Читать книгу K(L)EINE T.RÄUME - Band 3 aus dem speziellen Genre der Medizinischen Belletristik - Ben A. Deyval - Страница 14

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Kuta und Denpasar

Nero schlenderte durch die staubigen, aber hinter grauen Grundstücksmauern üppig begrünten Straßen von Kuta in Richtung Denpasar. Überall die kleinen Betonbuchten mit Lädchen: Souvenirs, Jeepsafaris, Sarongs und falsche ikat-Tücher, billige Holzschnitzereien, Bars, warung-Kioske, exklusive Internetcafés mit vollbärtigen, rotgesichtigen Westlern im wichtigen Gespräch. Dazwischen Oasen der Ruhe mit kleinen privaten Tempelanlagen, in denen zweimal täglich Opferrituale der Familie stattfanden. Unmittelbar daneben brauste, knatterte und hupte sich der Verkehr wie eine endlose Schlange durch die Schlagadern der Hauptstadt Balis. Linksverkehr, man musste höllisch aufpassen. Angst und bange konnte einem werden, wenn man die unbedarften langmähnigen Schönheiten aller Nationen sah, die sich in Pose warfen, ihren ohnehin schon dünnen Bauch noch mehr einzogen, den Busen mit Pushup-BH präsentierten und einen Knutschmund machten, um von Freund oder Freundin oder einem extra mitgeschleppten Fotografen verewigt zu werden. Beliebt als Fotomotiv waren die modernen, superteuren Bambushotelhäuser mit ihren abenteuerlichen Formen und Kurven. Die Schwerkraft schien aufgehoben, wenn ein hibiskusgeschmücktes Pärchen sich künstlich lachend an das gebogene Geländer der Bambusterrasse im luftigen Obergeschoss lehnte und darauf wartete, dass ihr Fotograf das Shooting begann, sobald das Licht stimmte. Die hohle Welt der Instagrambabys und Facebooknutten hatte Bali schon lange erreicht. Influencerinnen waren die neuen Hippies der Sunda-Inseln. Die Chirurgin konnte sich nicht sattsehen.

„Wie in Lagos, nur hellhäutiger. Und mehr Bäume und Bambus als Beton“, diagnostizierte Nero zielsicher. Die korpulente alte Lady hatte ihre wilde schwarze Haarpracht unter einen knallvioletten Turban gesteckt, sich passenden Lippenstift und Lidschatten aufgelegt und sah sich nun nach einer brauchbaren Klinik für Denise um. Das Telefonat mit der früheren Freundin aus Berlin spukte ihr noch im Kopf herum.

„Was war denn so schrecklich an den medizinischen Einrichtungen hier?“, hatte Nero gefragt. „Kannst Du nicht etwas genauer werden?“

„Nee“, lautete Denises Antwort, „einfach ein mulmiges Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. Nun sprech´ ich nicht so gut Englisch wie du, aber ich bin schließlich auch nicht ganz doof im Köpfchen…“

Nero lachte auf, als sie an die rothaarige Feuerwehrfrau dachte, die zu Berliner Zeiten immer Mühe hatte, für voll genommen zu werden, so wie sie selbst auch. Manche Frauen hatten halt keine Chance im Bewusstsein ihrer Mitmenschen.

„Also die ha´m mir erst `nen Barcode verpasst an ihrem komischen Tresen und mich dann einfach sitzen lassen. Hab halt brav gewartet. Und gewartet. Wait you. Not move. Soon will come. Oder so. Irgendwann bin ich aufgestanden und hab´ mich umgesehen, weil alle, die reingekommen sind, immer irgendwohin gegangen sind. Außer mir hat keiner vorne gewartet, es war merkwürdig.“

„Wo bist du dann hingegangen, Liebes?“, hatte Nero gespannt gefragt.

„Irgendwie einen der Gänge da runter, hab so getan, als wüsste ich, wo ich hin muss. Wurde immer dunkler. Vorn war alles aus Glas, modern, bis auf den ollen Kronleuchter an der Decke. Je weiter man ins Innere des Gebäudes kam, umso seltsamer wurde es. Keine Werbeplakate oder Bilder mehr und die Wände waren nicht verputzt. Es roch nach Müll, Waschbecken an den Wänden waren dreckig. Die Türen standen offen, manche nur mit einem Tuch verhängt, überall ein Kommen und Gehen, aber ausschließlich Einheimische. Weit und breit kein Tourist. Du weißt ja, Chaos schreckt mich nicht. Ich also einfach weiter, hab in einige Räume reingelinst. Und du glaubst es nicht…“

„Was denn? Spann mich nicht auf die Folter, Baby!“

„Genau. Baby. Das ist das Stichwort. Man konnte sehen, wie Männer in weißen Kitteln Frauen untersuchten, die hinter Tüchern versteckt waren.“

„Na und? Was daran ist so furchtbar? Auch im Busch gibt es sehr gute Ärzte.“ Wieder musste Nero lachen. Denise war nicht zimperlich, daher musste sie etwas ganz Besonderes gesehen haben. Oder gefühlt.

