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Der 1876 als Sohn eines Italieners in Alexandrien geborene Dichter Filippo Tommaso Marinetti war die prononcierteste Stimme der Bewegung. Er lebte lange in Paris, jener Stadt, in der die Dynamisierung am prägnantesten ausgebildet war, und hatte dort Kontakte zur Anarchistenszene. 1905 ging er nach Mailand. Am 20. Februar 1909 publizierte er auf der Titelseite (!) des Le Figaro ein Futuristisches Manifest (14 Tage vorher war es bereits in der Gazzetta dell’Emilia erschienen und im gleichen Jahr erschien es auch in Russland). Das Manifest wurde zum Programm einer neuen Kunstrichtung, die Moderne und Italianità verbinden sollte, und ein Leitfaden einer alle Lebensbereiche umfassenden Kultur, die die alte geradezu kulturkämpferisch vernichtete.

VIII.2.2.1.

VI.8.ff./.3.4.1.

Hülk 2012, 110

Performance

Die Affirmation des Dynamismus und Technizismus der Metropolen war bedingungslos und ohne jede relativierende Einschränkung. Walburga Hülk spürte dem langen Anlauf zu den Deutungsmustern der Gesellschaft, Dynamik und Prozess, nach, die gemäß dem analytischen Blick eines Aby Warburg bereits in der Renaissance, dann besonders im Manierismus anhoben und im 19. Jh. auf großes Interesse stießen – etwa bei Hippolyte Taine und den Bildern von Tintoretto: »Auf Tintorettos Bildern […] entdeckt Taine Gestaltungsmuster und Denkfiguren, die seine eigene Zeit bewegen […]: zunächst die dynamische Kraft des körperlichen und geistigen Ausdrucks als Gegenbewegung zum grassierenden Dekadenzbewusstsein; sodann die ›Form‹, die nichts ist als eine Momentaufnahme, ein screenshot unablässiger Bewegung, so wie es dann auch Bergson sieht; zuletzt die Reflexion auf eine augenblicklich arretierte Bewegung als Bedingung der Wahrnehmung und der bildenden Künste überhaupt – ein innovatives Thema, das nachfolgend vor allem die historischen Avantgarden, namentlich der Futurismus, durchführten, indem sie sich in einem neuen paragone der Herausforderung durch das ›Bewegungsbild‹ des Films stellten.«

5.2.6.ff.

Eine bei den Futuristen beliebte Kunstform war die Performance. Überall, in Paris, wo sich Marinetti zwischen 1893 und 1896 aufhielt, in Turin (Teatro Alfieri, Teatro Chiavelli), Triest (Teatro Rosetti), Rom (Teatro Costanzi) oder Mailand (Teatro dal Verme), gab es Skandal und Aufruhr und es wurden nicht nur Kartoffeln und Orangen auf die Performer geworfen, es gab auch Verhaftungen und Verurteilungen. Immerhin hatten die Futuristen die Performance als eine Kunstform (die in ihren Augen das Ernste und Erhabene der Kunst zerstören sollte) etabliert. Sie sollte eine lange, in die Gegenwart reichende Karriere haben.

Der Futurismus, zwar von seinem Zentrum Italien getragen, strahlte international aus. Bei vielen Vertretern, neben Marinetti auch Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi Russolo, Giacomo Balla und Gino Severini, kam ein ausdrücklicher nationalistischer Aspekt dazu, der schließlich bis zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs ausgezogen werden muss. Marinettis Manifest hatte eine kunstphilosophisch-programmatische und eine politische Stoßrichtung. Politisch richtete es sich vordergründig gegen den als schwach empfundenen Parlamentarismus des Ministerpräsidenten Giovanni Giolitti, der eine Öffnung nach links (apertura a sinistra) anstrebte, womit er die Einbindung der nicht-revolutionären Arbeiterschaft verband. In dieser Hinsicht war das Manifest Teil der rechten Agitation gegen die Spielregeln des Parlamentarismus, gegen die auch der symbolistische Schriftsteller und Mentor Benito Mussolinis, Gabriele D’Annunzio, den (männlichen) Übermenschen ins Feld geführt hatte.

