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3.2.4. Benedetto Croce
ОглавлениеBenedetto Croce, 1866 in Aquila in den Abruzzen geboren, verstand sich als Erneuerer Hegels. Die Motivation für den Neo-Idealismus war, die empfundene Dominanz von Positivismus, Psychologismus und Naturalismus durch eine erneuerte Geistphilosophie zu brechen. Dies war nicht nur ein philosophisches Projekt, sondern auch politisch angesagt. Croce war befreundet mit dem Philosophen und Politiker Giovanni Gentile, der mit dem Idealismus konservativ-nationalistische Momente verknüpfte. Gentile wurde 1922 in Mussolinis Kabinett Erziehungsminister. Darüber zerbrach die Freundschaft mit Croce.
Croce 1902, 4
Der in seiner Jugend durch den Einfluss des marxistischen Philosophen Antonio Labriola politisch eher links stehende Croce (was die Ablehnung einer bloß idealistisch-dialektischen Geschichtstheorie einschloss) beteiligte sich im liberalen Umfeld an der Bewegung des Risorgimento und schrieb nach Mussolinis Machtergreifung antifaschistische Beiträge in der in früheren Zeiten zusammen mit Gentile gegründeten Zeitschrift La Critica. Die eingehende Beschäftigung mit Hegel sprengte ein allzu enges marxistisches Denkkorsett und regte Croce zu einer Geistphilosophie (filosofia dello spirito) an, wenngleich die Hegel-Rezeption differenziert blieb: Er war fasziniert von einer Hegelschen Freiheitsphilosophie, eine daraus konstruierte wissenschaftliche Geschichtsphilosophie lehnte er hingegen ab. 1902 schrieb Croce seine Philosophie des Geistes (Filosofia come Scienza dello Spirito), die die intuitive Erkenntnis, die logische Erkenntnis sowie das wirtschaftliche und moralische Handeln thematisierte. Der erste Teil (Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale) des mehrbändigen Projekts umfasste in wesentlichen Zügen seine ästhetische Theorie. Croce traktierte darin zuvörderst den Begriff der Intuition, die er – als eigenständige Erkenntnisform – von der logischen Erkenntnis abgrenzte: »[…] die intuitive Erkenntnis hat keinen Herrn nötig; sie braucht sich an niemand anzulehnen; sie braucht sich keine fremden Augen zu leihen, weil sie eigene, sehr scharfe Augen auf der Stirn hat.«
Kunstwerk als Intuition
X.3.2./X.3.5.1.2.
Croce 1913, 8f
3.2.5.
Lyas 1997, 68
Intuition richte sich nicht auf das Universale, sondern auf das Individuelle, erzeuge Bilder und nicht Begriffe. Intuition sei demnach ein aktives synthetisierendes Suchprogramm, in das auch Gedächtnis und Phantasie involviert bleiben. Die Deutung des Kunstwerks als Intuition führte konsequent zu einer Auffassung des Kunstwerks als mentales Konzept. »Aber diese meine Antwort, die Kunst sei Intuition, […] verneint vor allem, daß die Kunst etwas Physisches sei; z.B. gewisse abgegrenzte Farben oder Farbenbeziehungen, gewisse abgegrenzte Körperformen, gewisse abgegrenzte Töne oder Tonbeziehungen, gewisse Wärme- oder Elektrizitätserscheinungen, kurz, irgend Derartiges nennt man ›physisch‹.« Mit dieser Ablehnung des Kunstwerks als materiellem Gegenstand war Croce neben Leo Tolstoj, Robin G. Collingwood und anderen ein Vertreter der kunstphilosophischen Theorie des Mentalismus. »Croce, like Kant, and like Scruton and Wollheim in recent years, tries to show the proper place of the aesthetic in some full story of the mind’s structure.«
Croce 1902, 10
Intuition und Ausdruck
X.2.2.
Ebd., 15
Für Croce ist das Kunstwerk aber nicht nur ein Gedanke oder eine Idee, wie dies der Grundfigur des Mentalismus entspricht, sondern ein innerer Zustand der Intuition, die er mit dem Ausdruck gleichsetzt (l’identità di intuizione ed espressione): »Jede wahre Intuition oder Vorstellung ist zugleich Ausdruck (Expression).« Im Ausdruck verdichte sich die Intuition als Ergebnis eines schöpferischen Geistes. Die Künstlerin schaffe nicht etwa einen Ausdruck ihrer Künstlerpersönlichkeit, sondern der Ausdruck bedeute einen objektivierten und in eine künstlerische Form überführten Gehalt. Der auf der grünen Wiese sinnierende Architekt erzeugt intuitiv geistige Bilder seines Vorhabens, die zugleich Ausdruckscharakter haben. Kunst sei die Umsetzung von Erlebnissen in ein Werk. Ästhetik wird hier verstanden als eine Wissenschaft des Ausdrucks. Eine gelungene Umsetzung nannte Croce poesia. Die Kategorie des Ausdrucks ist genauso wie jene der Intuition nicht auf die Kunst beschränkt, zeigt sich dort aber prominent. Kunstwerke sind »recht komplizierte und schwierige Expressionen«, die nur selten erreicht werden. Unter dem Stichwort Ästhetik in der Encyclopaedia Britannica verwies Croce auf den Unterschied der Sprache, wenn von Unglück, Trauer, Scham in einer historischen Abhandlung die Rede ist oder in einer Dichtung. Historische Abhandlungen sind sachlich-distanziert, Dichtungen expressiv. Zu einem Kunstwerk wird etwas dadurch, dass es über die sachlich-informative Ebene hinausgeht und eine Erfahrung in uns evoziert. Und das muss ein geistiger Organisationsprozess sein. Diesen genauer zu fassen, fiel indes auch Croce schwer. Die Probleme bei Croces Ansatz entsprechen jenen, die gegen den Mentalismus generell erhoben werden. Beispielsweise geht es um den Status eines solchen geistigen Konzepts angesichts der vielen realen Umsetzungsprobleme, mit denen ein Architekt bei der langen Planungsphase und dem konkreten Bau eines Gebäudes konfrontiert ist.