„Die Frauen lagen auf Schilfmatten am Boden. Auf dem Boden! Das Gesicht zugedeckt mit ihren eigenen Sarongs, wie bunte Leichen. Es gab keine Liegen, nur diesen endlosen dunklen Gang mit den Türen zu beiden Seiten, wo ständig Menschen ein- und ausgingen. Kein Schutz, keine Intimsphäre! Man war ihnen einfach ausgeliefert. Und das in einer Sprache, die ich kaum verstehe? Never! Sekali-kali tidak, auf keinen Fall! Ich bin rausgerannt ins nächste Internetcafé und hab dir sofort gemailt.“

„Bist du sicher, dass du richtig hingesehen hast? Die haben keine Liegen zur gynäkologischen Untersuchung wie bei uns?“

„Na ja“, gestand Denise kleinlaut, „ich bin in das erstbeste Medical Center gegangen, das ich gesehen hatte. Stand was mit ibu dran, das bedeutet `Frau´, und ich dachte, die haben alle dieselben Qualitätsstandards. Später erzählte mir Wayan, meine Freundin aus Singaraja, dass viele Frauen sich weigern, sich zur Untersuchung auf eine Liege zu legen, weil sie das mit den Foltermethoden der Holländer verbinden.“

„Ach herrje, ehrlich?“, hatte Nero erschrocken erwidert. „Die Greuel aus der Kolonialzeit, als Bali noch zu Niederländisch-Indien gehörte? Das ist zwar lange her, aber anscheinend ähnlich ins kulturelle Gedächtnis eingraviert wie bei uns in Afrika…“, sinnierte die alte Chirurgin.

„Vielleicht hab ich den falschen Gang benutzt und bin in die Abteilung für Einheimische geraten anstatt in die Touri-Abteilung. Es gibt hier auf der Insel eine fühlbare Trennlinie zwischen Balinesen und Westlern. Alle Weißen werden `belanda´ genannt, Holländer“, meinte Denise, kurz bevor sie im Norden der Insel in ein Funkloch geriet, „und man spürt die Distanz zwischen Asien und Europa auf Schritt und Tritt. Die Angst, die Verachtung. Egal, was man macht als weiße Frau, egal wie sehr man versucht, indonesisch oder balinesisch zu lernen, sich anzupassen. Wir bleiben immer draußen. Keine Chance. Ohne dich als Medizinprofi komm ich da nicht rein.“

„Ich weiß, was du meinst“, sagte Nero trocken, „ich hab das Problem quasi erfunden, glaub mir.“ Kurz darauf brach die Verbindung ab, aber alles Wesentliche war ohnehin gesagt.

Nero wollte sich umsehen, was auf der Insel in Sachen Geburtshilfe zu machen war und schließlich Carsten und Denise in ihrer Tauchschule besuchen. Gemeinsam würden sie eine Lösung überlegen. Schließlich war ihr findiger Henry auch noch da. Er redete nicht so viel und gern wie seine Frau, hatte aber immer eine gute Idee in petto.

Nero lächelte, als sie an ihren Mann dachte, den stämmigen, gutmütigen `Friesendschong´. Er befand sich mit ziemlicher Sicherheit gerade in ein Gespräch unter Männern verwickelt, bei dem man mehr mit den Händen und Füßen redete, als dass man sich verbal austauschte. Henry hatte nach ihrem Telefonat mit Denise das losmen verlassen, um auf die Suche nach dem Anbieter der Touren mit dem Wasserflugzeug zu gehen. Seine Englischkenntnisse waren nicht gerade erstklassig, aber sein Improvisationsvermögen dafür derart überzeugend, dass Nero sicher war, Henry würde nicht nur mit einer Bauanleitung für eine Twin Otter wiederkommen, sondern sogar mit jeder Menge Kontakten zu anderen Handwerkern und praktisch veranlagten Inselbewohnern. Wer weiß, vielleicht fand er sogar eine Bleibe jenseits des Touristenrummels, wo sie die Wochen verbringen konnten, wenn es Denise und Carsten nicht möglich war, sie zu beherbergen.

Nero lupfte ihren schicken Kaftan, ignorierte die Werbungsversuche eines Goldverkäufers, der halb so groß war wie sie und stieg mit großen Schritten über zwei geflochtene Schälchen mit verwelkten Opfergaben und ausgebrannten Räucherstäbchen hinweg. Man sollte die Dinger eigentlich elegant umkurven, denn sie durften nicht mit Füßen in Kontakt kommen, sonst wären die Götter verärgert. Aber der Gehweg war hier so schmal, dass sie darübersteigen musste, um nicht auf die Straße mit den durchgeknallt herumkurvenden Mopedfahrern zu geraten. Manchmal benutzten die Verrückten sogar Gehwege, wenn die Straßen von Autos verstopft waren, es war lebensgefährlich. Wie in Lagos. Vielleicht war Denise in eine Klinik geraten, die nur Einheimische behandelte? Die Chirurgin würde schon herausfinden, wo es eine Einrichtung mit klassischen medizinischen Standards gab. Sie hatte sich in ihrem losmen auf die Schnelle ein paar Adressen und Empfehlungen der vielen Kliniken ausgedruckt und sich ohne konkretes Ziel zu Fuß auf den Weg gemacht, um die beste Versorgung für ihre Risikoschwangere zu finden. Überall in Kuta wurde für `Kliniken´ geworben, da würde sie doch wohl bald auf eine passende Einrichtung treffen. Mitten im Chaos der Straße, das in scharfem Kontrast zur sakralen Stille in ihrem parkumsäumten Homestay stand, merkte sie schnell, dass es die falsche Taktik war. Nero suchte sich also ein schattiges Plätzchen zum Nachdenken, wimmelte zwei Sarongverkäuferinnen und einen Mann im Flying Wok – wie man die winzigen mobilen Essbuden im Spaß nannte – ab und zog ein paar zusammengefalteten Ausdrucke aus ihrem Rucksäckchen. Beim Lesen zog sie die Stirn in tiefe Falten, was technisch nicht ganz einfach war, weil das runde, dralle Gesicht sonst stets knitterfrei aussah. Wie frisch gebügelt.

