Читать книгу Vom Rauschen und Rumoren der Welt - Belinda Cannone - Страница 12
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ОглавлениеDer Mann lacht spöttisch, als er aus dem Auto steigt. – Du bist also beinahe ein Bulle? Sieht man dir nicht an. Er sagt, die siebenundzwanzig Kilometer, die ihn von der Stadt trennen, gehe er sicher zu Fuß, vor Mittag werde er da sein – Ja, ich gehe ziemlich schnell, kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn ich dann ein Pferd habe? Danke, dass du uns aufgenommen hast.
Als sich die Bürotür schließt, hat Jodel das flüchtige Gefühl, nach langer Abwesenheit zurückzukommen. Warum »uns aufgenommen hast«? Er setzt Wasser auf. Möglich, dass die Mongolen Tee trinken. Irène sicher nicht, der Gaumen von Rauchern ist nicht mehr fein genug, um das Aroma zu würdigen.
Er liest seine Notizen durch. Warum bleibt Irène im Spiel? Warum ist es ihre Aufgabe, den Kontakt zu den Eltern zu halten? Aus den Dialogen hat er nicht viel erfahren. Er tut, was er kann. Auf jeden Fall muss nicht er die Ermittlung durchführen. Ja, genau. In seinen Notizen hat er vermerkt, dass man bei Minute zweiundzwanzig noch andere Stimmen in Tonios Nähe hört. Er nimmt sich seine Datei UMGEBUNG wieder vor und hört. Die Aufnahme ist undeutlich. Eines jedoch wird ihm schnell klar: Eine aufgebrachte Frau spricht englisch – ein sehr spezielles Englisch, weder aus England noch aus Amerika. Ja, genau. Aber er wird Wunder vollbringen müssen, um ein paar Worte zu verstehen. Daher hört er sich die fünfundzwanzigste Minute genauer an und erfasst inmitten von Küchengeräuschen ein paar Klänge, die ebenfalls Englisch sein könnten. Sollte das etwas mit der Nationalität oder der Herkunft von Tonio zu tun haben? Er kehrt zur Datei STIMMEN zurück und beginnt, die von Tonio zu analysieren. Der grüne Bildschirm zeigt die roten Ausschläge des digitalisierten Tonsignals: Das Spektrogramm bestätigt die Tendenz zu hohen Frequenzen (unangenehmer Effekt). Kein charakteristischer Akzent. Aber ein Tick: Eine Kehlkopfkontraktion vor manchen Sätzen, die in eine kurze Nasenausatmung übergeht. Gut geeignet für einen Vergleich mit den drei anderen Stimmen, deren Aufnahmen man ihm gegeben hat und von denen eine wohl die von diesem Tonio sein könnte. Ja, genau.
Schließlich erstellt er eine genaue Charakteristik von Tonios Stimme, und nachdem er die Hintergrundstimmen nach vorne gezogen und eine ausführlichere Recherche in der Audiothek vorgenommen hat, erkennt er, dass es sich bei ihnen um Englisch aus Sierra Leone handelt. Gut. Verschiedene Nachrichten in seinem Computer liefern ihm die Adressen der Pariser Baustellen, die sich direkt in der Stadt befinden: keine Brache, keine abgelegene Gasse. Der von Stille umgebene Bagger auf der Kassette arbeitete also nicht in Paris. Eine letzte Nachricht vom Gericht informiert ihn, dass Irène sagt, sie glaube, das Versteck sei in der Stadt, aber das sei nicht sicher.
Den restlichen Vormittag verbringt er mit dem Vergleichen der drei im Anhang mitgelieferten Stimmen. Keine von ihnen weist den Tick (Kehlkopfkontraktion und Nasenausatmung) auf, aber nach Gegenüberstellung der Ergebnisse des Oszillogramms und dann des Spektrogramms sieht es so aus, als wären Tonio und derjenige, den die Unterlagen als Hernandez bezeichnen, derselbe. Blöd, dass der Tick nicht zu finden ist.
— Du weißt genau, dass man eine Stimme nie mit absoluter Gewissheit identifizieren kann, das ist keine sichere Wissenschaft, sagt Marc.
— Das weiß ich nur zu gut und es bekümmert mich, stell dir vor.
— Gut, trotzdem sammelst du meistens interessante Hinweise. Was ist mit dem Englischen? Von wo?
— Sierra Leone.
— Und die Hähne?
— Tja …
— Vielleicht ein Restaurant.
— Daran hab ich auch gedacht. Aber kennst du viele Gerichte mit Hahn?
