Читать книгу K(L)EINE T.RÄUME - Band 3 aus dem speziellen Genre der Medizinischen Belletristik - Ben A. Deyval - Страница 9

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Singaraja

Die in der – vielleicht – dreißigsten Woche schwangere Denise Köhler sah sich auf dem Markt in der kleinen Stadt nahe dem Meer um. Denise war immer wieder aufs Neue überwältigt von der Opulenz und Lebendigkeit balinesischer Märkte. Die Einheimischen machten aus allem ein Fest. Fuhr man mit dem Auto oder einem Roller über die Insel, stachen einem die anmutigen Frauen ins Auge, die gigantische Türme von Obst und gelegentlich leere Körbe auf dem Kopf trugen und trotzdem in der Lage waren, in ihren festlichen Wickelröcken trittsicher am Straßenrand zu trippeln. Männer saßen in Gruppen zusammen, rauchten, berieten sich über das nahende Neujahrsfest, das es so nur auf Bali gab und im März stattfand. Vereinzelt standen sie schon auf Gestellen und unter Planen herum, jene Ogoh-ogohs: übermannshohe Dämonenfiguren aus Pappmaché, so liebevoll wie blutrünstig bis ins Detail geplant. In Singaraja sah es aus wie beim Karneval in Köln. Überall lächelte man ihr zu, winkte sie heran, permanent versuchten Frauen, sie auf ihre Ware an den kleinen Ständen aufmerksam zu machen. Die Auslagen waren überwältigend bunt und vielfältig; von Obst, Reis, Bambuswaren, Opferschälchen über Sarongs, handgewebte ikat-Tücher, Hüftschals, Flipflops, T-Shirts bis hin zu etlichen kleinen mobilen Ständen mit Garküchen fand sich alles Lebensnotwendige auf Balis kleinen Märkten. Das bunte Treiben gefiel Denise sehr gut, sie kaufte gerne ein und hatte im Laufe der Wochen und Monate ein paar Sätze Indonesisch und sogar einige Worte auf Balinesisch sprechen gelernt. Indonesisch beruhte auf der alten Handelssprache Malayu kuno, es stellte das kulturelle Bindeglied unendlich vieler Volksstämme dar mit ihren eigenen Dialekten auf den Inseln des sogenannten `Pazifischen Feuerrings´ und war relativ simpel zu lernen. Die pragmatische Amtssprache diente dazu, amtliche Regeln und Gesetze überall gleichermaßen anzuwenden. Nur so ließen sich über verschiedene Regionen hinweg die unterschiedlichsten Kulturen miteinander verbinden und eine einheitliche Regierung gewährleisten. Der Regierungssitz Indonesiens befand sich in Jakarta auf der riesigen Nachbarinsel Java. Aber Balinesen lebten schon immer `anders´ als die übrigen Bewohner der sogenannten Gewürzinseln. War die offizielle Staatsreligion in Indonesien der Islam, so praktizierten neunzig Prozent der Bevölkerung auf Bali den Hinduismus – allerdings in einer sehr speziellen Form. Bali war dafür berühmt, Ideen fremder Besucher zu absorbieren und bei sich einzubauen. So entstand der angeblich traditionelle `Kecak´, der berühmte Affentanz, während der Dreharbeiten eines Filmes des deutschen Malers und Aussteigers Walter Spies in den Neunzehnhundertdreißigerjahren. Einige Balinesen hatten die beeindruckende Choreographie und Musik für den Film einstudiert und später kurzerhand in ihr Repertoire traditioneller Tänze und Ritualtheater übernommen, als sei es schon immer Teil ihrer Kultur gewesen.

