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2.2.7. Die russische Avantgarde: Konstruktivismus und Suprematismus
ОглавлениеBis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges herrschte ein reger und offener Austausch zwischen russischen und europäischen Künstlern. Sämtliche Strömungen der westlichen Avantgarde waren in Russland in privaten und öffentlichen Sammlungen und Ausstellungen zu sehen und gut bekannt. 1914 kehrten viele russische Künstler aus verschiedenen europäischen Ländern in ihr Heimatland zurück. Während die westeuropäischen Zentren unter dem Krieg schwer litten, gab es in St. Petersburg und Moskau eine ungebrochene Dynamik, mit der innerhalb der breiten russischen Avantgarde vor allem der Konstruktivismus und der Suprematismus zum Durchbruch kamen.
Tradition der Ikone
IV.7.3./IV.8.4.
Krieger 1998, 86
Ebd., 66
Einflussreich für die russische Avantgarde waren vor allem Kubismus und Futurismus, aber zu ihrer Eigenart gehörte auch, dass sie aus der religiösen Volkskunst Inspirationen bezog. Dass diese Volkskunst, dabei vor allem die Tradition der Ikone, so interessant für die Avantgarde-Künstlerinnen werden konnte, hatte eine längere Rezeptionsgeschichte zur Voraussetzung, die im Abschnitt über die Spätantike bereits angesprochen wurde. Verwiesen sei nochmals auf die wichtige Weichenstellung der Ästhetisierung der Ikone durch die Moskauer Ausstellung 1913, was eine nationalistische Instrumentalisierung keineswegs ausschloss. Um die Ikonenmalerei kam in Russland nach 1913 kaum mehr jemand herum: »Das altrussische Kultbild war zu einem künstlerischen Faktor geworden, den man in jenen Jahren mitdenken mußte, wollte man sich über künstlerische Konzepte äußern.« Selbst der sprachanalytisch orientierte russische Formalismus mit Roman Jakobson, Viktor Schklowski und Ossip Brik, aus dem die russische Semiotik entstand, beschäftigte sich mit der Ikone. Die Semiotiker schlüsselten dabei die Eigenarten des Kultbildes auf, seine »umgekehrte Perspektive«, die Symbolik der Farben, die antimimetische Abstraktheit der Figurendarstellungen, den evokativen, also expressiven Charakter und die – profan übersetzt – Selbstbezüglichkeit des Bildes. Den spirituellen Charakter der Ikone blendeten die Formalisten aus: »Ihre historischen Spezifika ließen sie außer acht zugunsten der strukturellen Spezifika.« Der Blick galt allein der ästhetischen Sprengkraft dieser alten, ausdrücklich antimimetischen Kunst. Aus Sicht der Modernen waren folgende Punkte interessant: (1) das Fehlen der Zentralperspektive, (2) die antinaturalistische Symbolik der Farben und (3) das Bildlicht, das an die Stelle des Beleuchtungslichts trat.
Smolik 1992, 66
(ad 1) Das Fehlen der subjektivistischen Zentralperspektive zugunsten der »umgekehrten Perspektive« begründet nicht nur eine Hierarchie des Wichtigen, vielmehr hat in der Ikone jeder Gegenstand seine eigene Perspektive. Die dargestellten Dinge flanieren frei im Raum und unterliegen keiner räumlichen Gesamtorganisation. Pikanterweise ließ sich ein solches Konzept von der zeitgenössischen Physik und Psychologie her untermauern. Lehrte die Physik die Relativität von Zeit und Raum, thematisierte die Psychologie die Diversität der Wahrnehmung. Was für den Raum gilt, gilt auch für die Zeit. Anders als der Futurismus, dessen Anliegen die Darstellung der Dynamik als Signum der Moderne war, spielte der Suprematismus von Malewitsch mit der Folie der Ewigkeit – damit mit einer impliziten Utopie. Anders als beim perspektivischen Illusionsraum, der sich wie Kants transzendentaler Raum dem Blick des Subjekts öffnet, sahen die Verehrer der Ikone in ihr das Offenbarwerden des im Bild Dargestellten selbst. Pavel Florenskij nannte die Ikone eine »Licht verströmende Vision […].« Diese neuplatonische Lichtmystik ließ sich nach dem Wechsel der philosophischen Erzählung in die Moderne in die Selbstreferentialität des Bildes übersetzen.
Florenskij 1988, 80
2.1.2.