„Das gibts doch nicht – was soll das denn heißen?“, brummte sie und starrte ungläubig auf die Zettel in ihrer Hand.

`In den krankenhäuser befinden sich viele´, las die Chirurgin und schüttelte leicht den Kopf, sodass ein Balinese das hätte für Zustimmung halten können, `die man bei Verdacht auf eine Schwangerschaft mit arzttermin in Denpasar um eine Therapie wegen Halsschmerzen oder um eine Untersuchung bitten könnte. Wenn Sie durch einen zerschmetterten Knochen verwundet sind oder genäht werden müssen, ist es am besten, einen Denpasar krankenhaus aufzusuchen und die Verletzung sofort versorgen zu lassen.´

Was war das? Google Translator? Hätte sie sich doch bloß den englischen Originaltext ausgedruckt. Oder war es aus dem Indonesischen übersetzt? Nero blätterte sich durch die verschiedenen Adressen, überlegte, ob es Sinn machte, das Smartphone aus der Tasche zu kramen und las sich die Bemerkungen zu den vielen angeblichen `Kliniken´ durch.

`In HospitalBy finden Sie das, das auf das von Ihnen benötigte Heilmittel spezialisiert ist, und kaufen Sie einen arzttermin in Denpasar, indem Sie sich direkt mit dem arzt in Verbindung setzen.´

„Häh?“, fragte sich die Chirurgin laut, während sie im Schatten der Bananenstaude ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat, „was soll das? Gibt es keine Fachabteilungen? Keine Spezialisten?“ Sie probierte es noch einmal:

`International SOS Bali Clinic – Bevor Sie sich für ein krankenhaus entscheiden, sollten Sie die Online-Rezensionen sorgfältig durchsehen, da sie den Service widerspiegeln, den Sie erhalten werden. Wenn Sie sich nicht sicher sind, ob Sie International SOS Bali Clinic als Referenz arzt wählen sollen, denken Sie daran, dass Raumplanung, medizinische Planung, Innenarchitektur, Beschilderung und Raumtrennung von entscheidender Bedeutung sind.

Auch wenn Sie die ärztezentrum-Kosten bei Ihrer Krankenversicherung geltend machen können, können Sie sich vorstellen, sie wegen der qualitativ hochwertigen und zu günstigen Preisen angebotenen Therapien auszuchecken. Menschen, die die beste arzt in der nähe Jalan By Pass Ngurah Rai 100X, Kuta, Bali 80361, Indonesia suchen, haben in der Umgebung eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Einschätzung.´

Allmählich ahnte Nero intuitiv, was die Sätze ihr sagen wollten und sie fand es lustig. Bei dieser `Information´ handelte sich um den Versuch, auf einer durch und durch kulturell andersartigen Insel, die sogar innerhalb des Indonesischen Reiches etwas Besonderes war, westliche Touristen anzulocken, und zwar mit einem vagen Abklatsch dessen, was man innerhalb des Hinduismus´ unter `westlicher Medizin´ verstand. Es war Mimikry, ein Krankenhausimitat! So wie man in Berlin `Nigerianische Traditionsmuster´ als Druckmotive auf Klamotten anpries oder `Original Italienische Küche´ von Immigranten aus dem Balkan angeboten wurde. Kein Wunder, dass die sonst so taffe Denise sich verschreckt abgewendet hatte. Es fing an, Nero Spaß zu machen:

`Eine Nachbarschaft krankenhaus wie KYOAI Medical Services mag ein Krisengebiet mit einem fantastischen Ruf haben, jedoch könnte der medizinische zentrum auf der anderen Seite von Denpasar einen viel besseren Status haben. Sie könnten also möglicherweise einen ärztezentrum für Notfallsituationen und einen anderen krankenhaus für eine andere Behandlung wählen. Wenn Sie nach einer Operation glauben, dass der betroffene Bereich mehr als normal schmerzt oder blutet, gehen Sie zu dem Spezialisten, der Sie behandelt hat, um zu sehen, ob etwas schief gelaufen ist.´

Etwas schief gelaufen?! Jetzt lachte Nero so heftig, dass das asiatische Instagrampärchen neben ihr irritiert sein Smartphone-Posing-Video des Tempels beendete, in dessen Schatten sich die Frau mit dem bunten Kaftan geparkt hatte, um in Ruhe zu entscheiden, wohin sie als nächstes gehen sollte. Es hatte keinen Sinn, weder das Posen mit Selfiestick vor ornamentreichen Ahnenschreinen noch die Suche nach einem Krankenhaus über das Internet. Nero stopfte die Zettel zurück in ihren kleinen Lederrucksack und setzte ihren Weg fort. Den nächsten Balinesen, der sie auf Englisch ansprach mit einem „Silahkan taksi? Transport? Can I help you? Good price!“, würde sie einfach nach der teuersten Privatklinik Balis fragen und sich notfalls dorthin fahren lassen.

