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Sonntag, 19. Juni 16 Uhr 11

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Felix Frisch saß am Beifahrersitz und fuhr mit seiner jungen Kollegin Kathi am Steuer ganz gemächlich über die Mauterner Brücke. Dabei warf er einen sehnsüchtigen Blick hinunter auf den Strom. Am meisten liebte er dienstliche Einsätze im Polizeiboot. Vor allem stromaufwärts. Einfach herrlich, den Druck der Strömung auf das Boot zu spüren und mit Vollgas von Welle zu Welle zu springen. Einsätze per Funkstreife rangierten auf seiner Beliebtheitsskala deutlich dahinter, sofern sie ohne Blaulicht und Folgetonhorn erfolgen mussten. Er war jetzt schon weit mehr als zwanzig Jahre bei der Polizei, aber diese beiden Insignien seiner Amtsgewalt bedeuteten ihm noch immer viel. Fast so viel wie seine drei Sterne. Er konnte sich daran weder satthören noch sattsehen. Wenn dann auch noch das faszinierende Geräusch von quietschenden Reifen kombiniert mit einem sichtbar ausbrechenden Heck dazu kam, dann war sein Glück perfekt.

Hingegen hasste er alle Einsätze, die einen längeren Fußmarsch erforderten. Nicht so sehr, weil ihm da seine zwanzig Kilo Übergewicht etwas im Weg waren. Das behauptete nur seine Frau mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit, an die er sich in 22 Ehejahren noch immer nicht gewöhnt hatte. Sondern, weil ein zu Fuß auf der Bildfläche auftauchender Polizist halt keine besondere Autorität ausstrahlte und nicht den Respekt einflößte, der einer Amtsperson in Uniform und in offizieller Mission zustand. Da halfen ihm auch die drei Sterne am Kragen nicht, wie er immer wieder betrübt zur Kenntnis nehmen musste. Er hatte noch nie erlebt, dass ihn ein an einem Unfall Beteiligter, ein Passant oder ein Zeuge mit ›Herr Gruppeninspektor‹ angesprochen hätte. Wie es ihm zugestanden wäre. Sondern immer nur mit ›Herr Inspektor‹. Auch schon in seiner Zeit als Polizeischüler. Ein Polizist war offensichtlich für die Masse der Leute immer ein ›Herr Inspektor‹. Ungebildetes Pack.

Ein Piepen riss ihn aus seinen Gedanken.

Karl von der Leitstelle meldete sich via Funk. »Felix, ein Weinbauer aus Weißenkirchen hat eben den Fund einer schwer verletzten oder gar toten männlichen Person gemeldet. Im Weinbaugebiet zwischen Dürnstein und Weißenkirchen. Oberhalb der Bahntrasse. Dürfte über eine Mauer gestürzt sein. Notarzt und Rettung sind bereits verständigt. Bitte bestätigen.«

»Verstanden. Fahren gerade von der Brücke Richtung Wachau ab. Sind in spätestens zehn Minuten vor Ort. Ende.«

»Übernimm dich nicht, Felix«, schallte Karls Stimme höhnisch aus dem Gerät. »Ich kenne die Gegend. Ganz schön steil. Schafft vielleicht die Kathi in zehn Minuten. Du schleppst dafür zwanzig Kilo zu viel herum. Ende.«

Der Gruppeninspektor bildete sich ein, noch ein wieherndes Gelächter seines Kollegen am Funk gehört zu haben. Arschloch. Während er das Blaulicht einschaltete, spürte er die tätschelnde Hand seiner Kollegin auf seinem Oberschenkel.

»Kränk dich nicht. Der Karl ist dir ja nur deine Erfahrung neidig.«

Felix Frisch wusste nicht recht, ob er sich über den Trost freuen oder sich über das Mitleid ärgern sollte. Auch, weil sein Gehirn gerade ganz von der Vorstellung in Anspruch genommen wurde, keuchend und schwitzend einen Weinberg hinaufklettern zu müssen. Oberhalb der Bahntrasse. Da wusste er schon, was ihn erwartete. Und das alles, weil wahrscheinlich irgendein dahergelaufener Blödel über seine Füße gestolpert war. Ein für einen Polizisten seines Kalibers völlig uninteressanter Fall.

Wenn er es genau überlegte, so war die Beschreibung »in den Weinbergen zwischen Dürnstein und Weißenkirchen oberhalb der Bahntrasse« eine Frechheit. Das war ein großes Gebiet und er hätte ja auch ortsunkundig sein können. Typisch Karl. Wenn es nach ihm, Felix, ging, würde der nie Gruppeninspektor werden. Kathi hatte schon recht. Der Kerl gönnte ihm einfach seinen Rang nicht.

Vor dem Dürnsteiner Tunnel entschloss er sich, auch das Folgetonhorn aufzudrehen. Machte sich gerade im Tunnel durch den Widerhall fantastisch. Insgeheim hoffte er, dass der Notarztwagen schon vor dem Streifenwagen vor Ort war. Das würde ihm die Mühe ersparen, die richtige Einstiegsstelle in den Weinberg zu finden.

Kaum hatte der Polizeiwagen den Tunnel und die West-Auffahrt nach Dürnstein passiert, drosselte seine Kollegin das Tempo, ohne dass er sie dazu aufgefordert hätte. Keine zwanzig Sekunden später neigte sie den Kopf nach vorne und deutete mit ihrer Rechten unter dem Rückspiegel durch.