Gontscharowa/Larionow, zit. nach Krieger 1998, 45
(ad 2) Dazu trug auch die Befreiung der Farbe von der natürlichen Gegenstandreferenz bei. Sie erhielt – fernab von jedem Zwang einer Mimesis – ihren Selbstwert im Sinne der oben zitierten Äußerung von Alexander Rodtschenko. Die russische Avantgarde ging im Rayonismus mit der Farbe damit ähnlich um wie die Impressionisten, die ihre illusionistische Funktionalisierung aufdeckten, aber sie hatten mit der Tradition der Ikone eben noch eine andere Bezugsgröße, eine nationalistische. In einem Manifest 1913 interpretierten Gontscharowa und Larionow die neue selbstbezügliche Malerei des Rayonismus in dieser Weise: »Es lebe die Schönheit des Ostens! (…) Es lebe die Nationalität! (…) […] Wir sind gegen den Westen, der unsere östlichen Formen verflacht und der alle Dinge ihres Wertes beraubt.« Solche slawophil-nationalistischen Töne entsprachen anscheinend dem basso continuo des kulturellen Selbstverständnisses weiter Kreise in Russland, anders wäre auch ihre Renaissance in der Gegenwart kaum zu erklären. 1914 war Marinetti in Russland, zu einer Zeit, in der die Diskussion um den Sinn der Avantgarde vor dem Konflikt zwischen Slawophilen und Westlern kulminierte.
VI.5.2./VI.6.2.
Suprematismus
(ad 3) Auch der an anderer Stelle besprochene Paradigmenwechsel vom Eigenlicht zum Beleuchtungslicht in der neuzeitlichen Kunst konnte für die Moderne fruchtbar gemacht werden. Die Lichtführung gehört schließlich zentral zum Repertoire des Illusionismus. Das (mystische) Eigenlicht der alten Ikone wurde, wie gerade berichtet, im Sinne der Selbstreferentialität der modernen Kunstauffassung fortgeführt. Verena Krieger spricht von einer neuplatonischen Tendenz in der russischen Avantgarde, die auf der einen Seite eine spirituell-religiöse bzw. kosmische, damit esoterische, auf der anderen Seite eine säkularisierende Tendenz aufwies. Buchstäblich aus der Taufe gehoben wurde die russische Avantgarde damit auch durch anti-aufklärerische Quellen des Religiösen.
2.1.
Goldwater 1938
Krieger 1998, 40
Ein zentraler Teil der russischen Avantgarde, der Suprematismus, wurde im zweiten Jahrzehnt von Kasimir Malewitsch begründet. Der 1878 in Kiew als Sohn polnischer Eltern geborene Malewitsch, der inmitten von religiösen Bildern aufwuchs, wurde in der Schule für Malerei, Bildhauerei und Architektur in Moskau ausgebildet. Durch den Kontakt mit Sammlern kannte er die westliche Kunst, namentlich die zeitgleiche Moderne in Paris: Impressionismus, Symbolismus, Kubismus. Wie viele andere in Russland erhielt er den Anstoß für seinen Avantgardismus durch die Tradition der Ikone, deren Authentizität durch die einfachen Formen und deren antimimetisches Kapital er schätzte. Dazu kam eine slawophile Komponente. Die westliche Kunst galt ihm als Angelegenheit der Aristokratie, die Ikone demgegenüber als Kunst eines (nostalgisch verklärten) reinen Bauerntums. Diese Reinheit und Ursprünglichkeit wurde von vielen Avantgardisten nicht nur an den Bauern, sondern auch an der Kunst von Kindern und Geisteskranken zelebriert. Auch Nikolaj Punin schrieb gegen die westliche Kunst an. »Die plakative Gegenüberstellung von byzantinischer Seelentiefe und westlicher Oberflächlichkeit in Punins Aufsatz steht daher nicht nur in der Tradition des alten Streits zwischen Westlern und Slawophilen in Rußland, sondern auch im Kontext einer aktuellen Neuauflage dieser Debatte in russischen Künstler- und Intellektuellenkreisen.«
Blom 2009, 338
Malewitschs OEuvre reicht von den um 1910 entstandenen scheinbar grobschlächtigen gegenständlichen Malereien, wo er bereits auf Perspektive verzichtete und etliche formale Aspekte der Ikone verwandte, bis zur suprematistischen Kunst. Er verglich den »Aufstieg« zur Gegenstandslosigkeit mit einer qualvollen Bergbesteigung, bei der die Umrisse der Gegenstände mehr und mehr im Tal versinken. Dieser Aufstieg führte über primitivistische und kubistische Formen und Anregungen aus dem Futurismus. Nach seiner suprematistischen Phase gestaltete er wieder Bilder in einem schematischen groben Realismus. Er malte verwurzelte bodenständige Gestalten, die man als Lob der Reinheit des Landes gegen die nervöse Bodenlosigkeit der Stadtbewohner interpretieren kann. Philipp Blom hat den Reiz des Kubismus für die von der modernen Welt faszinierten Suprematisten und Konstruktivisten treffend beschrieben. Die Menschen in der Stadt der Jahrhundertwende waren »nicht mehr aus einem Stück, aus einem Block gehauen wie Malewitschs monumentale Bauern. Sie waren zusammengesetzt, zersplittert und vielfach aus verschiedenen Bruchstücken geleimt, keine gewachsene Identität, sondern eine fast zufällige Zusammenstellung sich widersprechender Elemente.«
Den Suprematismus lassen Kunsthistorikerinnen 1913 mit der Erstellung von Bühnenbildern und Kostümen von Malewitsch für die Aufführung der Oper russischer Kubo-Futuristen, Der Sieg über die Sonne, in St. Petersburg beginnen. Der die Motive des Futurismus aufgreifende Plot der Oper war die Eroberung der Sonne durch Futuristen und ihr Ersetzen durch elektrisches Licht. Im Moment dieses Wechsels setzt ein Flugzeug zur Bruchlandung auf die Bühne an.
