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6 Zielsetzungen: Wettkampfkulturen – Formen der Pluralisierung

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Das Thema der Arbeit lässt sich einfach benennen: Es geht um narrative Vervielfältigung einfacher Formen des Wettkampfs. Doch zeigten die Vorsondierungen zugleich eine Reihe von Schwierigkeiten, die einfache Fragen und Antworten verwehren:

1 Einfachheit und Vielfalt besitzen nicht nur weitverzweigte Begriffsgeschichten und lassen sich auf verschiedenste Dimensionen von Erzähltexten beziehen, sondern können Formen auf unterschiedlichste Weise bestimmen. Während klassische Komplexitätsannahmen Einfachheit und Vielfalt als Pole gegenüberstellen oder als Skalierungsstufen verstehen, erzeugen mittelalterliche Erzählungen vielfach Phänomene, die auf seltsame Weise einfach und vielfältig zugleich erscheinen.

2 Formen von Einfachheit und Vielfalt unterliegen dabei historischem Wandel und reflektieren ihrerseits den historischen Wandel von Differenzierungspraktiken. Wenn die Organisation von Vielfalt in der Neuzeit mit Kulturbegriffen gebündelt wird, zeichnet sich an Verhältnissen von Einfachheit und Vielfalt zugleich die Genese von Kulturalität ab. Während kulturwissenschaftliche Forschungen diese Prozesse häufig an Diversitäts- und Kontingenzperspektiven messen, drohen dahinter die Vervielfältigungsformate vormoderner Kulturalität zu verschwinden.

3 Die Frage nach den Selbstbeschreibungen mittelalterlicher Kulturalität führt damit unweigerlich zur Frage, inwiefern die Neigungen der modernen Kulturwissenschaften zu offenem Pluralismus und irreduzibler Vielfalt gerade die historischen Spielräume solcher Vervielfältigung verdecken, wenn nicht sogar verzerren. Auch in der Mediävistik verführt die Frage nach Einfachheit und Vielfalt zu unbehaglichen Übertragungen, die vormoderne Literatur entweder auf implizite Modernisierungsperspektiven verpflichten oder umgekehrt zur (oft ebenso pauschalen) Überzeichnung ihrer Alterität führen.

4 Einfachheit und Vielfalt verschränken und potenzieren sich in Formen, unter denen Wettkämpfe in der mittelalterlichen Literatur besonders prominent sind. Ihr Verhältnis ist in vielen Fällen paradox: Einfache Oppositionsstrukturen verbinden sich in Schleifen, Rekursionen, Verschiebungen und Wiederholungen zu schwierigen Komplexen, die sich in unterschiedlichsten Gattungszusammenhängen finden. Wie sich im Blick auf klassische Ansätze der Streitsoziologie, aber auch angesichts der mediävistischen Forschung zu Agonalität zeigte, bereiten jedoch gerade diese paradoxen Umschläge von Einfachheit in Komplexität, von klar bestimmter in unbestimmte Ordnung hartnäckige Theorieprobleme.

Daraus ergeben sich neue Wege. Wenn viele Kulturbegriffe Bedingungsrahmen oder Praktiken des Vergleichens bezeichnen – wo lassen sich diese Bedingungen und Praktiken auch diesseits der Begriffe finden? Methodisch suchen die nachfolgenden Studien nach Antworten, indem sie mit sorgfältigen Beschreibungen von Einzeltexten und ihren Erzählformen ansetzen, ihre formalen Züge schrittweise abstrahieren und diese Einzelbefunde vergleichen. Die Analysen verfolgen dabei drei aufeinander aufbauende Fragen:

