница 9
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ОглавлениеEr fühlt sich unglaublich stolz, denkt er heute Morgen, sich mit einem kleinen Mädchen angefreundet zu haben, einem außergewöhnlichen Mädchen, das es verdient, nicht durch den Geräuschdschungel zu irren, wie er selbst in seiner Kindheit lange vom Getöse misshandelt wurde, während er sich für seltsam, unnormal empfindlich hielt – warum litt er unter dem Lärm und die anderen nicht? warum hatte er solche Mühe, die Geräusche zu unterscheiden? seinem Gesprächspartner zuzuhören, ohne im Umgebungslärm zu ertrinken? warum lebte er so in Verwirrung? warum hatte er die ganze Zeit Angst? –, bis er begriff, dass er nicht die gleichen Ohren wie die anderen hatte, dass er besonders war, aber dass er Ordnung in seine Wahrnehmung bringen konnte, nicht alles an sich heranzulassen brauchte, dass sich das Grauen zurückdrängen ließ. Ja, das Grauen. Die Zeit der Kindheit war die Zeit des Grauens, weil er alles hörte, ohne etwas zu identifizieren, weil er mehr hörte, als sah; und weil er nichts sah, entschlüsselte er nichts und fühlte sich deshalb ständig in Gefahr, fürchtete vage, der Lärm könnte sich materialisieren und ein Monster loslassen, das ihn zerstören, verschlingen würde – ja, damals rauschte die Welt von starken und nicht erkannten Gefahren.
Er würde Jeanne gern methodisch lehren, wofür er ohne Hilfe Jahre gebraucht hat, sie dazu bringen, ihre akustischen Wahrnehmungen zu beherrschen – es würde immer noch genug Chaos ringsum bleiben. Als er ihr diesen Plan mitgeteilt hat, hat sie nachdenklich geantwortet, Das wird gut. Ich hatte nicht gedacht, dass es möglich ist. Aber weißt du, hat sie hinzugefügt, bis jetzt habe ich eher das schrecklich gefunden, was ich gesehen habe.
Er setzt Wasser auf, bummelt ein bisschen rum, die Aussicht, zu den Stimmen der Gauner zurückzukehren, begeistert ihn nicht gerade, er denkt wieder an das Große Lauschen gestern – wenn sich Jeanne konzentriert, die Hände vor dem Bauch wie um Kugeln geschlossen, kneift sie die geschlossenen Augen zu, und das macht sie unglaublich hübsch, chinesisch. Er muss wirklich ihre Mutter treffen, bevor sie ihm die Bullen schickt, die ihn fragen werden, was er mit der Kleinen im Wald treibt – Lauschen. – Ach ja? – Ich bin einer von Ihnen – Ja, ja, wir sind alle Brüder – Sie hat nie mein Haus betreten – Die Wälder sind tief.
Der Himmel macht weiter mit seinem Theater. Niemand weiß, wann diese melodramatischen Gewitter aufhören.
Er muss nur auf die Enter-Taste drücken, und Irène taucht auf, pünktlich zur Stelle, selbst tot wäre sie da, was für eine Idee, Irène sterben zu lassen; aber für Jahrhunderte im Computer gefangen ist sie, nicht übertreiben, sie verströmt jetzt schon die Nostalgie von alten Fotos, Schwarzweißfotos, wie keiner sie mehr macht, höchstens noch ein paar Profis, ein paar Künstler. Ihre Stimme auf der Diktafon-Kassette ist rau und schäbig. Manche leben im Kontakt mit der Schönheit, Jodel nicht – die Gefahr besteht nicht, wenn man für die Polizei arbeitet. Diese Diktiergeräte mit Kassetten sind selten geworden, veraltetes Material, ja, das ist es, Irènes gierige Stimme hallt in der Ewigkeit, Pass auf, später Kümmerst du dich? und noch weiter Morgen sieben Uhr, Tonios kalte Stimme antwortet ihr kaum, Mach keine Witze und Bin nicht bescheuert, und Irène wieder Die Eltern stellen sich tot, sieh an, da sind die Toten, sicher aus Angst, aus Sorge, das Kind ist fünf, so klein, man würde viel dafür geben, dass es nicht in Irènes Geschichten verwickelt wäre, man möchte sich davon abwenden wie von einem widerlichen Anblick, und weiter der erbärmlich armselige Dialog, Pass trotzdem auf – Hmm – Heult er nicht zu viel? – Nur wenn er mich sieht, der Rotzbengel! – Pass auf, in einem anderen Leben wäre er Geräuschejäger, er würde aufs Meer fahren, um die Krabben laufen, die Delphine singen, die Brandung rauschen oder in den Flüssen die silbrigen Hechte gleiten zu hören – heute aber klammern sich die schlimmsten Geräusche der Welt an seine Ohren.
Er hört das Band noch einmal ab und konzentriert sich auf die Umgebungsgeräusche, um Hinweise auf das Versteck zu finden. Er hört erneut das Pass auf, mit dem gleichen Erstaunen – diese Banalität der Worte, die Dürftigkeit der Gefühle, das Kind weint, und Irène fällt nichts anderes ein, als Pass auf zu sagen. In der fünfundzwanzigsten Minute fader, sachlicher Dialoge, Wann – Sieben Uhr dreißig – Isst er was? – Halt dich raus, vernimmt er auf Tonios Seite, wie er glaubt, ein ungewöhnliches Geräusch im Hintergrund. Er lässt es nochmal laufen: ein Hahn. Guckt auf die Begleitnotiz: Tatort: Paris – ein Hahn in Paris?