Douglas Charlotte in Tuchman/Freeman 1988, 197
In den Kreisen der futuristischen Literaten und bildenden Künstler war man mit Expressionismus und Kubismus bestens vertraut. An der Entwicklung der russischen Variante, dem Kubo-Futurismus, war Malewitsch beteiligt – immer mit Blick auf die zeitgenössische Wissenschaft. »Die Kubo-Futuristen definierten Realität entsprechend der Wissenschaft des späten 19. Jahrhunderts: die Verschmelzung evolutionärer Ideen mit deutscher Psychophysik und dem wiederauferstandenen Vitalismus des 18. Jahrhunderts. Die Praktiken des Yoga und anderer mystisch und religiös ausgerichteter Disziplinen lieferten die Methoden dafür, diese Konzepte auf die Kunst zu übertragen.« Es war ein erster Schritt in die Abstraktion, der die radikalere Form des Rayonismus folgte.
Bowlt E. John in Ebd., 174
II.2.3.2./II.2.7./1.3.
Douglas Charlotte in Ebd., 174
Neben den Strömungen der europäischen Avantgarde spielte auch für den Suprematismus die in Russland weit verbreitete Esoterik eine wichtige Rolle. »Man sollte bemerken, daß Malewitschs Schriften und Bilder – wie seine Weiß in Weiß-Serien – die offensichtlich okkulten – hier nirwanischen – Assoziationen eher voraussetzen als anwenden.« Im esoterischen Magazin der Kubo-Futuristen lagerten Kosmotheismus und Pantheismus sowie die Noosphären-Vorstellungen von Nikolai Fjodorow. »Tatsächlich drangen mystische Konzepte des Ostens in solchem Maß in die kubo-futuristische Theorie ein, daß es heute schwierig ist, diese als Quellen der avantgardistischen Ideen zu isolieren.«
Ebd., 186
Groys Boris in Kat. 2016d, 63
Das hatte Folgen insofern, als Malewitsch mit dem Suprematismus die stilistischen Beschränkungen von Futurismus und Kubismus sprengte. Es war »[…] die endgültige Absage an die Welt sichtbarer Gegenstände, auf der alle früheren Stile der Kunst und Dichtung basierten.« Diese Absage erweiterte Malewitsch auf die Menschheitskultur schlechthin. 1919 protestierte er gegen die Bemühung der Regierung, angesichts des Zerfalls staatlicher Ordnung die Museen zu sichern. Seine Hoffnungen richtete er auf einen Nullpunkt, einen Neubeginn durch die Zerstörung des Alten. Das (kulturgeschichtliche) Dilemma ist, dass auch eine solche Destruktion aufgeladen bleibt mit der alten Ambivalenz von Tod und neuem Leben. Denn der Tod der Kunst hinterlässt Asche: »Und auch diese Asche ist ein Kunstwerk. Eigentlich ist es das einzig wahre Kunstwerk, denn in ihm manifestiert sich die ewige Energie von Zerstörung und Schöpfung – oder vielmehr der Schöpfung aus der Zerstörung –, die die Welt beherrscht.« Schließlich lud Malewitsch jenseits dieses Fluchtreflexes aus der Last der ästhetischen Tradition seine gegenstandslosen Bilder mit erheblichem Bedeutungsgehalt auf.
das Quadrat
1915 zeigte Malewitsch sein Schwarzes Quadrat auf weißem Grund in der Letzten Futuristischen Ausstellung 0.10 in einer Galerie in St. Petersburg zum ersten Mal und inszenierte das Bild wie eine Ikone (im gleichen Jahr hatte zehn Monate vorher die Erste Futuristische Ausstellung: Straßenbahn W in St. Petersburg unter Beteiligung von Malewitsch und Tatlin stattgefunden). 0.10 stand für die zehn Teilnehmer an der Ausstellung, die das Nichts überwunden hatten. Das Quadrat wurde zum Initialwerk der Strömung, das heftige Kontroversen auslöste und von einem Kritiker wider Willen durchaus nicht unzutreffend »personifiziertes Nichts« genannt wurde. Dieses Quadrat erfuhr eine große Anzahl von mystischen und profanen Deutungsgeschichten, die nach Meinung mancher Kunsthistoriker durchaus den verschiedenen Absichten von Malewitsch entsprechen. Es dürfte indes der ästhetische Reiz des Quadrats gewesen sein, der einen Reigen nicht enden wollender kreativer Nachformungen auslöste. Hier ging es nicht um ein Abkupfern von Vorlagen, sondern um das Prinzip des Iterativismus, das »Entleeren und Neu-Aufladen von vorhandenen Stilgehäusen«, wobei es nicht immer um die Veränderung der Inhalte ankommt, sondern es um den »Prozeß des Auf- und Entladens selbst« geht.
