Читать книгу K(L)EINE T.RÄUME - Band 3 aus dem speziellen Genre der Medizinischen Belletristik - Ben A. Deyval - Страница 15
ОглавлениеPura Luhur Batukaru
Ungewöhnlich bedächtig und in Gedanken versunken ging Nyoman die endlosen Treppen hoch, die auf die verschiedenen Ebenen des Pura Luhur Batukaru, des Tempels am Berg Batukaru führten. Schritt für Schritt, Stufe für Stufe, in priesterliches Reinweiß gekleidet. Es sah aus wie eine rituelle Meditationsübung, aber im Inneren des jungen Mannes rumorte es gewaltig. Der Name Nyoman bedeutete `der oder die Dritte´ und er hatte es seiner Mutter immer noch nicht verziehen, dass er nicht `Wayan´, der Erste sein durfte. Kinder einheimischer Eltern wurden auf Bali einfach durchnummeriert, von eins bis vier und wieder von vorn. Im gesamten hinduistischen Kulturraum spielte das Ego eines Kindes jenseits bestimmter Gottheiten-Identifikationen keine Rolle und das Individuum verschwand hinter der Gesamtheit eines Kollektivs. Familien, Kastenzugehörigkeit und Besitztümer nahmen von jeher eine größere Rolle ein als der Beruf und eigene Wünsche. Nyoman schnaubte und blickte hoch. Über ihm lag der Batukaru im Nebel verborgen und auch sein Ziel, der oberste der Tempel, war hinter vorbeiziehenden Schwaden verborgen. Irgendwo verbrannte jemand Plastik, ein beißender Dioxingeruch mischte sich in die Luftfeuchtigkeit. Affen kreischten und zankten unsichtbar in den Bergwäldern, Vögel trompeteten und Singzikaden machten einen Lärm für drei. Also alles wie gewohnt, Nyoman holte tief Luft und stieg weiter, Stufe für Stufe, Schritt für Schritt, ab und zu an einer ebenen Fläche vorbei, hinter der sich ein weiteres Tempeldach mit seinen vielen Schreinen aus Holz und bemoostem Stein erschloss.
`Nyoman´ – das klang wie Newman, fand seine Mutter, als Holländerin ebenfalls auf Bali geboren, und sie gab ihrem vor neunundzwanzig Jahren auf Bali zur Welt gelangten Sohn aus Spaß ihren eigenen Mädchennamen. Sein Vater lachte über den gelungenen Familienwitz immer noch und je mehr der Sohn zürnte, desto lauter lachte der Ingenieur, dessen Eltern seinerseits vor dem zweiten Weltkrieg nach Bali ausgewandert waren. Bali war schon immer eine verrückte Insel, die Künstler, Ethnologen und Hippies anzog. Manche nur kurz zu Besuch, viele länger und manche für immer, was zugegebenermaßen nicht ganz einfach war.
Nyoman stellte also ein Auswandererkind in dritter Generation dar. Außerdem war er pemangku, Priestergehilfe, und in dieser Funktion soeben auf dem Weg zu seinem Lehrer, Mangku Dewa Suparnata, welcher im touristisch unzugänglichen, obersten Teil der riesigen Tempelanlage sogenannte `geheime Opferungen´ darbrachte. Die Rituale waren Teil der spirituellen Ausbildung und dort oben, fernab des Alltags zeigte sich, welche Gottheit einem wohlgesonnen war und welche einem feindlich begegnete. Der pemangku Nyoman wandelte zwischen den Welten der Moderne und der Tradition, wie so viele junge Leute auf Bali. Nyoman hatte in China IT studiert, Information Technology, er verdiente sein Geld im Labor seiner Eltern in den Bergen, indem er hardware beschaffte. Der weißgekleidete Mann grinste in sich hinein. `Hardware´ war ein vielschichtiger Begriff und ließ genügend Spielraum für Interpretationen. Er war auf Bali geboren, hatte in China studiert und sprach fließend Indonesisch, Balinesisch, Englisch, Deutsch und Chinesisch. Und so liebte er es, frei zwischen allen kulturellen Ebenen nach Belieben hin und her zu wechseln wie ein Chamäleon und sich weder durch Berufe noch durch irgendwelche Traditionen festnageln zu lassen. Ursprünglich wollte er balian werden, was auf Bali ein schamanischer Magier mit hellseherischen Qualitäten ist, aber er schien zu kaltschnäuzig nüchtern für diese Profession. Er tickte anders, war zu Höherem bestimmt, das spürte er sehr deutlich. Und so hatte Nyoman den höchsten Priester des mächtigen Batukaru-Tempels gefragt, ob er bei ihm in die Lehre gehen dürfe. Ein echter mangku war ein von Göttern erwählter Weiser mit besonderen Gaben, der bestimmten materiellen Gegenständen magische Kräfte entlocken oder zuschreiben konnte. Ein mangku konnte Statuen weihen, Tempelzeremonien durchführen und musste auf allen großen und wichtigen Inselfesten dabei sein, um die Rituale zu beaufsichtigen. Weil auf der Insel der Götter tagtäglich die dämonischen Kräfte mit den guten Mächten kämpften, war es für alle Bewohner wichtig, sich korrekt zu verhalten. Die sozialen Regeln waren so vielfältig wie unübersichtlich und die mangku fungierten als oberste geistliche Schiedsrichter im System.