»Schau, da oben. Da schwenkt jemand ein Hemd oder so etwas Ähnliches.«

Felix starrte durch die Windschutzscheibe. Es dauerte einige Zeit, bis auch er das Schwenken eines Stücks weißen oder gelben Stoffs wahrnahm. War ja auch im dichten Grün der Blätter der Weinreben schwierig zu erkennen.

»Dann bleib da vorne stehen. Du wartest hier, bis der Notarzt kommt. Vielleicht findet er den Unfallort nicht. Nicht jeder hat solche Adleraugen wie wir beide.«

Felix Frisch hoffte, seine junge Kollegin würde nicht merken, dass er unbedingt als Erster am Ort des Geschehens sein wollte.

»Aber er sieht doch unser Auto.«

»Glaub mir, Kathi. Ich weiß, wovon ich rede.« Er stieg aus dem Wagen und schätzte die Höhenmeter von der Straße bis zu der Person ab, die noch immer ihr Hemd oder etwas Ähnliches schwenkte. Fünfzig bis sechzig Meter, steil bergauf. Mit einem Seufzer machte er sich auf den Weg. Zunächst kämpfte er sich die Böschung zur Bahntrasse hinauf. Wie ein Eiskletterer hieb er bei jedem Schritt seinen Schuh in die Grasbüschel, um festen Halt zu finden. Eigentlich eine Frechheit. Die Bundesbahnen hätten hier aus Sicherheitsgründen längst Stufen in die Böschung bauen sollen. Was, wenn ein Zug ausgerechnet auf diesem Streckenabschnitt steckenblieb und die Menschen hier aussteigen mussten. Nirgends konnte man sich anhalten. Diese Böschung war die reinste Todesfalle. Als er endlich auf der Bahntrasse ankam, ging er ein paar Schritte, sodass Kathi ihn nicht mehr sehen konnte, und legte erst einmal eine Verschnaufpause ein. Immerhin ein Fünftel des Weges war geschafft. Nun ging es darum, einen Durchgang zu finden, um weiter hinaufzugelangen. Der Weinberg war in Geländestufen angelegt, jede mit einer Mauer aus unbehauenen Steinen befestigt. Da es hier sehr steil war, waren die Mauern mannshoch. Vier Geländestufen waren es von der Bahntrasse bis zu dem Mann da oben, der mit dem Schwenken des Hemds aufgehört hatte und stattdessen mit gestrecktem Arm deutete. Messerscharfe Schlussfolgerung: Da vorne musste irgendwo ein Durchgang sein. Tatsächlich. Da war eine Lücke in der Mauer und dahinter ein sandiger Pfad mit ein paar Stufen an den steilsten Stellen. Weinbauern waren eben vernünftige Leute. Auf der zweiten Geländestufe hörte er und sah dann auch schon den Rettungswagen, der keine zehn Sekunden später hinter dem Polizeiauto einparkte. Der Notarzt, den er mit seinen Adleraugen sofort erkannte, und die beiden Sanitäter stiegen mit einem Tempo den Bahndamm hinauf, dass er sich würde sputen müssen, wenn er wirklich vor ihnen an der Unfallstelle sein wollte. Er hörte sich keuchen. Elende Schinderei. Dabei lud der Ausblick an dieser Stelle zum Aufstellen eines Liegestuhls ein. Am anderen Donauufer lag eine der größeren bewaldeten Inseln, die kaum jemand betrat, obwohl der schmale Kanal hinter ihr leicht zu überqueren war. Von Rossatz und Weißenkirchen sah man von hier oben auch ein gutes Stück. Warum hatte er dieses Motiv noch nie auf einer Postkarte gesehen? Wahrscheinlich, weil sich kein Fotograf die Mühe machte, hier heraufzuklettern. Unten schlängelte sich gerade ein Zug der Wachaubahn vorbei. Wirklich malerisch hier zwischen den saftig-grünen Weinreben. Nur die Trauben fehlten noch. Die waren erst Ende August so weit.

Er hörte den Notarzt und die Sanitäter hinter sich, ebenfalls schnaufend, schaffte es jedoch noch vor ihnen. Sehr ausgepumpt zwar, aber immerhin.

»Da sind Sie ja endlich. Wir warten hier schon geschlagene zwanzig Minuten.« Der ältere Mann, der gewunken hatte, deutete auf einen verschwitzten jüngeren, der neben einer ungefähr zwei Meter von der oberen Stützmauer entfernt liegenden Person kniete und mit Herzdruckmassage beschäftigt war. »Seitdem hat sich der Mann da nicht bewegt«, fuhr der ältere fort. »Wenn Sie mich fragen, ist er tot.«

Mit dem geschulten Augenmaß eines Gruppeninspektors schätzte er zunächst die Höhe der Stützmauer ab – gute drei Meter – und beugte sich dann über den leblosen Körper. Er erschrak. Das Gesicht kannte er. Es gehörte einem Kremser Antiquitätenhändler. Vor ein paar Wochen hatte er einen Einbruch in sein Haus angezeigt. Wie war doch gleich sein Name?

Dürnsteiner Himmelfahrt

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