603 Malewitsch, Schwarzes Quadrat (1929); TG
Brüderlin 1990, 111
In einer solchen mystisch-religiösen Deutung wird das Quadrat gewöhnlich als vierte Hypostase gedeutet, die der Trinität hinzugefügt wurde. Darüber kursierten krause Spekulationen. Die Sophiologie des Dichters und Religionswissenschaftlers Wladimir Solowjew wertete die Sophia von einer Eigenschaft Jesu zu einer eigenständigen Person auf. »Mit der Steigerung von der Dreizahl zur Vierzahl vollzieht Malewitsch also eine Grenzüberschreitung von großer theologischer Tragweite.« Folgte man dieser Linie, hätte Malewitsch mit dem Quadrat gleichsam eine »Über-Gottheit« geschaffen als Symbol für das »wahre, reine und volle Menschentum, als die höchste, allumfassende Form und lebendige Seele der Natur des Weltalls, die […] alles Seiende in seine Einheit zurückströmen läßt […].« Eine solche Deutung ist ein extremes Beispiel dafür, welch enorme inhaltliche Aufladung ein bloßes geometrisches Symbol, das für Gegenstandslosigkeit steht, erhalten kann. »Die metaphysisch orientierte Anknüpfung moderner Künstler an die Ikone, die Malewitsch zu ihrer radikalsten Vollendung treibt, schlägt um in eine Apologie des gegenstandslosen Zeichens, das das von ihm Bezeichnete bereits vollständig in sich selbst enthält.«
Krieger 1998, 133
Solowjew, zit. nach Benz 1969, 587
Krieger 1998, 135
Ingold 1994, 373
Kambartel Walter in Argan 1977, 205
Dass eine solche Deutung nicht unplausibel ist, dafür tat Malewitsch selbst jede Menge. Er verlieh den geometrischen Körpern kulturelle Deutungen. Das Dreieck war ihm antik, gleichzeitig heidnisch und christlich, während das Rechteck (der rechte Winkel) der neuen kommunistischen Gesellschaft angemessen sei. Für seine bildnerischen Manifeste gegenstandsloser Kunst verwandte er die Fenstermetapher, wie wir sie aus der Ikonentradition kennen, und er fixierte sein Quadrat in dem »schönen Winkel« der Häuser bzw. des Museumsraums. Gesucht war ein Kunstideal, das die Ambition der Darstellung des Höchsten hat, welche Darstellung aber ungegenständlich sein sollte, so wie das Wesen der genannten Attribute kein Gegenstand ist. Also ist die Gegenstandslosigkeit selbst das Höchste! Malewitsch verfolgte im Suprematismus eine kosmische Utopie. Die gegenstandslose Welt erhielt gar den Rang eines neuen Paradieses. Eine solche Ritualisierung von Gegenstandslosigkeit wurde von anderen Avantgardisten, die einen klar säkularen Kurs absteckten, konterkariert. Alexander Rodtschenko legte Wert auf die Materialität des Bildes und den Gegenstandscharakter eines Kunstwerks. In dieser Weise von mystischen und esoterischen Anmutungen gereinigt, kann das Quadrat als geometrische Figur streng im Sinne der künstlerischen Autonomie und Selbstreferentialität aufgefasst werden, zumal diese geometrische Figur in der Tat »nicht herstellbar, nur vorstellbar ist. Insofern wird das Quadrat zum Inbegriff der Abstraktion und Negativität. […] das Quadrat ist somit die einzige Form, die, nur sich selbst bedeutend, alles bedeuten kann: Bild des Selben, befreit vom Als-ob.« Walter Kambartel wiederum hält wenig von dieser Version einer ästhetischen Autonomie der reinen geometrischen Form und rückt in der suprematistischen Kunst das hohe Utopiepotential in den Vordergrund. Demnach sei das Quadrat ein rationales Gebilde, das aber auch als schwebend in einem weißen Illusionsraum decodiert werden kann, sich also eine Arationalität der Rationalität gegenüberstellt. Kambartels Zugang zum Suprematismus liest sich in Kurzfassung so: »Die geometrische Flächenstruktur steht für die Abstraktion vom Gegenstand, die illusionistische Raumstruktur für die Konkretion einer auch und gerade das Quadrat neu konstituierenden gegenstandslosen Wirklichkeit. Die durch den weißen Raumgrund verkörperte potenzierte Gegenstandslosigkeit meint nicht nur die Abwesenheit von Gegenständen, sondern überdies die Abwesenheit von sozusagen gegenstandslosen Gegenständen, eben ein positiviertes Nichts, aus dem – ex nihilo – das schwarze Quadrat als Paradigma eines gegenstandslosen Gegenstandes hervortritt.« Dabei steht das Weiß der Grundfläche für die gereinigte alte Gesellschaft (»gesellschaftliche Nullsituation«) und das Quadrat für die neue, rationale Gesellschaft.
