Читать книгу Vom Rauschen und Rumoren der Welt - Belinda Cannone - Страница 8
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ОглавлениеUm fünf ist sie bei ihm. Sie sagt, dass sie das tägliche Treffen mit Jodel um nichts in der Welt verpassen wolle, erst recht, seit er angefangen habe, sie das Hören zu lehren. Das finde sie toll. Es sei so anstrengend, sich vor dem Lärm der Welt zu schützen, das könne er sich nicht vorstellen.
— Seit einiger Zeit schaffe ich es, meine Ohren zu verschließen, ganz tief in mir zu versinken und zur Schlafwandlerin zu werden. Aber wenn ich danach in das Tohuwabohu zurückkomme, ist es noch schlimmer, dann bin ich stundenlang, ich sage dir, stundenlang wie betäubt.
Er behauptet, dass die Geräusche angenehmer und weniger aggressiv wären, wenn sie sie unterscheiden, sortieren, in der Umgebung einordnen könnte.
— Du hörst mehr als die anderen: Also musst du lernen, besser zu hören.
Er bringt ihr ein Glas Mandelmilch. Ob sie etwas essen mag? Er hat etwas Gutes gekauft. Sie hat unterwegs schon was gegessen, aber sie möchte trotzdem, aus Verfressenheit – Bist du verfressen? Er gibt ihr einen Honigkuchen mit Orangenmarmelade, und sie machen sich auf zu der Lichtung, wo sie arbeiten. Sie sagt, sie übe sich im Großen Lauschen.
— Hörst du den Grünspecht in dem Baum?, fragt er.
— In diesem?
— Ja.
— Was macht er für ein Geräusch?
— Er klopft mit dem Schnabel an den Stamm, sehr schnell und regelmäßig, tiptiptiptip, trommelt er.
— Ich höre ihn.
— Würdest du ihn wiedererkennen?
— Ja.
— Dann konzentrier dich, denn da drüben ist noch einer. Lausch jetzt in die Ferne und such ihn.
Sie schließt die Augen und konzentriert sich.
— Kein Grünspecht, sagt sie etwas verwirrt.
— Versuch’s nochmal, länger.
Und nach ein paar Minuten lächelt sie. Sie sagt, dass sie seinen zu weit entfernten Grünspecht nicht hört, aber die tschilpenden Vögel, die rauschenden Blätter, den Galopp kleiner Tiere auf dem Boden, Krallen an den Ästen (Eichhörnchen), Knacken (vielleicht Nüsse), Klappern, Klackern, Rascheln, Schaben, Gleiten – interessante Geräusche, aber so zahlreich, es schwillt an, der Wind in den Blättern zeichnet so etwas wie ein langes Klangband, das sich in der Ferne verliert, die Schritte bilden eine summende Matratze auf dem Boden, zwei Vögel streiten direkt vor ihrer Nase, die Luft ist zum Bersten voll – sie muss die Ohren schließen, um sich auszuruhen.
— Du hast gehört, was ich wollte, die Zwischengeräusche. Waren es zu viele?
— Viel zu viele.
— Noch einen Honigkuchen?
Auf der Lichtung dienen ihnen zwei Baumstümpfe als Hocker. Sie nennt sie Hörsitze und findet, dass sie zwei Dryaden gleichen, wenn sie dort würdevoll und konzentriert lauschen. Jodel staunt, was für Wörter sie kennt. Die hat sie von ihrem Vater, sagt sie, jedes Mal, wenn er sie besuchen kommt, bringt er ihr neue bei.
— Lebt er nicht bei dir?
— Nein, er lebt von meiner Mutter getrennt. Und bei jedem Besuch schenkt er mir ein paar Wörter. Machen wir weiter mit dem Großen Lauschen?
— Versuch mal die Biene zu hören, dort, auf dem großen Engelwurz.
Sie schließt die Augen und hört auf zu atmen, die Hände vor dem Bauch wie um zwei Kugeln geschlossen.
— Ich höre sie, flüstert sie.
— Und siehst du sie?
Sie öffnet irritiert die Augen: Ich soll sie auch sehen?
— Sie dir vorstellen. Das hilft, um besser zu hören.
Sie gehen zu der Pflanze. Jeanne beobachtet die geschäftige Biene.
— Jetzt hab ich’s, ich werde mich an sie erinnern.
— Und du wirst sie besser hören. Je besser du dir vorstellst, was du hörst, desto weniger wird es dich verletzen. Jetzt müssen wir nach Hause.
— Ja. Mama fragt sich bestimmt, wo ich bin.
— Kann ich sie bei Gelegenheit kennenlernen?
— Na ja! Von mir aus gern, aber du wirst es bedauern.
— Warum?
— Sie ist aufdringlich.
— Äffchen!
— Aber es stimmt: Sie ist aufdringlich. Und sie ist taub.
— Ach ja?
— Na ja, also, sie ist wie alle: Sie hört nichts.
Und auf dem Rückweg erklärt sie ihm bunt durcheinander, ohne einen Hauch von Befangenheit (er mag ihre Unbefangenheit, ihre schlichten und klaren Sätze sehr), dass sie ihn auf jeden Fall wirklich gern hat, dass er ihr sehr nützliche Sachen beibringt, dass er für immer, immer ihr Freund ist. Als sie die Landstraße erreichen, schiebt sie ihre kleine Hand mit den glänzenden Nägeln in seine, und er fühlt sich unglaublich stolz.