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Gefangen ohne Gitter
ОглавлениеAls ich mein erstes Studium beendete, war für meinen Vater klar, dass ich »zum Siemens« gehen würde. Ich hatte schon ein Praktikum dort absolviert und ein paar Kontakte. Für meinen Vater, einen selbstständigen, aber verschuldeten Handwerker und Kleinunternehmer, der täglich zu kämpfen hatte, muss die Aussicht auf eine Position in einem Weltkonzern extrem attraktiv gewesen sein. Siemens galt als Inbegriff für eine sichere, gutbezahlte Stellung mit Status und Aufstiegschancen. Der heilige Gral des deutschen Ingenieurs.
In jedem Land, in jeder Kultur, in jeder Familie und in jedem Einzelnen von uns ist eine Vielzahl von Glaubenssätzen und Einstellungen abgespeichert (mehr dazu auch in Kapitel 9). Diese haben enormen Einfluss auf die Wahl unseres Berufs, unseres Partners, unsere Mobilität und Risikobereitschaft. Traditionell sind wir Deutsche eher auf Sicherheit bedacht, auf Anpassung und soziale Konformität. Berufliche Leistung erzeugt ein hohes Ansehen und ein einmal erreichter Status wird sorgsam verteidigt. Das hat unbestreitbar Vorteile, aber eben auch Nachteile. Etwa wenn es um die Bereitschaft geht, aus einer etablierten Position heraus etwas zu ändern. Wir rationalisieren und bekämpfen sogar unsere Lebensträume, da wir zu viel Angst haben, unsere hart erarbeitete Position zu verlieren und mit leeren Händen dazustehen. »Viele meinen, Gier treibe uns an, das ist falsch: Es ist die Angst. Wir sind gar nicht getrieben von dem Verlangen, immer höher, immer schneller, immer weiter zu kommen, sondern von der Angst, nicht mehr mitzukommen, abzurutschen, zurückzufallen.«2 Der Preis ist ein nicht gelebtes Leben und das Gefühl, Chancen und unsere wahre Bestimmung verpasst zu haben.
Auf Dauer lässt sich dieser Zustand nur schwer aushalten. Oft wird die Hauptursache von Burnout als Dissonanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit beschrieben. Die Strategien zur Überwindung bzw. Vermeidung dieser inneren Konflikte sind vielfältig, führen aber auf Dauer oft zu Erkrankung und Suchtverhalten. Kompensiert wird zum Beispiel durch Reisen oder Luxusgüter. Auch damit, die Verantwortung für meine eigenen Probleme auf andere abschieben, bevorzugt auf den Lebenspartner oder die Vorgesetzten. Ich selbst hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, nach langen Arbeitstagen entweder exzessiv Sport zu treiben oder bis zur letzten Runde in Bars abzuhängen. Meine Reisen waren ein Spiegelbild des beruflichen Stresses: immer aktiv, immer unterwegs, immer in Aktion. Ein Beispiel dafür: Nach einer zweiwöchigen Trekkingtour durch Ost-Afrika fuhr ich, ohne einen Stopp zu Hause, vom Flughafen direkt in die Arbeit. Glücklicherweise ging mein Koffer beim Transfer verloren, sonst hätte ich wohl ein noch merkwürdigeres Bild abgegeben.
Unser Gefängnis haben wir selbst erschaffen, durch Konventionen, ständiges Erhöhen der Geschwindigkeit und Effizienz und einem immer verzweifelteren Zwang zu Konsum und Selbstoptimierung. Die gute Nachricht: Wir können uns auch daraus befreien, wie es zum Beispiel Robert Wingham in seinem lesenswerten Buch Ich bin raus3 beschreibt und wie es auch fast alle meiner Gesprächspartner getan haben.