Malewitsch begleitete seine Suprematismus-Gründung mit auf die Anfeindungen antwortenden philosophischen Reflexionen unter dem sperrigen Titel: Vom Kubismus zum Suprematismus in der Kunst, zum neuen Realismus in der Malerei, als der absoluten Schöpfung. 1916 erschien eine erweiterte zweite Auflage mit verändertem Titel: Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus: Der neue Realismus in der Malerei.
2.1.1.
Malewitsch, zit. HW, 215
Ebd., 208
Ebd., 210
Chave 1989, 190
Der Suprematismus war die bislang radikalste Behauptung einer Gegenstandslosigkeit, die nicht wie die Abstraktion in der Kunst auf Gegenstände der Natur Bezug nimmt, sondern die reine (geometrische) Form bewirtschaftet. »Die Formen des Suprematismus, des neuen Realismus in der Malerei, bilden bereits den Beweis für den Aufbau der Formen aus dem Nichts, die von der Intuitiven Vernunft gefunden wurden.« Das beinhaltete auch die Destruktion des traditionellen Kunstbetriebs. »Ich habe mich selbst in eine Null der Formen verwandelt und mich aus dem tiefen Dreckwasser der Akademischen Kunst herausgefischt.« Der Suprematismus mit seiner absoluten Kunst versammelte geradezu das, was in der religiösen Volkskunst Gott und in der Kunst der Akademien die Schönheit war. »Der Künstler kann nur dann Schöpfer sein, wenn die Formen auf seinem Bild nichts mit der Natur gemein haben.« Da die suprematistische Form keine gegenständliche Abbildung mehr ist, liegt das eigentliche Agens auf der Ausdrucksseite. »His suprematist program was aimed at redirecting the viewers’ attention to what matters most in art – not the material things it reproduces but the feeling it expresses.«
Realismus
Krieger 1988, 155
Ebd., 164
In der oben erwähnten Polemik Nikolaj Punins 1921 in einer Schrift über den Moskauer Avantgardisten und Konstruktivisten Wladimir Tatlin gegen die französische Kunst der Moderne generell und den Kubismus im Besonderen – Verena Krieger hält diese Schrift für »eines der bedeutendsten theoretischen Werke aus dem Kontext der russischen Avantgarde der nachrevolutionären Jahre« – zieh er die Kunst Frankreichs des Ästhetizismus, der einen Individualismus im Gefolge hatte. Ihm wird nun ein Realismus gegenüber gestellt. Ein Pfeiler von Punins Theorie ist die »Ablehnung alles Zufälligen, Individuellen und Subjektiven. Das Werk soll objektiven Notwendigkeiten entspringen, die sich quasi naturwüchsig aus dem bearbeiteten Material selbst ergeben.«
Schneckenburger Manfred in Walther 1998, 447
Der hier gemeinte Realismus ist keiner im Sinn eines westlichen Verständnisses, vielmehr sah Punin in Tatlins Kunst die Evokation einer neuen Welt. Tatlins architektonische Entwürfe – keines seiner Projekte wurde freilich umgesetzt – waren dynamisch und technisch. Er liebte die Spirale (Denkmal der III. Internationale) als Bewegungsrichtung des freien Menschen. Damit teilte er die Meinung der Futuristen, namentlich Umberto Boccionis, die eine spiralförmige Architektur forderten. Allerdings darf der hier verwandte Freiheitsbegriff, sowohl was die Futuristen als auch Tatlin betraf, durchaus hinterfragt werden. Tatlin hatte sich nach der Oktober-revolution dem Regime verpflichtet und sein monströses 300 Meter hohes Denkmal entworfen, eine – wie Manfred Schneckenburger zu Recht einwendet – »gewaltige Utopie zwischen Architektur und Apparat, eine Verbindung von Regierungsgebäude, sozialem Organismus und vehementem Fortschrittssymbol.«
Malewitsch, zit. HW, 212
Wie sehr der Suprematismus in der Moderne-Affirmation eine Nähe zur technisch-wissenschaftlichen Welt-Verehrung des Futurismus hat, offenbart eine Äußerung Malewitschs: »Gigantische Kriege, große Erfindungen, die Eroberung der Luft, die Schnelligkeit der Fortbewegung, Telefone, Telegraphen, Dreadnoughts … das Reich der Elektrizität. Doch unsere jungen Künstler malen Neros und halbnackte römische Krieger. Ehre den Futuristen, […] Sie gaben das Fleisch auf und verherrlichten die Maschine.« Malewitsch entwarf mit seiner Malerei Raumgebilde und schuf Architekturmodelle, über die er ähnlich schrieb wie die Futuristen. Seiner Überzeugung nach bestimmen die Flugzeuge die neue Form der Städte und Häuser. In einem 1927 publizierten Aufsatz Suprematistische Architektur erhob er den Suprematismus zur Form einer neuen Architektur, einer absoluten Kunstform reiner Zweckfreiheit.