Wettkampfanalytische Fragestellung: Welche Formen von Vielfalt produzieren Erzählungen, die mit der Erzählform des Wettkampfs experimentieren?Wenngleich Wettkämpfe besonders eindrückliche Motive und Semantiken darbieten, lässt sich ihre funktionale Leistung der Vervielfältigung eher an ihren Formen ablesen, die viele Ebenen prägen. Die folgenden Untersuchungen legen dafür ein formales Verständnis zugrunde, das Wettkampf als einfache Potenzierungsstruktur versteht, die zwischen Einheit und Differenz oszilliert und dabei Komplexität aufbaut.1 In textnahen Analysen ist zu untersuchen, zu welchen Gestalten volkssprachige Erzähltexte diese allgemeine Form konkretisieren und modifizieren, auf welchen narrativen Ebenen diese Formen wirksam werden (Handlungsstrukturen und Figuren, Erzählinstanzen und Diskursebene),2 welche Reichweiten diese Formen im Textzusammenhang entfalten und schließlich, welche Stabilität sie dabei entwickeln oder welche Transformationen sie dabei durchlaufen. Im ersten Schritt werden damit Wettkampfnarrative erschlossen, die sich nach den genannten Parametern höchst unterschiedlich zeigen – von den Wettkämpfen heldenepischer Texte und Artusromane bis zu Heiligenlegenden und religiösen Erzähltraditionen vom Seelenkampf, von ›artes‹-Dichtungen im Umfeld scholastischer Disputation bis zum Erzählwettstreit mittels Exempeln. Höchst unterschiedlich sind auch die narrativen Effekte zu bestimmen, die im Einzelnen aus der Spannung von Wettkampfformen hervorgehen: Paradoxien von Divergenz und Konvergenz können offen hervorgetrieben werden und in Krisen und Blockaden, Auflösungen oder Abbrüche münden – aber ebenso verdeckt und überlagert werden, auf verschiedene Erzählebenen oder andere Kontexte verschoben werden. Solche und andere Möglichkeiten, die den Umgang mit Differenzzusammenhängen vielfältiger machen, gilt es an prägnanten Fallbeispielen zu erkunden.

Komplexitätstheoretische Fragestellung: Welche Komplexitätstypen lassen sich auf dieser Grundlage einzeltextübergreifend aufweisen?Zweitens ist auszuwerten, inwiefern diese Befunde gemeinsame Profile oder Züge erkennen lassen. Welche Einsichten in die Komplexitätstypik von Erzählungen sind zu gewinnen, die bislang meist nach Stoffen und Sujets, Überlieferungszusammenhängen oder Gattungsreihen getrennt erforscht wurden? So experimentiert etwa Hartmanns Iwein ebenso mit Komplexitätstypen der Einfaltung wie das Nibelungenlied; Märtyrerlegenden ›von unzerstörbarem Leben‹ wickeln Komplexität in seriellen Formen ab, an denen prinzipiell auch heldenepische Reihenkampferzählungen wie der Rosengarten zu Worms arbeiten. Aber handelt es sich dabei um dieselben Typen von Komplexität, die durch Wettkampf gebildet werden?

Kulturtheoretische Fragestellung: Welche formalen Strukturierungsmöglichkeiten zur Kommunikation von Vielfalt stellen diese Komplexitätstypen zur Verfügung?Wettkämpfe strukturieren Komplexität mittels unterschiedlicher Funktionen, Anordnungen und Tiefen ihrer agonalen Formen. Sie entfalten dabei hohe Attraktions- und Gravitationskräfte, die Akteure und Beobachter rasch hineinziehen und in diese Strukturen einbinden – darin liegt ihre sozialisierende Wirkung, die Kulturformen und Wettkampfformen verbinden. Doch erschöpft sich ihr Potential zur Bildung kultureller Formen nicht auf Ebene von Einzeltexten oder literarischen Typen, sondern erschließt sich durch abstrahierende Vergleiche.In diesem Sinne soll in einem dritten Auswertungsschritt versucht werden, einige formale Eigenschaften jener Komplexitätstypen hervorzuheben, die Wettkampferzählungen für die Kommunikation von Vielfalt entwickeln. Natürlich kann es – schon aus methodischen Gründen – nicht darum gehen, solche formalen Züge zu einer Kulturtheorie des Mittelalters überzugeneralisieren. Doch versprechen Formen des Wettkampfs wichtige Hinweise, wie einfachere oder vielfältigere Unterscheidungen aufeinander bezogen wurden, ohne dafür explizite Kulturperspektiven vorauszusetzen.

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