Gesagt, getan. Nach einer Odyssee durch die abenteuerlich schönen, irrwitzig lebendigen Straßen und üppig begrünten Tempelgartengässchen der Touristenstadt mit ihren UV-gegrillten, blondgebleichten, stets bekifften Australiern gelangte Nero in eine Oase der Stille. Im alten Palast einer ehemaligen Fürstenfamilie hatte sich ein internationales Konsortium niedergelassen, das behauptete, den Segen moderner westlicher Medizin für alle anzubieten, für luxusverwöhnte `Westler´ wie für Indonesier. Puri mahal emas-perak stand über dem Eingang, um den adeligen Status der Klinik unmissverständlich klarzustellen und arme Leute aus dem Volk abzuschrecken. Der Haken an der Sache und zugleich die Zutrittsbarriere für Einheimische bestand darin, dass nur mit Kreditkarte in Dollar, Euro oder Yuan bezahlt werden konnte. Vorab. Nicht in Rupien. Nicht einmal das britische Pfund oder der Schweizer Franken waren gern gesehen und das machte die Patientenklientel einigermaßen überschaubar.

Energisch stapfte Nero die Steintreppen zur Palastklinik hoch und murmelte ein paar Worte vor sich hin, die sie unterwegs – beinahe wäre sie von einem Kuta-Cowboy mit Moped und Mundschutz überfahren worden – im Smartphone aus ihrem Übersetzungsprogramm für Bahasa Indonesia gelesen hatte. Sie wollte sich nicht darauf verlassen, dass alle Englisch sprachen, sondern nahm sich vor, gleich nach dem kepala, dem Chef zu verlangen und ihm zu erklären, dass sie dokter sei. Falls der Kollege kein Englisch sprach, würde sie ihm so charmant wie dominant ein paar Worte an den Kopf werfen, um gar nicht erst auf die Wartebank abgeschoben zu werden. Nero wusste, dass in Asien wie in Afrika sämtliche öffentlichen Behörden mit einer Bürokratie gesegnet waren, gegen die der Berliner Senat wie eine gutartige kleine Warze aussah. Die Gehälter waren schlecht, Beamte und ihre Helferlein mussten bestochen werden und mit bravem Anstehen und Warten kam man als Westler nicht weiter. Die Chirurgin konnte beherzt zupacken, bot eine imposante Figur und nahm sich vor zu versuchen, ihren höchstwahrscheinlich physisch unterlegenen Kollegen zu überrumpeln, um sich die nötigen Antworten zu verschaffen: an der Registrierung vorbei, ohne Behördenkram, Barcode-Scanner, ID-Überprüfung und touristische Formalitäten. So murmelte sie also mantraartig einige indonesische Begriffe für `Schwangerschaft´ – kehamilan – und `austragen´ – genap bulan – vor sich hin, umkurvte knapp einige weißgoldene Kolonialmöbel des Empfangsbereiches und trat an den obligatorischen Tresen mit den lächelnden und sich verbeugenden hübschen Balinesinnen heran. Temperamentvoll legte sie die Handflächen zusammen, verbeugte sich so tief, dass ihr violetter Turban die hohe Tischkante berührte, richtete sich auf und trompetete siegesgewiss: „Pembuat kehamilan genap bulan. Kepala dokter, minta.“ Sie war sich sicher, dass sie verstanden würde. Indonesisch war als Universalsprache einfach zu verwenden. Idiotensicher.

Die Balinesin sah sie mit großen Augen an und eine sehr junge Frau neben ihr mit ordentlich aufgereihten Rastalocken fing an zu kichern.

„Pembuat? Genap bulan?“ fragte die Empfangsdame irritiert. Und fügte mit der singenden leisen Stimme aller Balinesen in fließendem Englisch hinzu: „Hersteller? Vollmond? Ich weiß nicht, was Sie meinen. Aber zunächst einmal möchte ich Sie sehr herzlich in unserer schönen Klinik begrüßen, dem Puri mahal emas-perak. Was können wir für Sie tun?“

Erleichtert schwenkte Nero auf Englisch um, damit war ihr deutlich wohler. „Meine Freundin ist schwanger und braucht eine Untersuchung“, sagte sie. „Ich bin…“

Die kleine Rastafarianbezopfte neben ihr unterbrach die Erklärung durch ein wieherndes, sehr unhöfliches Lachen, was von der Balinesin mit einem ärgerlichen Blick quittiert wurde.

„Sie meint perempuan, nicht pembuat, Frau statt Hersteller“, lachte die kleine Freche und warf sich lässig auf einen Plastikstuhl hinter dem Tresen, sodass sie noch kleiner wirkte. Nichtsdestoweniger war die Energie, die von dem Mädchen ausging, baliuntypisch dominant. Selbstbewusst lästerte sie über die schwarze Ärztin: „Und genap bulan, der vollzählige Mond, soll wohl heißen, dass sie nicht wegen einer Abtreibung hier ist. Siapakah orang ibu, wer ist diese Dame eigentlich?“

Jetzt lächelte die Empfangsdame wieder, sie hatte verstanden. Es war gut, dass ihre Tochter ein Jahr in Australien gelernt hatte. Murni kannte sich mit interkulturellen Missverständnissen gut aus. Allerdings hatte ihre Tochter leider auch die höfliche Ausdrucksweise der Asiaten und ihre formvollendeten Manieren abgelegt.