Ein pemangku hingegen durfte nur kleine Rituale gegen Geld durchführen. Er war zwar auch in weiß gekleidet, mit traditioneller Kopfbedeckung und einem Sarong, insofern konnten Fremde den Rang in dieser heiligen Hierarchie nicht ohne weiteres zuordnen, aber Nyomans Aufgabe bestand darin, im Umkreis seines Wohnortes Jatiluwih Gebete zu sprechen, Menschen, Tiere und Fahrzeuge vor einer Fahrt zu segnen und ab und zu mithilfe einer besonderen Münze Verliebten die Zukunft vorherzusagen oder andere familiäre Entscheidungen zu treffen. Das reichte Nyoman völlig aus, um anzuwenden, was er in China neben dem Studium gelernt hatte: Online-Poker. Bluffen war sein Geschäft, wenn er auch damit nie richtig Geld gewonnen hatte.
Kurz zögerte der Priestergehilfe, blieb auf einem Treppenabsatz stehen und blickte die vielen Stufen zurück, die er ohne zu schnaufen und leichtfüßig wie ein Äffchen hochgeklettert war. Unter ihm lagen, gerade noch im Nebeldunst sichtbar, die beiden großen Torpfeiler des Eingangs, vor denen sich die Touristen in Anwesenheit gewiefter Verkäufer in `ordentliche´ Sarongs hüllen mussten, bevor sie den heiligen Bezirk betreten durften. Schwangere oder menstruierende Frauen durften nicht hinein, überprüft wurde es jedoch nie. Unten verhandelte gerade eine Gruppe hellhäutiger Touristinnen den Preis für die Miete eines der gelbgemusterten Sarongs mit Hüftschal. Nyoman grinste und erinnerte sich, dass er für die Versuchstiere im Labor noch Futter besorgen musste.
Auf der obersten Plattform, im abgesperrten Tempelbereich machte der pemangku zunächst einige Verbeugungen in alle Himmelsrichtungen, ging dann zu den überdachten Schreinen aus Holz und Stein und brachte seine Opfergaben dar, die er in einem weißen Stoffbeutel mitgebracht hatte. Blüten, Räucherstäbchen, einige Salak, Schlangenfrüchte, außerdem eine große Durian, die berühmte Stinkfrucht, und den eingewickelten Reiskeks, den ihm seine Nachbarin in Jatiluwih für den Gott Shiva mitgegeben hatte, um für eine gute Heirat ihrer Enkelin zu sorgen. All dies legte er auf verschiedenen Altären, steinernen Vorsprüngen und hölzernen Schreinen mit bunten Gardinen aus. Er zündete unter weiteren Verbeugungen und einigen Beschwörungsformeln das Räucherwerk sowie einige Teelichter an und schließlich durchzog der würzige Duft der Opferung den Tempelbereich. Da es in der Zwischenzeit angefangen hatte zu regnen, war der Gestank von verbranntem Plastikmüll verschwunden und wurde ersetzt durch den eigenartigen Verwesungsgeruch der Durian. Böse Zungen meinten, die Frucht, nach der die Kopfbedeckung der thailändischen Buddhas benannt war, röche wie Erbrochenes.
