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4.2. Das Weltbild des Neolithikums

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Auch für das Neolithikum ist eine Rekonstruktion der Weltbilder hoch spekulativ. Wir sind hier kaum in einer besseren Situation als mit Weltdeutungen im zeitlich noch weiter entfernten Paläolithikum. Immerhin steht ein hohes Maß an Reflexions- und Abstraktionsfähigkeit des neolithischen Menschen außer Frage. Damit kann man davon ausgehen, dass über die neue Lebensweise und über die technischen und sozialen Umbrüche reflektiert worden ist. Und es ist ebenso wahrscheinlich, dass in dieser Zeit regelrechte Weltbilder und Religionen entstanden. Insofern ist die Mahnung richtig, über den einschlägigen (meist empirischen) Forschungen zu technischen Geräten und zur Ausbreitung der Ackerbaukulturen nicht zu vergessen, dass »die Definition des Neolithikums auf strukturellen Grundlagen im Bereich von Gesellschaft, Wirtschaft und Religion beruht […].« Es scheint plausibel zu sein, dass »die archäologische Hinterlassenschaft – Gräber, Kult- und Opferplätze – eindeutig für den Gemeinschaftscharakter vieler religiös motivierter Handlungen« steht. Dennoch bleibt es auch hier schwierig, die Gestalt solch kultureller Erzählung abzubilden.

Lichardus-Itten/Lichardus 2003, 61

Maier 2005, 49

Es mag verführerisch sein, für die Rekonstruktion des neolithischen Weltbildes den Mythenschatz am und nach dem Übergang in die Zeit der Schrift heranzuziehen. Diese Mythen, schriftlich aufgezeichnete alte oral poetry, sind zu weiten Teilen Reflexionen und Projektionen über und auf eine Zeit, in der die Autoren ihre Geschichten gründen und sie in ferne Vergangenheit projizieren. Man kann mit einiger Plausibilität davon ausgehen, dass sich solche Reflexionen auf historisch Erlebtes beziehen. In der Tat bildet das Neolithikum eine Art Labor für die Entstehung der ersten großen kulturellen Erzählungen, die wiederum einen Übergang in das darstellen, was ausdrücklich als Religion und Philosophie gelten kann.

Die komplexe Rekonstruktion der Anfangsbedingungen solcher Erzählungen ist nun nicht das vordringliche Interesse dieser Untersuchung. Es soll darauf nur so weit Bezug genommen werden, als es in einer Zeit ohne Schrift für das Verständnis der künstlerischen Äußerungen notwendig ist. Zudem darf der Hinweis als Vorschlag gelesen werden, die vielfältigen Bemühungen der Archäologie durch Expertisen über Mythen und kulturelle Erzählungen zu unterstützen.

IX.4.4.ff.

X.3.4.

Röder/Hummel/Kunz 1996, 262

In der Archäologie gab und gibt es mehrere Ansätze, die sich konkurrenzieren und ergänzen: Klimatologische Erklärungen haben genauso Platz wie sozial-religiöse Theorien. Ein von Ian Hodder mit Anleihen im Strukturalismus entwickelter Zugang (contextual archeology) bemüht sich, materielle Objekte aus einem zeitgenössischen sozial-symbolischen Kontext zu verstehen. Archäologische Fundstücke werden dieser Theorie zufolge als Symbole und Zeichen gelesen. Voraussetzung dabei sind tadellose archäologische Befunde, die zudem so reich sein müssen, dass sich ein Netzwerk von Symbolen ergibt, »dessen Sinn dann durch die Aufstellung von Gegensatz- bzw. Übereinstimmungspaaren entschlüsselt werden sollte.« Freilich bleibt dieser Ansatz genauso der Hermeneutik unterworfen, wie dies bei vielen anderen Theorien der Fall ist. Beim »Lesen« der archäologischen Befunde ist man stets mit der Gefahr der Projektion heutiger Vorstellungen konfrontiert.

Ebd., 266

Hodder gelangt zu verschiedenen Netzwerken wie Frau–das Wilde–Tod/Geburt oder: aufwendig verziert–wild–männlich–innen–Norden–Tod und dergleichen, Assoziationen, die sich teilweise widersprechen. Man gelangt auf diese Weise nicht zu einem eindeutigen Code und es bleibt auch hier nichts anderes übrig, als Sinndeutungen zu rekonstruieren, die für die gefundenen Symboliken plausibel erscheinen.