„Sehr schön. Selamat datang, herzlich willkommen in unserer Klinik.“ Die elegante Balinesin reichte mit devoter Kopfbewegung einen Stapel Papiere zusammen mit einem billigen Plastikkuli über den Tresen, noch bevor Nero die Gelegenheit bekam, ihr Anliegen vorzutragen. Zugleich verfiel sie lächelnd und perfekt wie bei einer Bühnendarstellung in einen Singsang, der die Chirurgin in den ganz normalen bürokratischen Ablauf der Klinik einspeisen sollte. Noch einmal versuchte es Nero und bemühte sich, ihrem Englisch einen akademischen Oxford-Akzent zu verleihen: „Ich bin selbst Chirurgin und es geht nicht um mich, sondern um meine Freundin, die hier auf der Insel…“

Weiter kam sie nicht, denn die freundliche Empfangsdame neigte anmutig den Kopf und begann erneut mit ihrem auswendig gelernten Vortrag. `Wie eine Stewardess beim Abspulen der Notfallregeln´, resignierte Nero, griff sich den Stapel Papiere und schlurfte nachdenklich zu einer blendendweißen Rokoko-Chaiselongue, die mit goldenen Troddeln umfasst war. Am Barcode-Identifikationsritual kam sie also nicht vorbei. Hm. Unentschlossen blätterte die Ärztin in den Papieren. Was wollten die wissen? Name des Ehemannes oder der Ehefrauen. Der Ehefrauen, ernsthaft? Name, Beruf, Alter und Wohnort des Vaters oder eines anderen Bürgen. Ein Bürge? Wofür das denn? Name und Alter der Mutter, Wohnort von Geschwistern. Meine Güte! Wozu sollte das gut sein? Dagegen wirkte die Rubrik mit den Kontodaten und allen Telefonnummern, E-Mailadressen und eigenen Webseiten fast harmlos. Nero blätterte sich weiter durch die Unterlagen. Viel, viel Kleingedrucktes, alles auf Englisch. Zu Risiken und Nebenwirkungen…

Sie gab auf. Sie würde das Zeug zu Denise bringen, in ihrer alten Berliner Klinik anrufen und die Kollegen dort bitten, für sie zu recherchieren. Aber bevor sie verschwand, musste sie noch ihre Neugier stillen. Wie waren Kliniken in Indonesien organisiert? Warum wirkte alles so unnatürlich, wie eine Fassade, hinter die man nicht blicken konnte? Warum fühlte sie sich wie eine Statistin auf einer Bühne, auf der immer mal Schauspieler auftraten in Person von buntgekleideten Patienten, Personal in Laborkitteln und unterwürfigen Lieferanten?

Jetzt erst sah die Chirurgin, die zuvor – reichlich unasiatisch – auf die Empfangsdamen zugestürmt war, sich um. Wie bei den meisten Häusern auf Bali üblich, war die Zugangshalle zum Palastgebäude der Klinik überall hin offen und nur durch Säulen vom paradiesischen Garten getrennt. Inzwischen regnete es und einige Tropfen platschten nach drinnen auf den marmornen Fußboden. Eine Windbö setzte einen Vogelkäfig aus Messing in Bewegung, in dem der weiße Bali-Star schaukelte und prompt aufgebracht vor sich hin pfiff und quietschte. Die Tresenfrauen flüsterten leise miteinander und wiesen einzelne Neuankömmlinge in diesen oder jenen Gang hinein oder eine Treppe hoch. Sie beachteten die Chirurgin nicht, es sei denn aus dem Augenwinkel. Die Stille war wohltuend, überwältigend, nahezu adelig. Es musste die Ausstrahlung des alten Fürstenpalastes sein, schloss Nero und schlenderte zwischen den opulenten, auf Antiquität gestylten und mit weißem Lack überzogenen Möbeln umher. Gold und weiß – es blendete förmlich, obwohl draußen schwarze Wolken lauerten. Der Wind, der durch die Eingangshalle wehte, war wohltuend, die klebrig-schwüle Luft dadurch deutlich erträglicher. An den Wänden zwischen holzgeschnitzten Altären mit frischen Opfergaben bewegten sich große Werbebanner wie Mobilés an den typischen gebogenen Fahnenstangen. Vor einem der Dinger blieb Nero stehen. Sie musste es festhalten, weil es sich in der Windbö unablässig drehte und wand. Interessiert las die Ärztin: „Organtransplantationen – diskret, sauber, schnell. Ob Hornhaut oder Niere: Wir haben das passende Organ für Sie. Geben Sie Ihren genetischen Fingerabdruck ab und wir garantieren schnellstmögliche Lieferung und Rundumversorgung. AffiliatePartnership-Programme mit allen Kliniken weltweit – fragen Sie nach uns an der Rezeption“. Darunter eine lange Telefonnummer, die mit +852- begann. Was war das für eine Nummer? Deutschland hatte als internationale Vorwahl die +49- und Indonesien hatte doch irgendwas mit +6, dachte Nero. Gab es einen Organhändlerring, der auf Bali ganz offen und… ja: `diskret´ agierte? Oder verbarg sich etwas völlig Harmloses dahinter, weil sich asiatische Kliniken einfach nur ein wenig aufplustern wollten mit westlicher Wissenschaft vor westlichem Publikum? Auf einem zarten Kommödchen mit gedrechselten Beinen im Jugendstil-Look natürlich in weiß-gold, lag ein Stapel an Prospekten. Eigentlich lagen überall Prospektstapel herum, bemerkte Nero jetzt, aber alles war so unaufdringlich, so unsichtbar verführerisch, so… unwirklich. `Bloß jetzt nicht draufstützen´, mahnte sich die Chirurgin, sonst bricht das Dingens noch unter mir zusammen und dann bin ich schuld. Bestimmt unbezahlbar teuer hier. Sie war gespannt auf die hiesigen Preise für eine operative Versorgung und griff nach einem Prospekt. `Probanden gesucht!´, stand darauf. `Medizinisches Hochleistungslabor – high performance stand da tatsächlich! – sucht Freiwillige und Residenten für Medikamententests und neue Impfungen. Sie werden betreut durch ein internationales Ärzte- und Forscherteam. Die gesamte Behandlung, Vor- und Nachkontrollen sind GRATIS! Rufen Sie uns an unter +62-1520-9766614´.