Schulz 2015, 33
Breuer 2010, 191
An der Kunstschule von Wizebsk in der Nähe von Minsk (dort war Marc Chagall Direktor, mit dem er sich in einen künstlerischen Richtungsstreit verhedderte und ihm in dieser Funktion nachfolgte) konnte Malewitsch, der »als Theoretiker und als Prophet einer neuen Weltauffassung hervortrat«, ab 1919 den Suprematismus zur Schulrichtung formen. Er wurde zum künstlerischen Paradigma für universelle Gestaltungen, von der bildenden Kunst über die Architektur bis hin zum Design von Geschirr, Zeitungen und Plakaten. Es ging um eine Formensprache, die beinahe einem Code entsprach, der sich um das weiße Quadrat rankte. Schrift, Zeichen und Abstraktion wurden »in einen wesenhaften Zusammenhang gebracht […]. Die Künstler schufen Grundlagen für eine ›visuelle Kommunikation‹, wie sie schon damals von ihnen bezeichnet wurde.« Der Anspruch war freilich nicht bloß der einer Corporate Identity, sondern der einer Erziehung der Gesellschaft durch die Kunst.
Malewitsch, zit. nach Schulz 2015, 33
Groys Boris in Kat. 2016d, 69
Petrova Evgenia in
Ebd., 21
Ende der Zwanzigerjahre geriet Malewitsch, der zwar ähnliche utopische Ziele verfolgte wie die Bolschewisten, unter Druck der stalinistischen Kunstvorstellung. Er malte wieder gegenständlich, was in der Kunstgeschichte gemeinhin als Abfall konstatiert wird. Malewitsch, der kein ausgesprochen politischer Künstler war, erkannte die jeder Avantgarde abträglichen kulturpolitischen Absichten der Bolschewiki dennoch klar. Er schrieb in sein Tagebuch, es habe »niemals eine Sklaverei gegeben wie diejenige, die der Kommunismus hervorgebracht« habe. Die Diskussion über sein Spätwerk ist offen. Boris Groys sieht Malewitsch mit dem »Bazillus des Sozialistischen Realismus infiziert. […] Es lässt sich beobachten, wie sich die Körper seiner Gemälde […] nach und nach verwandeln, immer weniger suprematistisch und immer realistischer werden.« Evgenia Petrova indes kann kein Zurückweichen des Künstlers erkennen, sondern einen neuen, großen Stil jenseits des Sozialistischen Realismus: »Er geht den Weg der Tarnung nicht mit. […] Er wendet sich der realen Wirklichkeit Russlands Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre zu und wechselt die thematische und stilistische Grundlage seiner Kunst. […] Seine Bauern, Arbeiter und Vertreter der Intelligenzija sind figurativ, aber nicht naturalistisch, nicht einmal realistisch.« 1932 wurden die Künstlergruppen aufgelöst und der Sozialistische Realismus der stalinistischen Diktatur zur Staatsdoktrin erklärt.
Koolhaas 2016
Der Suprematismus erreichte über El Lissitzky die Bewegungen von De Stijl und Bauhaus. Vor allem die Erweiterung des Suprematismus in die dritte Dimension durch El Lissitzky, der ja auch Architekt war, stach hier hervor. El Lissitzky prägte das Akronym Proun (für: Projekt für die Behauptung des Neuen) für geometrische Formen, die eine dreidimensionale Illusion auf der Fläche erzeugten und auf eine interaktive Betrachterin ausgerichtet waren. Das Formenrepertoire des Suprematismus hat bis heute seinen Reiz nicht verloren. Bei zahlreichen Künstlern des 20. Jh.s, von Lyonel Feininger, Max Bill bis Barnett Newman und Ad Reinhardt, tauchen Anleihen bei Konstruktivismus und Suprematismus auf. Zaha Hadid stöberte in den Siebzigerjahren in Archiven in Moskau nach der russischen Avantgarde. In ihren geometrischen Splittern könnte man die Formen des Suprematismus erkennen. Vor allem in ihren Anfängen war zudem noch eine revolutionäre, also politische Ambition vorhanden.
der Konstruktivismus
Weitgehend parallel zur Entwicklung des Suprematismus kristallisierte sich der Konstruktivismus heraus. Der Begriff hat keinen festen Umriss. Er ist eher ein Sammelbegriff für Strömungen der Kunst der Moderne, die auf mathematischen Konstruktionen basieren und keine ins Metaphysische reichende Apotheose der modernen Technik betrieben. In der bildenden Kunst dominierten geometrische Formen, also Linie und Winkel. Daneben ging es auch um Farbflächen und deren gleichsam wissenschaftliche Behandlung, also um den Rayonismus. Der Konstruktivismus, zu dem im engeren Sinn etwa zwei Dutzend Künstler zu rechnen sind, umfasste die russische Kunst zwischen 1915 und 1925. Die Konstruktivisten bekannten sich zur künstlerischen Autonomie, zu einer der reinen Form verpflichteten Position, wie sie Malewitsch anfangs mit seinem Suprematismus verfolgte, bis er den Suprematismus als Universalsprache von Kunst und Handwerk verstand. Diese den Programmen von Bauhaus und Werkbund ähnliche Absicht der Vereinigung der Kunstgenres nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern um die Kunst in der Gesellschaft zu verankern, verfolgte auch der Konstruktivismus.
