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(1) Sondernormen
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Auch im Bereich ärztlichen Handelns bestimmt sich die rechtlich maßgebliche Sorgfalt nach dem Verhalten besonnen und gewissenhaft Handelnder, so dass auch hier die für den Berufskreis des Täters geltenden Rechtssätze und Verkehrsgepflogenheiten zu beachten sind. Für die Bestimmung der zu fordernden Sorgfalt bei der strafrechtlichen Fahrlässigkeitshaftung kommt den diesbezüglichen Sondernormen auch nichtgesetzlicher Natur indizielle Bedeutung zu, die für den jeweiligen Verkehrskreis spezifische Anforderungen an sorgfaltsgemäßes Verhalten aufstellen.[74] Mehr als diese indizielle Bedeutung ist ärztlichen Richt- und Leitlinien[75] aber nicht zuzusprechen.[76] Andernfalls läge eine unzulässige Selbstentmachtung des Gesetzgebers zugunsten nicht legitimierter Privater vor.[77] Diese Wirkung, die aber keineswegs mit einer richterlichen Bindung im Wege eines antizipierten Sachverständigengutachtens in eins gesetzt werden darf,[78] kommt als Dokumentation redlicher Praxis nicht nur im zivilrechtlichen Haftpflichtprozess, sondern auch im Strafverfahren eine Rationalisierungsfunktion zu.[79] Eine richterliche Inbezugnahme bei der Bestimmung ärztlicher Sorgfaltspflicht kann aber keineswegs im Wege einer strikten und vorbehaltslosen Anbindung an die Maßstäbe erfolgen,[80] die sich außerhalb des staatlich gesetzten Rechts entwickelt haben. Vielmehr ist eine richterlich kontrollierte Rezeption geboten:[81] Der Rechtsanwender übernimmt diese außerrechtlich gebildeten „Normen“ nicht unmittelbar, sondern hat sie unter dem Blickwinkel der normativen Schutzzielbestimmung der von ihm anzuwendenden Generalklausel zu überprüfen, vorliegend also unter dem Blickwinkel der die Rechtsgüter Leben bzw. Gesundheit/Körperintegrität des Patienten schützenden Generalklausel der Sorgfaltswidrigkeit in den §§ 222, 229 StGB. Auf diese Weise bleibt der auch verfassungsrechtlich gebotene Vorrang der staatlich gesetzten Rechtsordnung vor privater Rechtsetzung gewahrt. Die medizinisch herausgebildeten Standards wirken mithin informativ und nicht normativ.[82] Eine unbesehene Inbezugnahme von außergesetzlichen Regelungssystemen würde hingegen letztlich eine faktische Delegation von Rechtsetzungsmacht[83] an hierfür demokratisch nicht Legitimierte (hier also bspw. an die Bundesärztekammer oder an medizinische Fachgesellschaften) bedeuten. Eine entsprechende Delegation wäre nicht mit den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten des Staates für grundrechtlich geschützte Güter seiner Bürger zu vereinbaren.[84] Die bei der Einpassung von Problemlösungen, die im gesellschaftlichen Bereich staatsfern entwickelt wurden, in die für alle verbindliche Rechtsordnung (hier also: bei der Rezeption ärztlicherseits gebildeter Richt- bzw. Leitlinien) zu beachtenden Kautelen haben folgendem Umstand Rechnung zu tragen: Bei dieser Verfahrensweise handelt es sich keineswegs um eine begrüßenswerte Selbstbeschränkung des Gesetzgebers, der bei seinem Zurücktreten hinter gesellschaftliche Selbstregulation der Nachrangigkeit staatlicher Problemlösung (Subsidiarität) vorbildlich Rechnung trüge. Ließe man nämlich die medizinische Profession allein über das erlaubte Maß der für den Patienten zulässig zu setzenden Risiken entscheiden, so läge eine mit der Schutzpflicht des Staates für grundrechtlich geschützte Güter des Einzelnen nicht mehr vereinbare Kompetenzübertragung an Private (Neokorporatismus) vor.[85] Es kann nicht Angelegenheit einer Profession sein, selbst die Voraussetzungen festzulegen, unter denen ihre Mitglieder in Rechtsgüter Dritter eingreifen dürfen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der namentlich den ärztlichen Standesorganisationen staatlicherseits verliehenen Autonomie. Diese beschränkt sich auf die Regelung eigener Angelegenheiten. Diese berufsständische Regelungshoheit endet aber dann, wenn hierdurch grundrechtliche Positionen insbesondere bei Dritten betroffen sind.[86] Eine unbesehene Gleichsetzung von richtlinien- bzw. leitlinienkonformem Verhalten mit fehlender strafrechtlicher Sorgfaltswidrigkeit verbietet sich im Übrigen bereits aufgrund der unterschiedlichen Ordnungsfunktionen einer binnenfunktional wirkenden ärztlichen „Normsetzung“ einerseits, der Allgemeingültigkeit staatlichen Rechts andererseits.[87]