Anregend an Hodders Theorie bleibt die methodische Basis für eine Fokussierung auf weltanschauliche Kontexte, in die man die soziale, aber auch künstlerische Situation einordnen kann. Ein Thema in solchem Kontext, zu dem eine weit ausholende an dieser Stelle aber nicht angebrachte Erörterung notwendig wäre, ist Aggression und Krieg. Mancherorts wird die Darstellung wilder Tiere als Thematisierung einer grundlegenden Aggression angesehen. Andere sehen darin Handlungen von Schamanen, ohne eine bedrohliche Absicht. Abseits der Frage nach der Ursache des Aggressionstriebes im Menschen liegt es nahe, den Krieg mit den neuen Institutionen von Besitz, sozialer Hierarchie und des eigenen, abgegrenzten Territoriums zu verbinden. »Die Ausbildung und das Umsichgreifen einer kriegerischen Gesinnung konnte demgegenüber insofern ein Novum sein, als die Erwerbung, Vermehrung und Verteidigung des Besitzes und des Ansehens in einer vorher unbekannten Weise Anliegen des Sozialverbandes wurde, wobei auch Gewalt und deren Abwehr in die Planung mit einbezogen wurde.« Der Krieg schuf folgerichtig seinerseits eigene soziale Hierarchien, wie sie sich an Grabanlagen von Kriegsherren ablesen lassen.

Hodder 1986

Hodder/Meskell 2011, 241–244

Özdogan Mehmet in Hodder/Meskell 2011, 256

Müller-Karpe 1968, 258

Auch in den späteren Mythenerzählungen sind solche Konflikte zuhauf geschildert. Generell wird in altorientalischen Mythen bis herauf zu griechischen Erzählungen die Sesshaftwerdung zumeist mit dem Beginn der Kultur verbunden, wobei positive wie negative Seiten, Gewinn und Verlust, aufgerechnet werden. Die alttestamentliche Erzählung sieht darin einen Sündenfall und den Beginn eines Lebens voll von Mühsal und Arbeit.

Mit anderen Worten: Das bis heute aktuelle Thema der technischen Verwandlung der Welt begann im Neolithikum.

Leroi-Gourhan 1988, 195

Mahlstedt 2004, 129

Mit den technischen Neuerungen und Domestikationen richtete der sesshaft gewordene Mensch ganz generell die Natur technisch auf sich zu. Er domestizierte nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern auch Zeit und Raum. Die nomadische Gruppe »wandert im Rhythmus des Entstehens und Verschwindens ihrer Ressourcen und beutet ihr Territorium in einem Zyklus aus, der in den meisten Fällen von den Jahreszeiten abhängt.« Bei den Ackerbauern und Viehzüchtern hingegen wurde der Rhythmus der Naturzyklen auf den Gebrauch durch den Menschen zugerichtet. Der Vorschlag ist nicht ohne Reiz, in der jetzt verschiedentlich aufkommenden Kreuzsymbolik ein Zeichen dieser spezifischen Domestikation zu sehen: »Es symbolisiert die Ordnung, die sich das sesshafte Leben geschaffen hat.«

Noch ein Gedanke legt sich hier nahe: Gleichsam um diesen gewaltigen technischen Eingriff zu kaschieren, wird die Sphäre der kosmischen Zyklen in einen religiösen Raum ausgelagert und zur Erinnerungsarbeit sichergestellt. Das könnte ein Impuls für die Erklärung sakraler Materialisierung (in Kunst und Architektur) genauso sein wie es gleichzeitig erklärt, weshalb dieses Narrativ kosmischer Ordnung so viele Jahrhunderte ein bestimmendes metaphysisches Konzept blieb und eine so nachhaltige Rolle für Kunst und Architektur (auch für die »Architektur« religiöser und philosophischer Erzählungen) spielte.

