Читать книгу Vom Rauschen und Rumoren der Welt - Belinda Cannone - Страница 6

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Ihr irres Rennen geradewegs ins Nirgendwo hat sie zu ihm geführt, der vor seiner Tür in der Sonne faulenzte, die Augen geschlossen – seit dem Erwachen der Eindruck, ein wässriger Film bedecke die Welt, da kann man auch gleich nach innen schauen –, und neugierig auf die kleinen, hastig näherkommenden Schritte lauschte.

Mit verstörter Miene hatte sie den Weiler erreicht, und als sie an seinem Haus vorbeilief, hat er sie gestoppt. Erstaunliche Intuition, wundersamer Zufall, es ist, als hätte sie ihn, Jodel, gesucht. Er musste sie sanft am Arm festhalten, ihre Beine wollten weiter ins Leere treten – schließlich sank sie vor ihm zusammen.

An diesem Tag ihrer ersten Begegnung haben sie nur von den Fuchswelpen gesprochen. Sie hat ihm die Szene in allen Einzelheiten geschildert. Er war erstaunt über ihre Genauigkeit und Klarheit. Sie sagte Zum ersten Mal tut mir etwas weh, das nicht mir passiert ist. Sie suchte in seinem Blick zu erkennen, ob er sie richtig verstand, und er mochte ihre großen fragenden und besorgten Augen. Sie überlegten gemeinsam. Die Verantwortlichen waren Kinder, also Ihresgleichen, und deshalb ging ihr die Verletzung so nahe. Keine Erwachsenen oder gar Bauern, die einen Grund gehabt haben könnten, was immer der auch wert gewesen wäre. Nein. Ein willkürlicher Akt. Begangen von Ihresgleichen. Es war also tatsächlich ihr passiert, irgendwo in ihr.

Jeanne gefiel ihm sehr, so mager und wach. Mit gespitzten Ohren. Ein kleines Paket aus Muskeln und Energie. Von Zeit zu Zeit schluchzte sie, dann beruhigte sie sich wieder. Sie war vielleicht elf oder zwölf.

Erst als Jeanne zwei Tage später wiederkam, begriffen sie. Sie trank ein Glas Mandelmilch vor seiner Tür, sagte ein bisschen beunruhigt Da weint ein Baby und deutete in eine Richtung. Er antwortete Ja, das ist Joseph. Dann, ein paar Sekunden später wurde ihm bewusst, dass er stets der Einzige gewesen war, der Joseph in einem dreihundert Meter weit entfernten Haus weinen hören konnte. Wundersamer Zufall, bemerkenswerte Intuition, war eine kleine weibliche und kindliche Doppelgängerin zu ihm gelangt, um sein Leid zu teilen?

Vorsichtig befragte er Jeanne: Ob sie gut höre? Oh, sehr gut. Ob sie besser höre als andere? Ja, den Eindruck habe sie ständig, Aber ich habe mir angewöhnt, nichts zu sagen, die Leute glauben mir nicht oder sehen mich komisch an, ich bin immer die Erste, die warnt, wenn ein Kind weint. Und Insekten, kleine Tiere? Ja, sie höre alles, alles, aber ein bisschen durcheinander. Er wischte sich eine kleine Träne von der Wange. Jeanne ging das nicht so nahe: So jung, ahnte sie nicht, wie selten Menschen ihrer Art waren.

Seitdem kommt sie täglich am späten Nachmittag. Verbundenheit von Versehrten. Sie besucht ihn nach der Schule, mit ihrem lebhaften Gang eines Nymphenkindes, er macht ihr eine Mandelmilch, und sie reden über ihren Tag. Nie mehr über die Fuchswelpen. Um die Geräusche, die sie belästigen, zu zähmen, bringt er ihr bei, das Pochen der Ameisenkolonnen zu mögen, ihre vielfältigen, ruckartigen Schritte, die ganz sacht sind und ganz fern, den langsamen Gang der Skarabäen, so schwer, dass man selbst einen einzelnen auf der Straße laufen hört, und das Zischen der Nattern, fein wie ein Lüftchen im Laubwerk. Aber die Geräusche vermischen sich: Sie muss lernen, die Feldtiefe zu berücksichtigen, den Abstand zwischen den einzelnen Geräuschen zu bestimmen und sich erst auf das eine und dann auf das andere zu konzentrieren. Viel Arbeit. Und das braucht Zeit. Er hat Zeit. Sie ist so klein.

Der Schleier vor seinen Augen hat sich verflüchtigt, und die Welt ist beim Erwachen wieder klar – er ist also gar nicht so sehr gealtert. Ist das Jeanne zuzuschreiben? Er hat keine Ahnung. Er sieht besser. Oder zumindest hat er das Bedürfnis wiedergefunden, sich umzuschauen – das Leben ist nicht mehr nur seine Ohrmuschel.

Vom Rauschen und Rumoren der Welt

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