Da Nyoman seinen Lehrer nicht finden konnte, setzte er sich unter das große Dach auf eine Schilfmatte gegenüber einer großen, hässlichen Statue der Hexe Rangda. Der Weißgekleidete verknotete seine Beine zum halben Lotossitz, fischte ein weiteres Teelicht aus seinem Beutel und zündete es an, um es vor sich in einem in Stein gemeißelten magischen Kreis zu platzieren. Das Licht stellte das Zentrum dar, die Sonne, die Gottheit. Hinter ihm huschte es, dann ein Kratzen, ein Knuspern. Ein Affe hatte sich eine Opfergabe vom Altar geklaut. Auch Affen waren Teil der Heiligen Gottheit und durften nicht gejagt werden, höchstens mit einem Stock vertrieben, wenn sie allzu aufdringlich oder aggressiv wurden.
Seine Blüten würden sie jedoch verschmähen, lachte Nyoman in sich hinein, etwas zu Essen hatte er nicht mehr im Beutel. Der junge Aushilfspriester suchte nun ganz unten im Stoffbeutel nach den restlichen Blumen, die er vor seiner Fahrt nach Batukaru gesammelt hatte, säuberlich nach Farben getrennt. Um das Licht herum exakt auf den Steinkreis legte er zunächst einen Kreis aus duftenden Kenangablüten. Mit hoher Falsettstimme sang der pemangku dabei ein Mantra vor sich hin, immer und immer wieder, bis er in den Schwaden des vor sich hinwabernden Rauches von den Altären in Trance fiel. Nichts war mehr wichtig. Es gab kein Gestern und kein Morgen, nur das Hier und Jetzt. Er war mit der Gottheit allein. Er war mit der Gottheit verbunden. Er war die Gottheit. Die Gottheit wandte sich ihm zu und fragte: „Was willst du wissen?“
Noch mehr Blüten, Hibiskus, der Weiße legte erst einen roten geknickten Arm vom grünen Kreis aus und sang ein neues Mantra, diesmal mit tiefer Stimme, dann gegenüber einen weiteren Arm aus blauen Frangipani zur zweiten Strophe seines fast unhörbaren inneren Liedes. Die Flamme des Teelichts in der Mitte loderte kurz auf und wurde winzig, obwohl er sie nicht berührt hatte. Wieder fragte die Gottheit: „Was brauchst du von mir? Was willst du?“
Und wieder griff der Mann in Trance in den Beutel neben ihm, während einige kleine Affen aus sicherer Entfernung zusahen. Einer kratzte sich den Hintern, ein anderer gähnte. Gelbe Blüten und weiße, zwei weitere Arme, zwei weitere Strophen des geheimen Gesanges. Schließlich verstummte der pemangku und blickte auf die farbige svastika vor ihm. Das Sonnenrad, das jahrtausendealte Heilssymbol, das da heißt „Alles sei gut“. Nyoman hielt inne und verharrte ganz still. Seine glasigen Augen verrieten die tiefe Trance, in der er sich befand. Die Geräuschlosigkeit der vorbeiwehenden Wolken hoch oben am Batukaru ergriff auch die Tiere. Die Welt schien stillzustehen und zu warten, mit dem pemangku zusammen. Kein einziges Geräusch, kaum Licht, alles wurde vom dichten grauen Nebel verschluckt. Es war, als wäre es Nacht, dabei war es nur das übliche Wetter hier oben. Magisch. Der Weißgekleidete hörte zu, nahm die unsichtbaren Formen in sich auf, die um sein kleines Teelicht herum erschienen wie Geister. Die Gottheit sprach zu ihm, gab ihm eine Anweisung.