Kult der Geschwindigkeit

Marinetti, zit. HW, 185

Ebd., 186

Aber der Anspruch reichte weit über einen politisch rechten Nationalismus hinaus, sonst wäre die internationale Wirkung des Futurismus schlecht zu erklären. Das Futuristische Manifest verherrlichte den Kult der Geschwindigkeit und des Automobils und es stellte dem bisherigen Systemdenken ein dynamisches, technisches Leben gegenüber, das eine universelle politische Utopie realisieren sollte. »Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. »Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag. […] Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto […] ist schöner als die Nike von Samothrake. […] Zeit und Raum sind gestern gestorben. wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.« Die Verherrlichung der Maschine umfasst die »gefräßigen Bahnhöfe«, die Brücken, Dampfer und Flugzeuge. Das Pamphlet verstand sich als optimistisches Programm einer dynamischen Zukunft (»Wollt ihr denn eure besten Kräfte in dieser ewigen und unnützen Bewunderung der Vergangenheit vergeuden […]«), gegen jede Musealisierung und Erinnerung, aber auch gegen die Ordnungsregeln akademischer Diskurse: »Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht […] wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien.« Marinetti verglich Museen mit Friedhöfen und mit Schlachthöfen der Maler und Bildhauer. Daher mussten die futuristischen Events mit Provokationen und Tumulten verbunden sein.

Ebd., 185

»Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein.« Man kann sich gut vorstellen, dass auch Marinetti (wie Karlheinz Stockhausen) den Terroranschlag auf das World Trade Centers in New York 9/11 als großes Kunstwerk bezeichnet und manches Pamphlet rechtsnationalistischer Parteien und die Tiraden von identitären Extremisten der Gegenwart als sein Erbe reklamiert hätte.

Ebd., 185

Bürger 2014, 48

Dieses Gemisch aus Verehrung der Geschwindigkeit, der Maschine, der Destruktion des Überkommenen und Traditionellen und des Nationalismus führte geradewegs in die berüchtigte Verherrlichung des Krieges und der Männlichkeit: »Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.« Zwischen Schnelligkeit und Maschine wurde eine Verbindung zu Virilität und Sexualität hergestellt. »Dem futuristischen Lebensbegriff liegt eine karikatural übersteigerte Vorstellung von starker Männlichkeit zugrunde, die sich von allem absetzt, was dieser Vorstellung zufolge als weiblich gilt: Liebe, Zärtlichkeit, Gefühlsausdruck.«

bildende Kunst

Der Futurismus ist ein besonderes Beispiel dafür, wie sich eine Avantgardebewegung von einer Technikeuphorie zur Verherrlichung von Gewalt und Krieg verstieg und den Faschismus feierte. Die Futuristen waren Propagandisten für den Kriegseintritt Italiens im Ersten Weltkrieg. Während des Krieges sammelte sich die Bewegung in einer neu gegründeten politischen Partei, dem Partito Politico Futurista, der sich nationalistisch, antikapitalistisch und antiklerikal gab. 1919 ging sie in dem von Benito Mussolini gegründeten Partito Nazionale Fascista auf. Marinetti hingegen wandte sich nach links und forderte für einmal die bolschewistische Revolution, bevor er zum Schluss nur mehr als Anarchist agierte. 1933 trat der Futurismus mit Marinetti auf der Mailänder Triennale zum letzten Mal in Erscheinung.