Es reichte. Nero stopfte den Packen Anmeldepapiere sowie einige von den Flyern in ihr Rucksäckchen, nickte den lächelnden Tresendamen – die kleine Murni grinste herausfordernd, ihre Mutter lächelte elegant – kurz zu und stürmte so wild wie der Wind draußen zum Ausgang.

Dari mana – ke mana“, lächelte die Empfangsdame kryptisch, „woher – wohin“.

Ihre Tochter antwortete: „Cari angin – makan angin. Den Wind suchen – den Wind essen.“

Im losmen zurück, Nero hatte derweil Bekanntschaft mit den berüchtigten blauen taksis gemacht, die den Preis auf wundersame Weise während der Fahrt steigerten, holte die Chirurgin ihr Tablet aus dem Safe und wählte sich in eine Videokonferenz mit der Klinik ein, ihrem früheren Arbeitgeber. Henry war unterwegs, bis Sonnenuntergang war es noch Zeit. Da Oberarzt Goldner nach seinem Dienst nicht mehr da war, telefonierte sie mit dem Psychologen Bender, der seit Kurzem die kommissarische Geschäftsführung der Klinik innehatte und mit dem sie sich nach einem gemeinsamen dienstlichen Abenteuer gut verstand. Er versprach, sich nach einer Entbindungsklinik mit westlichem Standard umzusehen und empfahl den Kontakt zu einem psychiatrischen Kollegen im nordaustralischen Darwin, der seinerseits eine Privatklinik führte. Nero staunte: Wohin die modernen Managerleute überall vernetzt waren! Sie selbst war und blieb im Herzen Berlinerin, auch wenn ihre Familie aus Nigeria stammte. Berlin bedeutete ein Gefühl von tiefster, selbstzentrierter Provinz inmitten großstädtischen Wahnsinns.

Dann versuchte sie es noch einmal bei Matthias `Mr. Gogo´ Goldner. Diesmal hatte sie mehr Glück, denn sie kramte seine private Handynummer raus und ließ es endlos klingeln. Schließlich ging der Oberarzt der Chirurgie ran.

„Matthias, entschuldige, dass ich dich privat störe. Du hattest Dienst, richtig? Hab ich dich etwa geweckt?“

„Nero! Schön, von dir zu hören! Nein, ich hab nur Gitarre gespielt, darum hab ich das Handy nicht gehört. Du klingst, als seist du im Raum nebenan, die Verbindung ist toll nach Bali.“

„Ja, die haben hier ausgezeichnete Internetverbindungen im Touristenviertel, da lassen sie sich nicht lumpen. Weiter im Norden ist dann Sense. Stromausfälle, sagt Denise.“

„Die digitalen Nomaden brauchen ihren Stoff. Ohne ständige Onlinepräsenz fühlen sie sich gar nicht existent. Wie geht es unserer Frau Köhler?“, fragte Goldner neugierig. „Kommt sie klar mit dem Baby im Bauch? Die Gesundheitsversorgung in Indonesien soll immer noch… äh.. gelinde gesagt `gewöhnungsbedürftig´ sein.“

„Oh ja, das kannste laut sagen. Nach außen hin ist alles Chichi und glänzt golden“, Nero dachte an das kleine Jugendstil-Imitat-Kommödchen, „aber irgendwie ersaufen sie in Bürokratie. Scheint so `ne Art Schutzmantel zu sein. Nach innen lassen sie dich nicht reinblicken, erst musst du dich nackig machen und deine Daten abliefern. Und bezahlen. Stell dir vor, die wollen einen Bürgen! Ich frage mich, was die machen würden, wenn ich denen einen Koffer voll mit Dollarscheinen auf den Tisch knall´ und sag: `Einmal Blinddarm mit Vollnarkose, bitte, aber dalli!´“

Goldner lachte. Er kannte seine robuste Kollegin seit sehr langer Zeit, sie hatte ein weiches, mitfühlendes Wesen unter den kernigen Sprüchen. Sie machte sich große Sorgen. Das erkannte er an der Art, wie sie sprach.