— In Sierra Leone vielleicht …
Die Antwort wird ihm geliefert, als er ins Oiseaux geht. Auf der Schiefertafel mit den Tagesgerichten liest er Coq au vin. Was ist er doch für ein Idiot! An der Theke trinken drei Männer schweigend Weißwein aus kleinen Gläsern, und eine alterslose Frau hebt regelmäßig die Hand, wie um kraftvoll eine Rede einzuleiten, aber ihr Arm fällt zurück, die Worte kommen ihr nicht über die Lippen. Ihr Nachbar stimmt mit resigniertem Kopfnicken zu, und sein Gesicht sagt So ist es oder vielleicht Da kann man nichts machen. Würde Jodel nicht das irre Gespräch fürchten, das sich womöglich daraus ergäbe, würde er die Frau mit dem Zitat eines Philosophen trösten, dessen Name ihm nicht mehr einfällt: Das Schweigen ist eine Errungenschaft des Menschen. Aber wäre sie damit getröstet? Der Coq au vin ist köstlich. Als er auf dem Rückweg zwei Hunde sieht, die einander herausfordern, denkt er an eine andere Verwendung von Hähnen: den Kampf. Stößt der Kampfhahn einen anderen Schrei aus als sein Bruder im Hühnerhof? In der Audiothek zu überprüfen. Gibt es in Sierra Leone eine Hahnenkampftradition? Ebenfalls zu überprüfen.
Als er sich vor seinen Computer setzt, die Hände zu beiden Seiten der Tastatur flach auf dem Schreibtisch, das Kinn gesenkt, lustlos, wird ihm klar, dass er die Geschichte nicht mehr aushält und er offensichtlich wieder mal übereifrig war, gewiss, weil zwei Ereignisse zusammentreffen, die Begegnung mit Jeanne, die ihn besonders sensibel für Kinder gemacht hat, und das Material dieses Falls. Aber er ist fast fertig. Für andere bleibt dann die Aufgabe, den Ort des Verstecks zu entdecken, für wieder andere die Aufgabe, Irènes Rolle zu verstehen. Er hat nicht die Mittel, diese Fragen zu lösen. Ingenieur ist er, nicht Ermittler.
So vergeht der Nachmittag recht schnell, er hört sich Kampfhähne an (ihr Schrei ist nur anders, wenn sie auf dem Kampfplatz sind, was vorauszusehen war, dann wird er widerlich), erfährt nichts Besonderes über eine eventuelle Tradition in Sierra Leone (trotzdem kann es sie geben) und verfasst den Bericht. Die Vielzahl der Fährten, die er nahelegt (man wird ihm ganz sicher sagen, dass er zu viel macht), vermittelt ihm ein Gefühl der Befriedigung und der Pflichterfüllung, und er schließt die Tür zu seinem Büro ein bisschen spät, doch mit der Gewissheit, dass er auf diesen Fall nicht mehr zurückkommen muss. Selbst der Umstand, im Flur dem grässlichen Nörgler zu begegnen, der ihm ein Na, manche haben wirklich Glück, dass sie ihr Nickerchen machen können, wenn die anderen arbeiten, Privilegien, Privilegien zuruft, kratzt seine gute Laune nicht an.
Im Auto fühlt er sich erleichtert, dass er sich Irène vom Hals geschafft hat (mögen die Schakale ihre Leber fressen), das Leben ist ohnehin schwierig genug – übertreiben wir mal nicht, sein Leben ist nicht sonderlich schwierig, aber gut, immer die Frage nach dem Rumoren der zu brutalen Welt. Von sich selbst und seinem Ärger kann man sich befreien, aber von den anderen, von der Welt: schon viel komplizierter. Er lebt so zurückgezogen, dass er bisweilen den Eindruck hat, im Abseits zu stehen, abseits der Dinge, der anderen, der Informationen. Geschützt im Grunde. Manchmal vermutet er, dass das nicht das wahre Leben ist. Das zumindest hat ihm Zélie immer gesagt. Du siehst nichts, wetterte sie. Aber was er alles hört!
Er hat gerade noch Zeit für die tägliche Siesta, bevor Jeanne kommt. Kaum sind die Vorhänge aufgezogen, fällt ein Lichtstrahl auf das Bett. Sollte der Regen womöglich aufgehört haben? Er erkennt das wunderbare Plappern einer Amsel. Sehr viel weiter entfernt, vielleicht vierhundert Meter, eine Landwirtschaftsmaschine. Die Hunde des Nachbarn schwatzen. Die Mäuse laufen auf dem Dachboden herum. Alles ist in Ordnung. Ja, genau. Sicher ist es ziemlich schwierig, seine Sachen und Möbel in eine Jurte zu räumen. Gut. Den Ton abstellen, in sich abtauchen, die angenehme Müdigkeit kommen lassen, langsam davongetragen werden. Er wird Jeanne sagen, es ist jetzt entschieden, er wird ihre Mutter besuchen.