Dem Ackerbauern werden die Vorgänge der Natur zum Symbol und zum Gleichnis: Werden und Vergehen, Wachstum und Untergang. Zweifellos liegt hier ein großer Schritt der Abstraktion vor. Es kann bestenfalls ein motivisches Aperçu sein, in solchem Zusammenhang einen frühen Kubismus in der neolithischen Kunst zu konstatieren.

Kühn 1954, 71ff

Die wichtigste Neuerung der neolithischen Menschen war das, was die Epoche auszeichnete: die Entscheidung zur Sesshaftigkeit. Dass diese Entscheidung wegen ihrer Nachteile keineswegs selbstverständlich war, wurde gesagt. Vielleicht war das den Menschen vorher nicht bewusst. Aus philosophischer Sicht ließe sich allenfalls ein Argument für diese Entscheidung ins Treffen führen: die Entdeckung der Geborgenheit gewährenden Statik in der Erscheinungen Flucht. Es dürfte eine besonders spannende Erfahrung gewesen sein, angesichts der dynamischen Form des Lebens und der Natur, des jährlichen Klimazyklus, des Tag- und Nacht-Wechsels, die Stabilität dieses Zyklus und damit die sich darin bietende Geborgenheit zu entdecken. Dieser Zyklus musste geradezu als Einladung aufgefasst werden, über die ständigen Verlustanzeigen des scheinbar Flüchtigen in der Stabilität dieser Dynamik einen wertvollen Schatz bewahren zu können. Bewegung und Dynamik werden stets in einem größeren Ganzen aufgefangen, der Prozess in einer übergeordneten Ganzheit und Totalität aufgehoben. Es gibt zwei Erlebnispole: den Wandel und das im Wandel Bleibende. Waren diese beiden Pole als Grunderfahrungen des Lebens damals im Bewusstsein der Menschen im Gleichgewicht? Das ist schwierig zu beantworten. Es gibt in der Kunst sowohl die Darstellung des dynamischen Spiels des Seins als auch die Abstraktion des Denkbildes als Gerinnung des Unveränderlichen am Veränderlichen. Das Verhältnis von dynamischem und statischem Aspekt des Seins durchzieht die Kultur- und Philosophiegeschichte bis zur Gegenwart. Jedenfalls finden diese Einsichten in künstlerischer Tätigkeit und vermutlich auch in Mythen vielfältigen Niederschlag, beispielsweise als kultische Beschwörung der Polarität des Fruchtbarkeitszyklus.


19 Neolithische Idole; CMN

Jensen 1948, 35ff

Eliade 1976, I, 42

Der Sesshaftigkeit gehen also die Einsicht in Kausalzusammenhänge von Aussaat und Wachstum und die erwähnte Übereinstimmung mit den Zyklen der Natur voraus. Dass man solche Zusammenhänge mit religiösen Konnotationen versah, dürfte naheliegend sein. Das speiste besonders Erzählungen von der Erde als nährender Frau und bildete die Basis für zahlreiche Erd- und Getreidegottheiten. Spätere Mythen handeln vom Wachsen der Kulturpflanzen aus dem Leib einer Gottheit. Getreidepflanzen werden als Ergebnis einer heiligen Hochzeit dargestellt. Insbesondere die Getreidebearbeitung und die Feuerbereitung erinnern als archaische Kulturtechniken an die geschlechtliche Polarität und die sich daraus ergebende Fruchtbarkeit. Für Mircea Eliade ist die »sexuelle Symbolik der in Phallusform geschnitzten Stampfer [ist] so ›evident‹, daß an ihrer magisch-religiösen Bedeutung nicht gezweifelt werden kann.«

Hier lagen unblutige Opfer der Ackerbauern vor. Das exponiert die interessante, unser Thema jedoch übersteigende Frage nach den Opferriten der Religionen. Spätere Kulte, die der neolithischen Innovation der Pflanzergesellschaft nahe standen, wie der Pythagoreismus und die Orphik, lehnten blutige Menschen- und Tieropfer ab. Trotzdem setzten sich unblutige Opferriten in der beginnenden Antike niemals lückenlos durch. Die bekannte These Walter Burkerts dazu war, dass der Mensch seine biologische Evolution überwiegend in der paläolithischen Jägerzeit durchlaufen hat, der gegenüber die wenigen Jahrtausende der Ackerbaukultur nicht ins Gewicht fielen. »Von hier aus ergibt sich eine Perspektive, die die erschreckende Gewalttätigkeit des Menschen verstehen läßt aus dem Raubtierverhalten, das er bei seiner Menschwerdung angenommen hat.« Das Jägerverhalten habe sich dann durch die einsetzende Ritualisierung erhalten.