Gabo, zit. nach Schneckenburger Manfred in Walther 1998, 445
Das russische Brüderpaar Naum Gabo (Nehemia Gabo) und Antoine Pevsner gilt neben Wladimir Tatlin gemeinhin als Wegbereiter des russischen Konstruktivismus. Sie waren mehrmals in Paris und Oslo und ab 1917 schließlich im Kreis von Konstruktivisten in Moskau. 1920 publizierten sie (aus einem Versehen im russischen Staatsverlag) ein Realistisches Manifest. Darin hieß es unter anderem: »Das Senkblei in unserer Hand, die Augen präzise wie ein Lineal, mit einem Geist so straff wie ein Kompaß, konstruieren wir unsere Werke wie das Universum die seinen, wie der Ingenieur seine Brücke, wie der Mathematiker seine Formel der Umlaufbahn konstruiert.« Die beiden waren fasziniert von neuen Materialien wie Glas und Plexiglas. Sie setzten diese ein, um vor allem Licht, Raum und Zeit zu thematisieren. Um Zeit und Dynamik in die künstlerische Form umzusetzen, versetzten sie ungegenständliche Figuren mit einem Elektromotor in Schwingung. Anders als Tatlin, der sich nach der Oktoberrevolution dem Regime andiente, gingen Gabo und Pevsner in die Emigration.
2.3.5.
Kruft 1985, 485
In der Propagandaschrift Konstruktivismus verpasste der Künstler und Kunsttheoretiker Alexei Gan der Bewegung eine radikale Material- und Industriegerechtigkeit samt anarchistischen Zügen, indem es um die Zerstörung der alten Kunsttradition ging. Demgegenüber waren die Reflexionen über den Konstruktivismus, die der Stadtplaner und Architekt Moissej J. Ginzburg in seinem Werk Stil und Epoche (1924) vorlegte, ausgewogener. Sein Gesprächspartner (mit dem er einige Jahre lang im Briefwechsel stand) war Le Corbusier mit seinem Klassiker Vers une architecture. Ginzburg war nach der Akademietradition ausgebildet und pflegte Kontakt zum italienischen Futurismus. Zur radikalen Vergegenwärtigung des klassischen Repertoires war er von Wölfflin und Spengler angeregt worden. Mit Berufung auf die Harmonievorstellungen der Renaissance wollte er »den rhythmischen Pulsschlag der Gegenwart in einer zugleich organischen, monumentalen und harmonischen Architektur ausgedrückt sehen […].«
Im Sinne Wölfflins war Stil für Ginzburg eine Manifestation der Zeit. Aktuell ging es ihm vor allem um die Veränderung des Stils im Hinblick auf die Ornamentik. Die zeitgenössische Verselbständigung des Ornaments deutete er als Ausdruck der Dekadenz der Zeit und von Alter und Abstieg einer Kultur im Sinne Oswald Spenglers. Demgegenüber stellte er die Ästhetik der reinen Konstruktion, die gleichsam ihre eigene Ornamentik darstelle. Ginzburg interpretiert den Konstruktivismus als Funktionalismus, sodass der Dualismus von Gebrauchsweise und Form verschwindet und sich in einen Monismus auflöst. Im Vordergrund stand für ihn auch nicht (wie für den Futurismus) der Bruch mit der Vergangenheit, sondern eine Neuadjustierung auf Grundlage der auch vom Futurismus ins Licht gerückten Lebensbedingungen der Dynamik und Maschine. Trotz dieses Bekenntnisses zur Tradition blieb ihm jeder Idealismus fremd.
Urbanisten und Desurbanisten
Ginzburg bezog Stellung in einem Streit um die Stadtplanung zwischen Urbanisten und Desurbanisten. Es ging darum, ob die sozialistische Stadt eine kompakte, durchgeplante und vollkommen vergesellschaftete Stadt seine sollte oder ob nicht die Idee der Stadt als solche bereits ein kapitalistisches Relikt darstelle und als dezentrierte lineare Siedlungsform neu gedacht werden müsse. Ginzburg legte dazu Entwürfe (Moskau als »grüne Stadt«) vor. Im Schoße dieses Streits wuchsen von Le Corbusier, Bauhaus und Marxismus inspirierte Ideen wie beispielsweise die einer ebenso sozialen (weil bedarfsorientierten) wie standardisierten Wohnzelle (von exakt 21,84 m3) als Einheit eines zukünftigen ökonomischen Bauens.