„Ach, Nero, ich vermisse dich und deine Art hier – hast du schon mit Denise gesprochen? Gibt es einen Ultraschall? Sind Mutter und Kind gesund oder besteht die Gefahr einer Gestose?“

„Wir wollen uns bald treffen. Henry und ich fahren hoch nach Tschingderassa oder wie das Kaff heißt. Soweit ich weiß, ist sie in einer Klinik gewesen, aber angesichts der Umstände dort einfach weggerannt.“

„Denise, unsere alte Dennis? Das passt gar nicht zu ihr. Was ist denn passiert?“

„Ich glaub´, sie ist in die Abteilung für Einheimische geraten und da gab es natürlich exotischen Zauber. Wir sind schließlich auf der Insel der Götter.“

„Hach, ich weiß“, sagte Goldner, „vor Urzeiten war ich auch mal da. In Tschingderassa, wie du so schön sagst. Singaraja. Damals hatte ich noch einen Alabasterkörper, den ich zum Bräunen auf dem Surfbrett ausgelegt hatte.“

„Und? Hat ein Fisch angebissen?“

„Gottseidank nicht. Soll ja Haie geben dort…“

„Spässeken beiseite“, scherzte Nero, erleichtert, wieder in ihrer eigenen Fachsprache schwelgen zu dürfen mitsamt dem schwarzen Humor unter chirurgischen Kollegen. „Kannst du mir helfen? Wir brauchen dringend jemanden von der Insel, der uns ein Labor macht und einen Ultraschall ohne fünfundreißig Seiten Kleingedrucktes, einer Familienanamnese bis zum Mond und Barcode. Na, meinetwegen mit Barcode, aber dalli.“

„Ich seh, was ich tun kann. Versuch es mal mit einem Geldschein in der Hand, damit wedelst du ganz unauffällig. Notfalls nimm einen Dollar, der öffnet alle Türen.“

„Also doch mein Geldkoffer, hab ich´s doch geahnt. Aber Bargeld in einer professionellen Klinik?“, fragte die Chirurgin misstrauisch. „Das ist doch keine Behörde, kein Buschkrankenhaus! Die sind hochmodern hier und machen alles nur auf Kreditkarte.“

„Sie bluffen. Versuch es mal – du wirst staunen, wie glatt die Kommunikation plötzlich läuft.“ Goldner lachte. „Und erzähl mir nicht, dass ausgerechnet du nicht weißt, wie das funktioniert!“

„Ähem, Herr Kollege“, mahnte Nero streng, „wir wollen doch nicht rassistisch werden, Mister Gogo, nein?“

„Haben die auch Hautcremes mit Aufhellern in den Supermärkten?“, entgegnete Goldner scheinheilig. „Über das mangelnde Selbstbewusstsein der Äquatorländer hattest du dich vor nicht allzu langer Zeit beschwert, wie ich mich erinnere…“

Nero seufzte tief: „Du hast ja recht. Ich will bloß nicht einsehen, dass es überall auf der Welt Mogelpackungen gibt. Hier stehe ich mit meiner Hautfarbe tatsächlich am unteren Ende der Hierarchie. Mit meinem Beruf kann ich auch nicht punkten, jeder glaubt, ich sei Anhängsel meines Mannes. Also gut. Ich treff mich mit Denise und werde sehen, was ich für sie tun kann.“

„Und ich melde mich bei dir, sobald ich eine Adresse für dich habe.“

„Danke, du bist ein Engel, Matthias. Es tut gut, mit dir zu reden.“

Gogo schwieg und sagte dann ungewohnt sentimental: „Wir vermissen dich wirklich. Wann kommst du zurück? Kannst du nicht doch noch ein bisschen arbeiten? Ohne dein Regime geht es in der Ersten Hilfe drunter und drüber. Sie sind völlig überfordert.“

Auch Nero wurde still. Wenn sie an Berlin dachte, bekam sie Heimweh. Dabei war sie erst seit drei Tagen weg. Wie sollte das werden, wenn sie länger hierbleiben mussten?

„Ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Mach´s gut. Bis bald.“

„Japp“, sagte die Ärztin. „Bis denne.“

Sie legte das Smartphone beiseite, blickte nachdenklich auf ihr Tablet und durchdachte die Möglichkeiten. Als erstes brauchten sie einen fahrbaren Untersatz. „Am liebsten gepanzert“, murmelte sie und dachte an die halsbrecherischen Mopeds mit ihren Überholmanövern auf den schmalen, löchrigen Bürgersteigen, wenn es überhaupt welche gab. Die alte Ärztin im schicken Kaftan warf sich auf einen der Sitzsäcke, die überall im losmen herumlagen, und lehnte sich behaglich zurück. Als sie die Augen schloss und überlegte, wie lange sie dösen konnte, bevor ihr Mann von seiner Exkursion zurück war, kam ihr ein Gedanke in die Quere. Sie schnupperte mit geschlossenen Augen. Hmmmm…. was war das nur? Süßlich, würzig, ein bisschen Räucherstäbchen-Note, einfach lecker! Es erinnerte sie an…

Die runzlige kleine Köchin mit ihrem kunstvoll geknoteten Dutt lugte verschmitzt um die Ecke zum offenen Wohnraum: „Madam möchte auch eine?“ Ein losmen – auch Homestay genannt – war ein mehr oder weniger komfortables Haus mit einigen Zimmern, das oft als Ganzes an Gäste vermietet wurde. Die Häuser gehörten meistens Ausländern, Australiern, Europäern, Engländern, Amerikanern. Manchmal waren es ausgewanderte Hippies, die für wenig Geld alte Hütten aufgekauft und kreativ zu preiswerten Unterkünften umgebaut hatten. Der große Balihype war noch nicht vorbei, aber im Moment waren es eher Chinesen, welche ganze Küstenregionen aufkauften, die traditionellen Gebäude aus Holz abrissen und moderne Bettenburgen aus Beton hinstellten. „Brutalismus pur“, hatte Henry geknurrt, kurz bevor ihr Flieger zur Landung ansetzte und noch eine Kurve über der Bucht flog. Aber es gab sie noch, jede Menge kleiner Privatunterkünfte, meistens mit billigem Personal der Einheimischen gleich dazu. Jedes Häuschen besaß also einen Gärtner, eine Köchin, eine Reinigungskraft und eine Wäscherin, oft waren es ganze Familien, die Gäste empfingen, Betten bezogen, auf Wunsch auch kochten und vor allem sorgfältig die kleinen Hofgärtchen mit den steinernen Tempelschreinen in Schuss hielten.