Bali mit seiner naturgegebenen Üppigkeit und den lebhaften, freundlichen kleinen Menschen gefiel Denise gut, während ihr Partner Carsten mit der völlig anderen Lebensart weniger gut zurechtkam. Beide waren sie in ihrem `früheren Leben´ Beamte gewesen, ordentlich integriert in den Berliner Großstadtdschungel, in dem man ständig dachte, nur dort gäbe es Vielfalt und wahres Leben. Bei dem Gedanken an ihre Kollegen von der Berliner Berufsfeuerwehr, die mit ihr in der Rettungsleitstelle gearbeitet hatten, musste die sportliche kleine Frau lachen. Ob es ihnen hier gefallen hätte? Oder würden sie auch so rumnörgeln wie Carsten, der als ordnungsliebender Mathelehrer das Chaos hasste wie die Pest? Wie sollte es nur werden, wenn er der Vater des ungeborenen Kindes sein wollte? Er war doch selbst noch ein Kind. Nie richtig erwachsen geworden und auf der Suche nach dem Guten, Echten, Schönen, wie sie selbst…

„Hallo, Kleines, wie geht es dir heute?“, fragte sie das Baby in ihrem Bauch. Intuitiv fasste sich Denise auf ihre bereits beachtlich gewölbte Kugel. Wie das Wesen da drin es wohl empfand, wenn die kleine Feuerwehrfrau weiter sportlich aktiv war, auf ihrem Moped über Stock und Stein fuhr und mit Touristen auf Surfbrettern stand? Beim Tauchen war sie vorsichtig geworden, das überließ sie lieber Carsten, denn sie wusste nicht, wie gefährlich die Druckunterschiede für das Ungeborene sein würden, vor allem, wenn sich Stickstoff im Blut bildete. Die Gefahr einer Verstopfung der Nabelschnurgefäße – Embolie nannte sich das – war zu groß, vor allem weil das Krankenhaus in Denpasar von Lovina aus schwer erreichbar war. Hier oben im Norden gab es nur kleine Krankenstationen, wenn überhaupt, und man war auf sich selbst gestellt. Notarztwagen existierten nicht und wegen einer Schwangeren würde man ganz bestimmt keinen Helikopter auf den Weg schicken. Als Feuerwehrfrau und Rettungssanitäterin kannte sich Denise zwar einigermaßen gut aus in medizinischen Notfällen, aber in dieser Zeit vermisste sie doch ihre Freundinnen aus der Klinik Berlin Süd, mit denen sie bis vor einem halben Jahr beruflich wie privat viel Kontakt hatte. Jetzt lebten sie auf der anderen Seite der Erdkugel und hatten einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus. Alles irgendwie verschoben. Seltsam, dachte Denise und schüttelte den wilden Lockenkopf, um ihre sorgenvollen Gedanken loszuwerden.

„Vielleicht kommt Nero bald wie versprochen zu Besuch“, tröstete sie sich, denn hier in dieser Gegend ein Kind gebären zu müssen, war ihr nicht geheuer. Sie hatte erst zusammen mit Carsten und schließlich allein versucht, einen gynäkologischen Vorsorgetermin in Denpasar zu vereinbaren, als dem Paar kurz nach Ankunft auf der Insel klar wurde, dass sie schwanger war. Jedoch waren die Abläufe und Sichtweisen in den hiesigen Kliniken derart seltsam, ja fast unheimlich, dass sie nicht wussten, wie sie sich jetzt verhalten sollten. Auch Kenny the Bear, ihr gemeinsamer Freund, sonst in allen Belangen ein Tausendsassa, war hier in der Fremde keine Hilfe. Sie saßen fest auf Bali. Es gab kein Zurück, denn Carsten und Denise hatten einen Vertrag unterschrieben, die kleine Tauchschule am Lovina Beach für ein Jahr kommissarisch zu übernehmen und zu leiten. Ein Sabbatical mit Arbeitseinsatz, so hatten Carsten und sie es sich ausgemalt und die unbezahlte Auszeit mit Müh und Not mit ihrem Arbeitgeber, dem Land Berlin, vereinbart. Denise hatte nicht vor, zurückzukehren, aber das verschwieg sie sicherheitshalber. Man konnte nie wissen, was sich ergab. Vielleicht wurde einer von ihnen ernsthaft krank? Sie mussten flexibel bleiben, immer auf dem Sprung. Aber niemand hatte ihnen gesagt, dass es in der `Tauch- und Surfschule´ weder Angestellte noch eine Marketingstrategie gab. Es handelte sich um eine marode Strandhütte mit alten Brettern, Riggs und Segeln und einem nicht mehr ganz taufrischen Tauchequipment sowie einigen englischsprachigen Ausbildungsbüchern mit Eselsohren, von Salz und Sonne angenagt. Zu spät. Sie saßen in der Falle und wussten nicht weiter. Natürlich gab es Internet, schließlich lebte man auf Bali nicht hinter dem Mond, aber…