Kretschmer 2013, 117
Wenngleich die geometrischen Formen des Konstruktivismus weltanschaulich neutral auftraten, darf das nicht zum Missverständnis einer politischen Enthaltsamkeit führen. Sie ließen sich als reine l’art pour l’art, als Spiel geometrischer Formen ebenso verwenden wie als Propagandamittel für ein totalitäres Regime. Man kann sogar noch weiter gehen und konstatieren: »Auch der russische Konstruktivismus barg mit seiner Gesellschaftsutopie auf der Basis einer reinen Rationalität und in seinem Glauben an den Triumph von Wissenschaft und Technik ein erhebliches totalitäres Potenzial.« Und das ist in der Tat ironisch, denn der Konstruktivismus in Russland wurde bereits von Lenin, endgültig aber von Stalin harsch beendet und in der Architektur durch einen monumentalen Klassizismus, in der bildenden Kunst durch den Sozialistischen Realismus ersetzt.
Larionow, zit. HW, 123
Michail Larionow und seine Partnerin Natalija Gontscharowa gestalteten grobschlächtige Figuren, die von der bäuerlichen Malerei und unübersehbar von Ikonen-Schemata angestoßen waren. Durch ihre frühe Emigration nach Paris wurden sie auch im Westen einem größeren Publikum bekannt und in ein Schema gepresst. Man heftete ihre vermeintlich antiakademische Kunst unter verschiedenen Stichworten ab: Kubo-Futurismus, die russische Variante des Kubismus, Primitivismus und, wegen dem flächigen Farbauftrag, Rayonismus. Über diese Positionen stießen Larionow und Gontscharowa zu einer ungegenständlichen Malerei vor, die über die Lichtstrahlen-Lehre der zeitgenössischen Physiologie sogar Wissenschaftsanspruch erhob. »Im Rayonismus«, so räsonierte Larionow in seinen Reflexionen Le rayonnisme pictural (1914), »befaßt sich der Maler bei seinen Untersuchungen mit verschiedenen Arten von Dichte, das heißt mit der Tiefe der von ihm verwandten Farbe, sowie mit der Komposition, die durch die Strahlen miteinander schwingender Gegenstände gebildet wird. […] Der Rayonismus möchte die Malerei als Selbstzweck sehen und nicht länger als Ausdrucksmittel.«
IV.8.4.
Ein Brennpunkt der russischen Avantgarde in dem erwähnten Sinn war die Moskauer Kunsthochschule (1920–1927). Sie wurde 1927 als Staatliche künstlerisch-technische Werkstätten (Wchutemas) weitergeführt. Die Schule war gleichsam ein Gegenstück zum Bauhaus, bis sie 1930 zugunsten des Sozialistischen Realismus aufgelöst wurde. Alexander Rodtschenko arbeitete am Lehrplan mit und war selbst von 1920 bis 1930 dort als Dozent tätig. Die Einrichtung suchte die Verbindung der bildenden Künste mit den sogenannten Produktionskünsten: Architektur, Textil- und Metallkunst, Bühnenbildnerei. Absicht war, eine sich über alle Sparten künstlerischen Gestaltens ziehende avantgardistische Formensprache zu finden. Die Künstler des Konstruktivismus waren stark vertreten, neben Rodtschenko auch Wladimir Tatlin, der vor seiner Verfestigung im Konstruktivismus eine Reihe von Avantgarde-Positionen eingenommen hatte, und Wassily Kandinsky. Auch der slawophile rechts-konservative christliche Neuplatoniker Pawel Florenskij war dort, der gegen die Kunstentwicklung im Westen seit der Renaissance polemisierte. Er hatte sich anfangs mit dem neuen Regime arrangiert, wurde dann aber wegen christlicher Agitation zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt und schließlich 1937 hingerichtet. Die Entstalinisierung am XX. Parteitag führte 1958 zu seiner Rehabilitierung und 1981 wurde er von der russisch-orthodoxen Kirche heilig gesprochen. Seine ästhetischen Schriften können als authentische Interpretation der Ikone gelesen werden. Eine solche Haltung entsprach selbstredend nicht dem Mainstream der Avantgarde. Viele Künstler hatten die utopischen Gehalte politisch zu einer Gesellschaftsutopie umgemünzt, die mit der kommunistischen Geschichtsphilosophie konvergierte. Das Verhältnis zwischen den liberalen Avantgardisten und dem Kreis um Florenski war schwierig.
Kambartel Walter in Argan 1977, 204
Nach der Schließung der Schule 1930 aus politischen Gründen hatte der Konstruktivismus die Gunst, als proletarisch-revolutionäre Kunst akzeptiert zu werden. Diese Nähe zur Revolution macht eine Kunst politisch und sie lässt sich dann auch anders entschlüsseln. »Folglich handelt es sich um eine potentiell politische Aussage, wenn in der konstruktivistischen Malerei das Bewußtsein produktiv – z.B. geometrisch – bedingter Rationalität unter der Voraussetzung rezeptiv, d.h. optisch bedingter Arationalität neu konstituiert wird.«