Ebd., 103f
VII.2.2.1.
X.1.4.1.
Analog zu diesem Kunstverständnis liegt Schönheit für Croce, abseits eines physischen Faktums, in der geistigen Aktivität des Menschen. Sie ist eine »Expression schlechthin« (espressione senz’altro). Daher kann es auch in der Natur keine ästhetische Schönheit geben. »Wer eine Landschaft schön nennt […] der weist damit nicht auf etwas Ästhetisches hin. […] die Natur ist nur für den schön, der sie mit künstlerischen Augen sieht; […] ohne das Dazukommen der Phantasie ist kein Teil der Natur schön, […].« Das ist klar im Sinne Hegels gesagt und eine Verlängerung des cartesianischen Rationalismus. Man könnte das als eine sich aus Hegels Idealismus ableitende frühe Formulierung der ästhetischen Wahrnehmung deuten.
X.2.2.ff.
Ebd., 18
Selbstverständlich verträgt sich eine solche auf Mentalismus und Expression konzentrierte Kunstphilosophie nicht mit der Nachahmungstheorie der Kunst. Diese kann keine reine Nachahmung im Sinne »mehr oder weniger vollkommene[r] Duplikate natürlicher Objekte« sein, sondern Kunst ist »idealisierende Nachahmung der Natur.«
Croce 1913, 8
Croce 1902, 17
Diese Zusammenhänge seiner Intuitions- und Expressionstheorie verdichtete er in seinem Breviario di Estetica (1913), wo er die Kunst als lyrische Intuition vorstellte und den Gedanken in anderen Äußerungen dazu (L’arte come creazione e la creazione come fare, 1918; Nuovi saggi d’estetica, 1920) weitertrug. »Kunst ist Vision oder Intuition. Der Künstler schafft ein Bild oder Phantasma; der Kunstgenießende stellt sein Auge auf den Punkt ein, den ihm der Künstler gewiesen, blickt durch die Spalte, die er ihm geöffnet hat und reproduziert in sich jenes Bild.« Einen ähnlich fließenden Unterschied wie bei der Intuition gibt es nach Croce zwischen den Normalmenschen und dem Genie. Croce stellte den romantischen Geniebegriff sozusagen vom Kopf auf die Füße und hielt fest, dass »Genialität nicht vom Himmel fällt, sondern die Menschlichkeit selber ist.«
Schließlich versuchte er eine Differenz zwischen Kunst und Handwerk zu finden. Zum Unterschied von der Kunst arbeite das Handwerk mit Zweck und Mittel. Es setzt eine dezidierte Planung und das Erreichen eines vorher festgelegten Zieles voraus. Handwerk bestehe in der Umformung von Material. Dass diese Differenz kaum für eine klare Unterscheidung der beiden Genres taugt, liegt auf der Hand.
VII.3.1.
Erwähnenswert bleibt, dass Croces Zuneigung zum Sinnlichen und zur Expression ihn nicht positiv zum Barock stimmen konnte. In mehreren Äußerungen (Il concetto del barocco, 1925; Storia dell’età barocca in Italia, 1929) polemisierte er, wie an entsprechender Stelle bereits angemerkt, gegen den Barock, sah in ihm sogar einen Gegensatz zur Kunst (qualcosa di diverso dall’arte).
3.2.3.
Schmidinger 2018, 68
Neben Croce war Leo Tolstoj (Was ist Kunst; 1898) ein glühender Vertreter einer solchen Expressionstheorie. Er sah in der Kunst, nicht unähnlich dem Konzept der Einfühlung, eine Übertragung von Gefühlen. Wahrer Kunst gehe es nicht um Schönheit, sondern sie drücke Emotion aus und löse sie gleichzeitig aus. Die doch sehr einseitige Konzentration auf den Ausdruck von Emotion führte bei Tolstoj in ihrer Rigorosität zu einem ziemlich albernen Auslesekriterium. Nahezu alles, was als große Kunst in die Tradition eingegangen ist, wurde ausgeschieden. Übrig blieben biblische Geschichten, die Epen Homers, religiöse Devotionalien und Schilderungen von Kindern, die sich vor Wölfen fürchten. Der streng religiöse Tolstoj führte jede Emotion grundsätzlich auf die Liebe Gottes zurück. Wie wenig er selbst sich Emotionen zubilligte, bezeugte Anton Tschechov, der klagte, dass Tolstoj (ebenso wie Dostojewskij) vor lauter Religiosität humorlos geworden sei.