Er legt eine dritte Datei an, UMGEBUNG, in der er nur die Hintergrundgeräusche behalten will. Etwas Methodik, um die Arbeit ernsthaft anzugehen. Ab morgen wird er abwechseln: Transkription der Dialoge, Identifizierung der Stimmen, Beschreibung der Orte. Genau. Ist weniger schlimm. Er beginnt zu arbeiten. Im Magma der aufgenommenen Welt Klangeinheiten einzugrenzen macht mehr Spaß – weniger brutal. Er stellt fest, dass man schon in der siebzehnten Minute einen Hahn hört, aber weit weg. In der zweiundzwanzigsten redet eine Frau leise, aber eindringlich auf Tonio ein, während er mit Irène über die Gesundheit des Kindes spricht. In der fünfundzwanzigsten bewegen sich Leute hinter ihm, vielleicht kochen sie. Von der neunundzwanzigsten bis zum Ende hört man in der Ferne eine Baumaschine, ja, ganz sicher.
Während des Essens im Oiseaux hat er plötzlich eine so blitzartige Eingebung, dass ihm die Gabel aus der Hand fällt, eher eine Frage, deren Beantwortung jedoch die ganze Interpretation verändern würde. Die Wirtin hat die Gabel fallen gesehen und kommt sofort mit ihrem freundlichen Lächeln und neuem Besteck. Er bringt ein paar Worte des Danks hervor und lobt das Essen. Die Frage ist: Warum hat Tonio den Kontakt mit Irène aufrechterhalten, wenn sie das Kind nicht mehr hatte und nicht mehr mitmachen wollte? Warum belastet man sich mit einer störrischen Partnerin? Vielleicht findet sich die Antwort auf der zweiten Kassette.
Sobald er zurück ist, überspielt er sie auf den Computer und hört sie in einem Zug. Undeutlich, laut. Irène regt sich immer mehr auf, Der Kleine krepiert noch – Schwachsinn, der reißt sich zusammen – Ein Kind reißt sich nicht zusammen. Wie ist er? – Er nervt uns nicht – Genau das macht mir Sorgen. Wie ist er? – Fiebrig – Der Kleine krepiert noch, geben wir ihn zurück, und so weiter. Sie will hinkommen, Wo bist du, ich muss ihn sehen, aber Tonio weigert sich, es ihr zu sagen, bei Minute fünfzehn wieder ein Hahn, vielleicht zwei, dann sagt Irène, sie will aussteigen, aber er lehnt ab, Du musst mit den Eltern reden, aha, warum das? Nach einer Weile ertrinkt er fast in einem Meer ungeordneter Informationen, ohne die Situation besser zu verstehen – warum hält Irène weiter Kontakt, wo ist das Kind, in welchem Zustand –, und als er feststellt, dass er noch eine Stunde zu arbeiten hat, beschließt er, sich auf die Baumaschine zu konzentrieren, die am Ende der ersten Kassette aufgetaucht ist. Eine ziemlich große Maschine, ohne Nuancen oder Macken, ohne Überraschungen oder Aussetzer. Er isoliert das Geräusch, verstärkt es, ein riesiger Motor, das charakteristische Piepsen, wenn der Rückwärtsgang eingelegt ist, auf jeden Fall ein Gelenkarm, vielleicht ein Löffelbagger, keine anderen Verkehrsgeräusche, er macht noch lauter, nichts, die Maschine arbeitet auf einer Baustelle oder einer Brache, aber nicht in einer Straße. Also, rekapituliert er, wir sind angeblich in Paris, aber es gibt Bauarbeiten und auch ein oder zwei Hähne. Ja, genau. Er sucht in seiner Audiothek und schlussfolgert nach dem Vergleich, dass es ein Caterpillar-Bagger ist. Er schickt sofort ein paar Mails an die Präfektur und bittet um die Liste der Baustellen, die er mit der von Bauernhöfen abgleichen wird – das mit den Bauernhöfen dürfte schnell gehen. Er schreibt noch ein paar interne Mails, um sich zu vergewissern, dass es sich in der Hauptstadt abspielt (Tonio kann Irène angelogen haben) und wirklich innerhalb der Stadt.
Es ist Zeit. Er bringt seine Tassen zur Toilette, reibt sie gründlich, um die schwarzen Teespuren zu entfernen, und trocknet sie ab, im Büro stellt er sie ordentlich auf das Tablett, beschließt aber, das Geschirrtuch zu wechseln, auf dem sie stehen, nimmt die Tassen weg, wechselt das Geschirrtuch, dann stellt er die hübsche weiße japanische Tasse nach links, die beiden Seladonschalen nach rechts und in die Mitte den Pott mit Rosenmuster. Um fünfzehn Uhr drei verlässt er die Sackgasse.
Reinigende Fahrt durch den Wald. Nach der Siesta wird es ihm besser gehen, wenn er und Jeanne wieder auf der Lichtung sind, auf ihren Hörsitzen.