602 Giacomo Balla, Der Wirbel; Mart

Boccioni u.a., zit. HW, 188

Ebd., 189

In der Kunst spielte der Futurismus als programmatischer Hintergrund bei der künstlerischen Darstellung von Geschwindigkeit eine Rolle. Giacomo Balla und Umberto Boccioni waren die prominentesten Vertreter der bildenden Kunst. Neben unscharfen und verwaschenen Bildern zerschnitt man ähnlich einer kubistischen Vorgehensweise die Welt in Teile, die in hoher Dynamik durcheinander wirbelten. Die Stadt wurde als dynamische Maschine dargestellt. Boccioni, der sich ausführlich mit der Philosophie Henri Bergsons beschäftigt hatte, schrieb 1910 zusammen mit Carlo Carrà, Luigi Russolo, Giacomo Balla und Gino Severini das Manifest Die futuristische Malerei und wenige Tage später das Technische Manifest der futuristischen Malerei (La pittura futurista: manifesto tecnico). Darin verabschieden sich die Autoren von einer Kunst, die den Augenblick einer Bewegung einfriert, zugunsten einer Kunst, die »einfach ›die dynamistische Empfindung‹ an sich« sein wird. »In der Tat, alles bewegt sich, alles rennt, alles verwandelt sich in rasender Eile. Niemals ist ein Profil unbeweglich vor uns, sondern es erscheint und verschwindet unaufhörlich.« Das Manifest ist eine zustimmende, ja feiernde Collage von nervösen Eindrücken einer aus den Fugen geratenden Welt, die nun eine Anleitung für die futuristische Kunst abgibt: »Der Autobus stürzt sich in die Häuser, an denen er vorübersaust, und die Häuser stürzen sich auf den Autobus und verschmelzen mit ihm in eins.« Weitere Manifeste und Traktate befassten sich mit der Bildhauerei, der Literatur, Musik und Architektur. Darin wurden die traditionellen Materialien der Bildhauerei zugunsten einer Öffnung für alle verfügbaren Materialien abgelehnt, die klassischen Formgesetze kritisch hinterfragt und der Begriff der Skulptur damit weit geöffnet. Objektkunst, stark an den Kubismus erinnernd, gesellte sich neben dreidimensionale Gebilde, die an einzelne Sequenzen von Bewegungsfotografie erinnern.

Architektur

Kretschmer 2013, 96

Kruft 1985, 469

Der Maler Enrico Prampolini forderte eine Architektur der Dynamik, Energie und des Lichtes. Der Architekt Antonio Sant’Elia sah, angeregt durch Otto Wagner, den Ausdruck der Moderne in monumentalen Bauaufgaben der modernen Zeiten: den Häfen, Fernstraßen, Bahnhöfen und schwadronierte von einer Città Nuova, die es zu realisieren gälte. In ihr wird das Haus zu einer Maschine mit riesigen Wolkenkratzern, gewaltigen Bahnhöfen und übereinandergestapelten Straßen. »Statt als statischer Ort wird die Stadt als Prozess betrachtet, in dem sich Zeit, Raum und Geräusch mischen.« Diese neue Ästhetik lasse sich erst umsetzten, wenn das Alte buchstäblich in die Luft gesprengt wird. Die neue Stadt hat als Ausdruck des Transitorischen ein überschaubares Ablaufdatum. Jede Generation sollte sich ihre eigene Stadt bauen. Architektur wird damit »nicht nur Ausdruck eines Lebensprozesses, sondern von diesem Lebensprozeß selbst verschlungen.«

Ebd., 470

Die Stadt löste die Natur ab, und zwar die moderne, technische und schnelle Stadt, nicht die museale. Mailand war spannender als Rom oder Florenz. Virgilio Marchi verfasste 1920 ein Manifesto dell’architettura futurista dinamica, stato d’animo, drammatica. Darin wird Architektur zu einer die Seele erhebenden Dichtung. »De Marchis Entwürfe verbinden eine Art von Achterbahnarchitektur mit expressionistischen Formen […] Es ist nur folgerichtig, wenn Marchi zur Vorstellung einer Feuerwerks-Architektur gelangt. Ein Realitätsanspruch liegt kaum vor.« Die futuristischen Visionen der alten Stadtutopien waren skurrile Phantasien von fliegenden Häusern und einer Stadt, die die gesamte Welt umspannt. Sie waren bar jeder Bindung an eine Realität. Nachdem Italiens Beitrag zur Architekturtheorie im 19. Jh. bescheiden geblieben war, meldete sich das Land mit dem Futurismus als eine die gesamte Kunst umfassende Bewegung – mit nachhaltiger Wirkung in der Architektur – wieder zurück.

2.2.7.

In Russland wurde Marinettis Manifest ebenfalls 1909 publiziert und es folgten einige futuristische Manifeste, die in diesem Fall den russischen Nationalismus bedienten. Den Autoren, die sich vor allem in St. Petersburg versammelten, ging es um die Begründung einer originär russischen Kunst. Ihr Auftreten war ähnlich wie im Westen von Provokationen und Tumulten begleitet, die vor allem im Treffpunkt, dem Café Streunender Hund, stattfanden. Auch im russischen Konstruktivismus und Utopismus artikulierte man nicht realisierbare, utopische Stadtideen, etwa von Anton M. Lawinski und Georgi T. Krutikow.

Kunstphilosophie und Ästhetik

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