S´lamat siang“, tönte es melodisch hinter der Frau mit dem leuchtendroten Lockenkopf und Denise drehte sich um. Eine hübsche Balinesin im bunten Sarong steuerte fröhlich auf sie zu und lächelte sie mit ihrer seltsamen Lücke zwischen den rituell gefeilten Schneidezähnen an: „Mau ke mana ibu? How are you, Ma´am and where are you going now?“ Wayan, ihre Freundin, eine zähe kleine Masseurin, sprach sie mit der förmlichen Anrede `ibu´ – Frau – an, weil es im Indonesischen kein direktes `Du´ gab.

Denise setzte die Sonnenbrille ab, mit der sie sich vor neugierigen Blicken schützte – wie sie damit auch ihre eigene Neugier verstecken konnte – und lachte zurück:

Saya jalan-jalan“, antwortete sie, „ich gehe spazieren. Einkaufen“, fügte sie hinzu und zeigte in die Runde.

Disini terlalu mahal, zu teuer hier“, schüttelte Wayan den Kopf, „komm, ich zeig dir, wo du billig kaufen kannst.“

Denise kannte den Trick bereits zur Genüge. Obwohl Wayan ihre Freundin war, wollte sie ihr ständig etwas verkaufen, schleppte sie in irgendein warung, einen Laden, wo eine weitere `Freundin´ etwas unter dem Ladentisch hervorzog und anpries. An die quirlige Sprachmischung aus australischem Englisch, Indonesisch und balinesischen Bezeichnungen hatte sie sich gewöhnt, nicht jedoch an die Pflicht, ständig feilschen zu müssen. Man konnte nicht wie in Berlin einfach irgendwohin gehen, auf etwas zeigen und es für den angegebenen Preis kaufen, nein, man musste ständig handeln und verhandeln als ginge es um Leben und Tod. Es war die ganz normale Art, wie auf Bali soziale Beziehungen ausgehandelt wurden. Diese spezielle Kommunikation entschied darüber, ob man an der Gemeinschaft teilhaben durfte oder nicht. In einem fremden Land empfahl es sich, schnell zu lernen. Vor allem, wenn man schwanger war und nicht wusste, was für Krankheiten und Gefahren hinter der nächsten Ecke lauerten. Infektionen in tropischen Ländern waren unter Touristen am meisten gefürchtet. Malaria, Gelbfieber, Lepra, Bilharziose! Das komplette Panoptikum aller Bazillen dieses Planeten, in nördlichen Breiten eher überschaubar, fand unter den feuchtwarmen Bedingungen der Tropen ein Paradies vor. Der gängige Spruch lautete: „Boil it, peel it, cook it or forget it“, alles vermeiden, was nicht gekocht ist oder gepellt werden kann.