Das Teelicht war halb leer, als eine nasse Windbö durch den offenen Tempel fegte. Die Affen kreischten auf. Ein großer Vogel, der unter dem Dach Schutz gesucht hatte, wurde weitergetrieben, flog eine Runde und verschwand im dichten Nebel. Die Schwaden der Opferung waren längst verschwunden. Nur dichte, feuchte Luft war übrig geblieben zusammen mit einer Spur Verwesung von der Durian auf dem Altar. Das Licht flackerte und erlosch. Sein Zeichen für Aufbruch. Nyoman richtete sich auf, faltete seine Beine auseinander und rieb sich die schmerzenden Knie. Nach fünf Minuten stand er mühsam auf, verbeugte sich vor der Rangda-Statue, nahm seinen Beutel, ließ die Opfergaben achtlos liegen und wankte noch ein wenig benommen zur Treppe. Seinem Lehrer war er heute nicht begegnet, aber das geschah öfter. Die Götter waren seine Lehrer. Er wusste nun, was er zu tun hatte. Das Hirn des Hilfspriesters ratterte, als er die Stufen hinabtrottete. Eins seiner Mobiltelefone in der Hemdtasche summte nun schon zum zweiten Mal, sodass er es jetzt zur Hand nahm und nachsah. Zwei Nachrichten auf der Mailbox, aber sieben auf der Anrufliste. Von Messengerdiensten hielt er sich fern. In China hatte er gelernt, wie leicht man deanonymisiert und detektiert werden konnte. Seine Mutter hatte eine Nachricht hinterlassen. Sie war ärgerlich, weil wieder einer der Laborserver ausgefallen war. Beim letzten Mal handelte es sich um einen kleinen Flughund, der durch die Lüftungsschlitze des Computergehäuses geklettert war und mit seinem Kot eine Platine kurzgeschlossen hatte. Was es wohl jetzt wieder war? Er würde später zurückrufen. Nyoman musste erst in sein Dorf zurück und etwas klären. Es gab Ärger mit illegalen Hahnenkämpfen. Die andere Nummer auf der Mailbox war ein ihm unbekannter Anschluss, wahrscheinlich ein Interessent auf seine Inserate. Auf der Mailbox war jedoch nur ein Rauschen zu hören sowie ein paar gedämpfte Stimmen im Hintergrund. `Na ja, sie mussten wohl erst noch überlegen´, dachte Nyoman. Die meisten testeten erst einmal die Telefonnummer aus und entschlossen sich im zweiten Anlauf, sein Angebot anzunehmen.
Der hübsche pemangku undefinierbarer Ethnie – Nyoman hatte blondgebleichte Haare, walnussbraune Augen und einen eher dunklen Teint – lief treppab an japanischen Touristinnen vorbei, die in gelben Mietsarongs über ihren knappen grellbunten Yogasuits mit unhandlichen Sticks ein Selfie nach dem anderen machten. Er grüßte sie freundlich, man konnte nie wissen, ob nicht eine Kundin darunter sein würde. Sie kicherten schüchtern zurück. Eine Etage weiter unten fachsimpelten die dazugehörigen Männer über den Bambushain mit Schreinen, der ein Touristenmagnet und beliebtes Fotomotiv auf Instagram war. Japaner erkannte man stets an der adretten Kleidung, die Männer in schwarzweiß gehüllt. So waren sie es von Meetings gewohnt und so hielten sie es auch im Ausland. Nyoman grüßte auch sie mit einer Namasté-Geste und lief leichtfüßig die aberhunderte von Stufen abwärts. Je weiter er nach unten gelangte, desto wärmer und klebriger wurde die Luft. Nieselregen ereignete sich zumeist nur auf den obersten beiden Plattformen des Bergtempelgeländes, die unsichtbar verhüllt in den Wolken lagen. Den Göttern so nahe, kaja, bergwärts war alles heilig. Hier entstand das Quellwasser, tirta. Das Meer war kelod. Die dummen Touristen, die das Meer verehrten und den Regen verachteten, kannten diese göttlichen Zusammenhänge nicht, und so drehten sie um, sobald sie in Höhen kamen, in denen die Sonne verschwand.
Der Weißgekleidete schritt durch die riesigen beiden Torstelen, welche den Eingang zum Tempel Pura Luhur Batukaru markierten, suchte seinen Motorroller, setzte sich einen Helm auf und fuhr los. Es gab viel zu organisieren, wollte er, dem Wunsch der Götter gemäß, das Dorffest in Jatiluwih gestalten. Für einen Barongtanz brauchte es ein perfekt passendes Ensemble, denn den Tanz der Krieger zur Gamelanmusik beherrschte nicht jeder Einheimische und nicht jedes Gamelan-Orchester konnte sich auf die wilden Tänze so einstimmen, dass sich die Stimmung zum Höhepunkt der kollektiven Trance hochschaukelte. Nyoman wusste, wen er fragen musste, aber die Bezahlung der Musiker und Tänzer war noch nicht gesichert. Vielleicht würden seine Eltern etwas zuschießen. Er würde sofort seine Mutter kontaktieren und ihr Hilfe im Labor anbieten.