Kretek?“, wisperte die Runzlige verschwörerisch, lehnte sich an einen Tragebalken des Vordaches und hielt Nero eine Schachtel hin.

Die Chirurgin taxierte ihr Gegenüber. Wie alt mochte sie sein? So alt wie sie selbst? Die braune Haut war wettergegerbt, aber ihre Augen leuchteten jugendlich. Nero wusste, dass sie selbst ein undefinierbares Alter hatte. Die beiden Frauen erkannten sich als `Familienmitglieder´ und lachten sich an. `Wie schön´, dachte Nero, `endlich mal eine Unterhaltung auf einer Augenhöhe.´ Nur zu gern hätte sie eine der wunderbar duftenden Nelkenzigaretten probiert und in schwesterlicher Eintracht die Köchin nach den hiesigen Kochgewohnheiten ausgefragt. Schließlich gehörte Bali zu den spice islands, den Gewürzinseln und das Essen war legendär. Diese Erdnusssoße zum Saté-Spießchen, der aus hygienischen Gründen frittierte Salat, gebackene Bananen, das unvergleichlich schmackhafte Obst – alles ein einziges Gedicht! Nero lief das Wasser im Mund zusammen. Beinahe hätte sie zugegriffen, der Geruch der Kräuterzigarette weckte in ihr ein altes Heimatgefühl.

„Ich rauche nicht mehr. Leider“, fügte sie nach einer kurzen Pause des Zweifelns hinzu. Die Ärztin seufzte tief; sie musste dabei derart herzzerreißend ausgesehen haben, dass die Köchin in der unterwürfigen Haltung aller balinesischen Angestellten – jedoch extrem lässig an ihrer Kretek saugend – in ein kindliches Lachen ausbrach. „Madam verpasst Bali, verpasst Leben?“, fragte sie vergnügt und hielt dabei immer noch herausfordernd die Schachtel in den Wohnraum hinein.

„Wir fahren nach Amed“, tönte es kraftvoll von draußen. Es polterte, als Henry vor der Veranda seine Schuhe abstreifte und dabei die Holztreppe als `Stiefelknecht´ benutzte. „Ich habe einen Mietwagen besorgt und wir können bei Aaron wohnen. Er hat ein Haus in Amed.“ Der stämmige Friese nickte der Köchin zu, die sich lautlos aus dem Eingang zurückziehen wollte und stapfte auf seine Frau im Sitzsack zu. Er beugte sich hinunter, gab Nero einen Schmatzer auf den Mund, um sich dann stolz wiederaufzurichten und zu verkünden: „Ich werde Wasserflugzeug lernen!“

„Fein. Wo liegt Amed?“, fragte die Ärztin und grinste. „Im Norden? Bei Tschingderassa?“ Sie sah ihren Mann durchdringend an und las seine Antwort aus dem Gesicht ab. „Nein. Nicht im Norden. Weiter weg. Ganz weit weg. Richtig?“

„Ooooch, Schatz…“, druckste Henry herum. „So groß ist die Insel gar nicht, und du kannst das Auto haben, während ich auf dem Wasser bin…“

„Du redest, als sei alles schon beschlossene Sache, mein Lieber. Hast du vergessen, dass wir wegen Denise hier sind?“

Gutmütig beugte sich der große Mann wieder zu Nero herab und strich ihr eine krause Haarsträhne hinters Ohr, die sich unerlaubt aus dem violetten Turban herausgestohlen hatte.

„Aaron ist Australier und hat wunderschöne Lodges auf der ganzen Insel. Er wird dir gefallen. Und seine Kontakte könnten auch für Carsten und Denise und ihr Baby nützlich sein. Und…“ Henrys Augen wurden vor Vergnügen ganz klein, die vielen Lachfältchen, die seine Frau so liebte, erschienen im Gesicht. „…Aaron stellt mit seiner Firma Aluplatten für Dächer aus alten Tetrapaks her. Vielleicht kann ich ihm als Gegenleistung für die Flugstunden mal aufs Dach steigen!“

Jetzt lachten sich beide Ehepartner an. Sie waren angekommen. Auf einer geheimnisvollen Insel. Zum Start ihres Rentnerlebens.

„Was hast du für eine Karre aufgetrieben?“, neckte ihn Nero. „Wie ich dich kenne, was Schickes mit viel PS?“ „Wenn wir Flügel dranschrauben“, gab Henry zurück, „können wir abheben. Dann sind wir moderne Drachen auf der alten Insel der Götter.“

K(L)EINE T.RÄUME - Band 3 aus dem speziellen Genre der Medizinischen Belletristik

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