III.2.1.2./III.2.2.3.

Burkert 1972, 25

4.1.

Röder/Hummel/Kunz 1996, 280

Ebd. 1996, 297

Das Thema der Fruchtbarkeit der Erde hat mit ihrer großen phantastischen These einer neolithischen Muttergottheit Marija Gimbutas offensiv vertreten. Ihre Spurensuche nach Göttinnen in dem von ihr Altes Europa genannten Raum, der das Donaubecken und Süd-Ost-Europa umfasste, ist eine eindrucksvolle Beschreibung einer möglichen neolithischen Weltbild-Erzählung. Gimbutas sah den Höhepunkt um etwa 5000. Ihre These erfreute sich einer bereitwilligen Rezeption, die sich zur Vorstellung eines ausdrücklichen Matriarchats verdichtete, das durch indogermanische Einwanderer zerstört worden sei. Im Lichte aktueller Faktenlage findet diese These allerdings keine Unterstützung mehr. »Gimbutas’ Vorstellung vom Gang der Urgeschichte wirkt wie ein phantastisches Historiengemälde. Durch die Bilder von Kampf, Blut und Eroberung erhält es eine Dynamik, die eher der Dramaturgie eines Abenteuerromans als der Urgeschichte selbst entnommen scheint.« Nicht einmal die feministische Archäologie konnte sich für Gimbutas’ Geschichten erwärmen, witterte man doch hinter der Großen Göttin die »bloße Reproduktion eines Frauenideals aus dem 19. Jahrhundert«, abseits der eigentlichen Komplexität der Geschlechterbeziehungen.

Hodder/Meskell 2011, 236f

Neuere Funde in Anatolien zerzausten das einstmals so starke Narrativ von der großen Muttergöttin des Neolithikums nachhaltig. Viele Fundstücke müssen im Gegenteil als phallisch angesehen werden. Ian Hodder und Lynn Meskell sprachen in einem eindrucksvollen und die Debatte neuerlich belebenden Beitrag sogar von einem »Neolithic Phallocentrism […] current data present a picture of animality and phallic masculinity that downplays female centrality.« Dabei geht es keineswegs um den Austausch von Metaerzählungen, sondern um Korrektur und um Angleichung der Deutung an das empirische Material. »We do not argue that the representation of the female is insignificant in the Neolithic of the region, only that it has frequently been overemphasized at the expense of clear and sometimes predominant male imagery.«

Ebd., 240

Gimbutas 1974, 195ff

Abgesehen von dem universellen Anspruch einer solchen These bleibt sie vielleicht hilfreich für die Deutung einzelner Kunstobjekte. Dass die neolithische Muttergottheit (prehistoric Great Goddess) als Symbol der ständigen Regeneration aus sich selbst schöpfte und sich damit von der indoeuropäischen Erdmutter unterschied, die zur Fruchtbarkeit den männlichen Himmelsgott brauchte, wäre eine Möglichkeit, mit den zahlreichen bisexuell (breiter Körper mit phallusähnlichem Hals) geformten Bildwerken umzugehen.

Wenn es die Einsichten in die Zusammenhänge der Fruchtbarkeit gab, könnte sich in der Folge eine Topographie der Teilung von Erde und Himmel verfestigt haben, der im Weiteren eine reiche Ikonographie zuwuchs. Inwieweit man die Form der heiligsten Orte in frühen Tempelanlagen und Hypogäen davon ableiten kann, ist schwer zu sagen. Dass es solche Zusammenhänge gibt, scheint aber nicht unplausibel. Im Alten Orient spiegeln die Mythen ein Schichtenmodell des Universums. Die Ebenen von Unterwelt/Wasser, Erde und Himmel waren für die Gottheiten über Treppen (Zikkurat, Pyramide) zu erreichen.

Ohly 1986, 916


20 Architektur oder Skulptur; Menhire in Carnac

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