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3.2 Grundlagen der Konfliktsoziologie

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Entkommt man dieser Schwierigkeit, wenn man sich einfach an Grundlagentheorien der Streit- und Konfliktsoziologie hält? Einige der angesprochenen Theorieprobleme – besonders im Blick auf die paradoxe Dynamik von Wettkämpfen – finden sich bereits in klassischen Positionen angelegt. So registriert etwa Georg Simmel1 äußerst feinfühlig, welche Spannungen Vergesellschaftungsprozesse des Streits begleiten. Doch ebenso deutlich zeigen sich die Schwierigkeiten, wie konvergierende und divergierende Bewegungen als Einheit zu fassen seien. Simmel sichtet dieses Problem an einem schillernden Spektrum von Kampfformen der unterschiedlichsten ›sozialen Kreise‹: von Rechtsstreitigkeiten und alltäglichen Aggressionen im Stadtleben bis zur Eifersucht von Ehepartnern, vom Kriegsverhalten der Indianer bis zu Disputen der Wissenschaft, von Rivalitäten unter mittelalterlichen Adelshöfen, Katholiken und Protestanten oder unter Künstlern bis zum biologischen Daseinskampf. Alle diese Fälle verbinde Nähe und Widerstreben, wie Simmel am Beispiel von Konkurrenten erläutert:

Man pflegt von der Konkurrenz ihre vergiftenden, zersprengenden, zerstörenden Wirkungen hervorzuheben und im übrigen nur jene inhaltlichen Werte als ihre Produkte anzugeben. Daneben aber steht doch diese ungeheure vergesellschaftende Wirkung: sie zwingt den Bewerber, der einen Mitbewerber neben sich hat und häufig erst hierdurch eigentlicher Bewerber wird, dem Umworbenen entgegen- und nahezukommen, sich ihm zu verbinden, seine Schwächen und Stärken zu erkunden und sich ihnen anzupassen […]. (S. 327)

Nicht nur triadische Relationen der Konkurrenz setzten solche Nähe voraus, im »Verweben von tausend soziologischen Fäden durch die Konzentrierung des Bewußtseins auf das Wollen und Fühlen und Denken der Mitmenschen« (S. 328). Ganz allgemein müssten jegliche »Gegner ein Gemeinsames haben, über dem sich erst ihr Kampf erhebt« (S. 310): »beiderseitige Anerkennung« der Akteure über gemeinsame Objekte des Begehrens (S. 306), institutionalisierte Streitordnungen und der »Zusammenschluß« (S. 360; 354–368) von disparaten Elementen zu Interessenseiten, Gruppen oder Parteien kennzeichneten jegliche Formen und Sphären des Streits. In strukturellem Sinne sieht Simmel darin »ein Gegeneinander, das mit dem Füreinander unter einen höheren Begriff gehört« (S. 284). Kampf tritt damit als paradoxe Beziehung hervor, die sich unter verschiedenen Aspekten näher bestimmen lässt, u.a.

 als zirkulär gebaute, exzessive Dynamik;2

 als »Verweben«, das innerhalb wie auch zwischen Streitenden Komplexität aufbaut (S. 328);

 als Möglichkeit, Differenz zusammenzuführen und Intensitäten zu verstärken (S. 327, 329);

 als Risiko, Relationen und Positionen sowohl zu fördern (S. 325) als auch zu zerstören (S. 289).

Für eine formale Beschreibung von Wettkämpfen liefert Simmel damit wichtige Gesichtspunkte. Ebenso grundlegend ist der Hinweis, dass Streit nicht bloß durch Außenabgrenzung die sozialen Relationen einer Gruppe verstärkt, sondern auch deren Binnenkohärenz durch interne Differenzen erhöht. Für den Zusammenhang von Wettkampf- und Kulturformen ist dies von systematischer Bedeutung, insofern Streit damit als paradoxes Muster der Komplexitätsbildung lesbar wird.3