Die Sache mit dem `Nein´ war auch recht komplex. Wurde es einer Ausländerin noch verziehen, wenn sie deutliches Missfallen äußerte, so war es doch äußerst ungünstig, den Gesprächspartner in die Verlegenheit zu bringen, sagen zu müssen: „Nein, das haben wir leider nicht.“ Selbst in guten Restaurants mit internationalen Gästen hatte es zur Folge, dass eine perfekt gekleidete Dame mit eleganter Geste einem die riesige Speisekarte in mehreren Sprachen überreichte, man aber auf gar keinen Fall etwas davon bestellen durfte. Es wurde erwartet, dass der Gast höflich zurückfragte: „Was kann die Frau empfehlen?“ und prompt zeigte die Bedienung auf jene drei Gerichte, welche gerade in der kleinen Garküche nebenan verfügbar waren. Immer mit Reis, denn Bali war die Reiskammer der Region. Dafür war alles frisch, zumindest wenn man nicht in Kuta bei McDonalds einen Hamburger bestellte. Und auch das Bier schmeckte gut, Bintang. Denise seufzte, denn Alkohol war neben dem Tauchsport das erste, was sie sich verbieten musste, seit sie wusste, dass sie schwanger war.

Die junge Balinesin Wayan sah sie immer noch erwartungsvoll an. Zwischen den rotgeschminkten Lippen blitzte ihre Zahnlücke hervor. Die Familie der Masseurin war zu arm, um sich einen Zahnarzt leisten zu können, aber immerhin reich genug, um sie als Jugendliche dem beinahe ebenso teuren Ritual einer Zahnfeilung zuzuführen. Knapp konnte sich Denise ein Kopfschütteln verkneifen, denn das hätte auf Bali glatte Zustimmung signalisiert. Stattdessen sagte sie: „Terima kasih ibu, thank you, danke“, sie korrigierte sich sofort und versuchte es noch einmal, diesmal mit verschlucktem e, „t´rima kasih, Wayan, danke, aber ich brauche etwas Obst und Gemüse für Zuhause. Carsten wartet sicher schon auf mich.“

Du machst jam karet, ja? Gummistunde? Pak Carsten muss auf ibu Denise warten, das ist nicht schlimm.“

Denise lachte so heftig auf, dass die Marktfrauen an den Ständen neugierig zu den beiden Freundinnen herübersahen. War das die schwangere belanda aus dem Reisfeld in Pemaron, die sich so unbeschwert mit Wayan unterhielt? Wie oft war sie hier? Konnte man mit ihr Geschäfte machen oder war sie nur eine von den Hippies, die alles umsonst haben wollten und Gastfreundschaft ausnutzen? Alle westlichen Menschen, alle weißen orang waren belanda. Holländer.

„Frische Fisch sollte Sie auch nehmen, für bayi“, meinte Wayan auf Englisch mit ihrem gewöhnungsbedürftigen indonesischen Akzent und deutete erst auf Denises Bauch und dann auf einen winzigen, schilfgedeckten mobilen Stand. „Made dort drüben hat beste Fisch, soll ich Sie mitkomm´?“

Denise seufzte. Ihre Freundin war heute unerbittlich geschäftstüchtig, sie schien dringend Geld zu brauchen. Wahrscheinlich holte sie sich hinterher bei Made ihren Schlepper-Obolus ab. Sie hatte bereits gelernt, dass Fleisch, auf dem keine Insekten saßen, mit Chemie vollgepumpt war und dass man besser welches nahm, auf dem Fliegen saßen. Es war immer noch eine Überwindung, aber in der Not frisst der Teufel… eben.

„Erklär mir lieber nochmal die verschiedenen Namen für Reis“, versuchte sie es mit einem Ablenkungsmanöver, „das krieg´ ich immer noch nicht auf die Reihe. Padi ist die Flüssigkeit in der Hülse, richtig? Gabah wenn ich das Korn rausmache, b´ras ist geschält und nasi gekocht?“

Ya,“ bestätigte Wayan lächelnd, „am besten schmeckt nasi putih mit ikan und kacang. Made sagt dir, was für Zutaten du für kari ikan brauchst. Du machst Fischcurry heute, ist gut für dein Baby.“

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