Trotz ausdrücklicher Neigungen zum Paradoxen,4 trotz deskriptiver Sensibilität: Ebenso deutlich zeichnen sich aber Simmels Schwierigkeiten ab, die paradoxe Form des Streits »unter einen höheren Begriff« zu bringen. Mal bleiben seine suchenden Formulierungen vage (z.B. S. 284: »um zu irgend einer Art von Einheit […] zu gelangen«), dann greifen sie umso entschiedener zu metaphysischen Einheitskonzepten: »streitmäßig[e] Beziehungen« sieht Simmel demgemäß auf das Gesamt einer »Lebenseinheit« rückbezogen, deren »Verbindungen« – »unserem Verstande ungreifbar« – eine »mystische Einheit« bildeten (S. 291). Am häufigsten greift Simmel jedoch zum psychologischen Vokabular der Empfindungen, um paradoxe Zumutungen annehmbar zu formulieren: Verbindende und zerstörende Wirkungen des Kampfes mündeten in ein »Mischgefühl« (S. 293), das »Feinfühligkeit« erhöht (S. 328); auf Basis solcher Gefühle kämen Gruppen im Streit überein, ohne ihre Verbindung explizieren zu müssen (S. 310: »geheimes Sich-Verstehen der Parteien« im »stillschweigenden Pakt«). Umgekehrt zeigt Simmels Exkurs über die Regulierung von ökonomischer Konkurrenz, wie paradoxe Aspekte kategorisch unterbunden werden: Wie es das Leitbild des »›ehrlichen‹ Wettbewerb[s]« vorgebe, sei nur »lautere«, »rein[e]« Konkurrenz in vollem Sinne nützlich, die auf alle »irreleitenden« oder bloß schädigende Handlungen verzichte (S. 346f.). Destruktive Tendenzen, die sich aus der Nähe von Konkurrenzbeziehungen entspinnen können, grenzt Simmel somit aus. Aus paradoxen Dynamiken werden idealisierte Dichotomien von reiner und unlauterer Konkurrenz, von direktem und indirektem Streit.

Gerade diese kategorischen Abgrenzungen haben die Tradition der Konfliktsoziologie nachhaltig geprägt. Einflussreich knüpfte etwa Lewis Coser daran an, der Simmels Analysen kommentierte und in Richtung einer allgemeinen Konfliktsoziologie umarbeitete.5 Im Anschluss daran betrachtet auch Coser den Streit als konstruktiven Faktor sozialer Organisation (S. 19f., 35), da er Konfliktpartner füreinander sensibilisiere, Energien freisetze, Gruppen und Individuen in ihrer Identität bestätige. Und wie Simmel vermerkt auch Coser, dass dabei ambivalente Gefühlslagen von Hass und Begehren wachsen, die sich an gemeinsame Objekte und Regeln heften (S. 75–79). Noch entschiedener als Simmel jedoch weicht Coser destruktiven Tendenzen aus: Konflikte, die von Frustrationen angetrieben werden, Spannungen ableiten, Rache üben oder dritte Ersatzobjekte und Sündenböcke hineinziehen, gelten ihm als ›unecht‹, als ›echt‹ hingegen nur solche Konflikte, die offen zielorientiert verfolgt werden.6 Simmels Nebenbemerkung zum positiven Zielbezug des Streits rückt damit ins Zentrum der Konflikttheorie.

Exzessive Eigendynamiken und potenzierende Übergriffe werden damit weniger als konstitutive Momente von Kampfparadoxien beleuchtet, sondern als parasitäre Auswüchse von geringer Stabilität disqualifiziert, die es zu überwinden gilt. Sie kehren auf forschungsgeschichtlicher Ebene indes wieder: Während Coser etwa der frühen amerikanischen Soziologie ankreidet, Konflikt als strukturgefährdende Krankheit des Sozialen abzuwerten (so die Kritik gegenüber Talcott Parsons: S. 23–25, 29–31), grenzt Coser seinerseits Spuren der Destruktion aus. Statt auf eine paradoxiesensible Konflikttheorie zielt Coser somit darauf, paradoxe Spannungen zugunsten polarer Kontraste aufzulösen.

Dies stellte die Weichen für eine Soziologie, die Konflikte als Motoren der Stabilisierung betrachtet. »Der Konflikt dient dazu, die Identität und die Grenzen von Gesellschaften und Gruppen zu schaffen und zu erhalten«, fasst Coser bündig zusammen (S. 43; so auch S. 184), und »zum Anreiz bei der Einsetzung von Normen und Regeln und Institutionen« (S. 154). Wo gestritten wird, steht somit die Sicherung von Grenzen und Regeln auf dem Spiel. Aus dieser paradoxiefeindlichen Sicht leitet Coser eine folgenreiche Unterscheidung von Streit und Wettstreit ab: »In einem Wettstreit kann der Sieger bestimmt werden nach vorher festgelegten Kriterien, an denen die Kämpfenden gemessen werden. […] Im Streit dagegen stehen den Gegnern nicht von Anfang an solche Kriterien zur Verfügung« (S. 161). Im Rekurs auf Simmel und dennoch Simmels Interesse an paradoxen Einheiten zutiefst entgegengesetzt, begründete dies eine Forschungstradition, die schlechte Konflikte (grenzverletzend oder regellos) und gute Wettkämpfe (in Grenzen reguliert) gegenüberstellte. Weit über die Soziologie hinaus war diese Polarisierung attraktiv für zivilisationstheoretische Argumentationen, die Wettkämpfe bis heute vor allem als Kulturformen der Begrenzung und Pazifizierung werten: als »Transformation eines wilden, unkontrollierten Zustands der Gewalt in einen anderen Zustand […], in dem diese kanalisiert und produktiv nutzbar gemacht wird.«7 Unter regulierten Bedingungen gilt Streit daher als »Motor« fortschrittlicher Konfliktkultur.8

Die heuristische Leistung des Wettkampfkonzepts beschneidet dies erheblich. Auf mittelalterliche Wettkampferzählungen übertragen, verzerrt dies die Verhältnisse: obsessive Gegner wie Gawein und Gasozein in der Krone Heinrichs von dem Türlin wären in grandioser Weise als ›unecht‹ aufeinander fixiert zu betrachten; erzählerische Ambivalenz, wie sie Hartmanns Iwein in der Begegnung der Freund-Feinde Gawein und Iwein auskostet, wäre in höchstem Maße als ›uneigentlich‹ zu betrachten. Kategorische Unterscheidungen von Streit und Konflikt, Wettbewerb und Kampf etc. führen so gesehen in theoretische Sackgassen – oder aber in Paradoxien, die Gegner als verbunden zeigen, theoretische Abgrenzungen als durchlässig erweisen.9 Nur zögerlich lassen sich aktuelle Beiträge der Konfliktsoziologie auf diese Schwierigkeiten ein.10 Und auch mediävistische Studien vertiefen ihre Aporien eher, wenn man nach den Grenzen zwischen fairen Spielen und Ernstkämpfen,11 zwischen Gewaltvermeidung und deren Verstärkung sucht.12

Für eine historische Kulturtheorie des Wettkampfs sind dies gute Gründe, nicht schon vorab Wettbewerb, Wettstreit, Kampf, Konflikt oder Streit gegeneinander auszudifferenzieren, sofern dies Einsichten in die paradoxen Grundlagen agonaler Formen verstellt. Für ein solches formales Verständnis von Streit wirbt hingegen Dirk Baecker, demzufolge gerade das paradoxe Widerspiel von Anziehung und Distanz kulturelle Spielräume eröffnet:

Die Symbole der Tausch- und Kommunikationsmedien, so unsere These, stellen sicher, dass es ebenso attraktiv ist, sich auf eine entsprechend ausgezeichnete Handlung und Kommunikaton einzulassen, wie von ihr abzulassen. Das ist ihr Widerstreit.13

Ganz gleich, in welchen symbolischen Medien sie sich verdichtet: »Kultur als Widerstreit«14 motiviert auf paradoxe Weise dazu, sich einzulassen, aber jederzeit auch ablassen zu können. Gilt dies für alle agonalen Formen? Wettkämpfe, so wäre zu überlegen, könnten dafür nicht bloß verdichtete Einzelepisoden bereitstellen, die punktuell zur Debatte stehen. Sie könnten vielmehr die Anreize steigern, Widerstreit fortgesetzt auszubauen – auf sichtbaren Bühnen und zu umfangreichen Handlungsprogrammen.

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