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Pudong

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Schanghai, keine Stadt der Welt hat sich in den letzten 50 Jahren so massiv zu einem führenden Wirtschaftszentrum entwickelt. Pudong, der hochmoderne Stadtteil am rechten Ufer des Huangpu prägt mit seinen gewaltigen Hochhäusern das äußere Erscheinungsbild. Viele Hundert große Schiffe befahren täglich den 400 Meter breiten Fluss, obwohl außerhalb der Stadt zusätzlich der größte Tiefwasserhafen der Welt, Yangshan, die mächtigsten Containerschiffe abfertigt.

Es ist ein nebliger Tag. An einer Kaimauer liegt ein Stückgutfrachter in Richtung flussabwärts tief im Wasser. Offensichtlich ist die Fracht bereits an Bord. In fetten Lettern ziert der Schriftzug SIMBA FOR EVER den Bug des Frachters. Vor wenigen Minuten ging der Lotse an Bord, was darauf hindeutet, dass das Schiff in nicht allzu ferner Zeit ablegen wird. Unmittelbar neben der Lotsentreppe mit ihren 21 Stufen stehen zwei dunkle Limousinen mit offenen Türen. Die korrekt gekleideten Fahrer unterhalten sich entspannt, während eine kleine Gruppe von Anzugträgern auf ein Dokument schaut, welches auf einer Motorhaube abgelegt ist.

»Herr Beyer, ich hoffe sie sind mit dem Gesehenen zufrieden. Ich bin mir sicher, dass ihr Land mit dieser Lieferung die Modernisierung ihrer Straßen in erheblichem Umfang beschleunigen kann. Ihre Idee mit dem Baukastensystem und unsere kostengünstigen Produktionskapazitäten werden ein leuchtendes Beispiel deutsch-chinesischer Zusammenarbeit sein«, bietet ein Grauhaariger in einem maßgeschneiderten Anzug seinem Gegenüber ein edles Schreibutensil zur Unterschrift an.

»Da bin ich sehr zuversichtlich, Herr Qian. Mit ihren Bauelementen werden wir in der Lage sein, den Investitionsstau unserer Verkehrsinfrastruktur erheblich abzubauen«, nimmt Herr Beyer den Stift und beugt sich über das aufgeschlagene Dokument. Bevor er jedoch die Unterschrift leistet, dreht er seinen Kopf zu seinem Begleiter: »Herr Bogener, gehe ich richtig in der Annahme, dass ich auch aus Sicht des Versicherers unseres Lieferanten das Übergabedokument unterschreiben kann?«

Der angesprochene Mittvierziger im hellgrauen Straßenanzug nickt mit einem leichten Lächeln. »Sie können, Herr Beyer. Ich habe mich vergewissert, dass alles an Bord ist und die Qualität hat der beauftragte TÜV-Sachverständige bereits bestätigt. Ich muss gestehen, dass ich nicht jeden Tag ein Versicherungsvolumen von 200 Millionen Euro überprüfe«, ergänzt der Versicherungsbeauftragte.

»Prima! Nachdem der Tallymann die Fracht bestätigt hat, kann nunmehr unterschrieben werden. Übrigens muss ich gestehen, dass diese Summe auch für mich ein Novum ist«, unterzeichnet Herr Beyer das Dokument und zwei Kopien. Danach reicht er den Stift an Herrn Qian zurück, der ebenfalls seine Unterschrift leistet.

Dieser gibt seinem Fahrer ein Zeichen. Wenig später haben die Geschäftspartner ein Glas Champagner in der Hand und prosten sich mitten im Lärm des pulsierenden Industriehafens zu.

»Auf den Erfolg ihres Projektes und hoffentlich eine weitere gute Zusammenarbeit. Möge ihr Tallymann noch viele künftige Waren zählen!«, prostet Herr Qian den beiden Deutschen zu.

Der Mann im grauen Straßenanzug schaut fragend in die Runde: »Entschuldigung, aber was ist ein Tallymann?«

»Das ist ein Ladungskontrolleur in einem Seehafen. Vielleicht kennen sie den Banana-Boat-Song von Harry Belafonte. Aber das war lange vor ihrer Zeit«, erläutert Herr Beyer süffisant.

Auch Herr Qian kann sich ein dezentes Schmunzeln nicht verkneifen.

Nach einigem Small Talk verabschieden sich die Geschäftspartner. Der Versicherungsangestellte fährt mit Herrn Beyer zum Flughafen.

»Ich habe die ordnungsgemäße Frachtaufgabe bereits unserer Zentrale übermittelt. Ich habe ihnen eine Kopie als PDF an ihre Mailadresse gesendet. Sie bekommen selbstverständlich auch ein Papierdokument. Damit ist die Ladung ab sofort versichert.«

»Ich bin sehr zuversichtlich, dass Herr Qian die Versicherungsleistung nicht in Anspruch nehmen muss. Das Schiff und die Crew haben bei mir einen sehr guten Eindruck hinterlassen. Dennoch ist es beruhigend, einen Versicherungsschutz unseres Auftragnehmers zu haben, Herr Bogener. Wann geht denn ihr Flieger?«

»Ich habe noch einen Kurzurlaub in Peking angehängt. Mein Inlandsflug geht in drei Stunden. Wann fliegen sie zurück?«, fragt Herr Bogener.

»Ich habe übermorgen einen wichtigen Termin in Düsseldorf. Daher habe ich leider nicht die Möglichkeit für etwas Sightseeing«, antwortet Herr Beyer in einem bedauernden Tonfall.

Nach einiger Zeit erreichen sie den Schanghai Pudong International Airport. Nachdem das Gepäck aus dem Wagen geladen ist, geht Herr Beyer auf Herrn Bogener zu und reicht ihm zum Abschied die Hand: »Wir sehen uns dann in drei Wochen in Rotterdam. Machen sie es gut und genießen sie den Trip nach Peking.«

»Danke, Herr Beyer! Bis Rotterdam!«, entgegnet Herr Bogener. Er hat sich gerade fünf Schritte entfernt, da haut er sich mit der flachen Hand auf die Stirn und dreht um: »Herr Beyer!«

»Ja, bitte?«

»Es ist mir sehr peinlich, aber ich habe etwas vergessen und sie könnten mir aus der Patsche helfen.«

»Wenn es keine Umstände macht, gerne«, antwortet Herr Beyer.

»Unsere Schadenssachbearbeiterin benötigt schnellstmöglich die Originalunterlagen, damit unser Vorstand die Leistungsübernahme gegenzeichnen kann. Das habe ich bei meiner Planung des Kurzurlaubs vollkommen vergessen. Dürfte ich so unverschämt sein, sie zu bitten, diesen Botendienst für mich zu erbringen?«, schaut Herr Bogener fast flehend.

»Kein Problem. Geben sie her. So einen Trip nach Peking muss man gemacht haben. An wen muss ich mich wenden?«, entgegnet Herr Beyer freundlich.

»Oh, das ist supernett von ihnen. Ansprechpartner ist Frau Sabine Ott«, kramt Herr Bogener die Unterlagen aus seinem Koffer. »Das werde ich ihnen nie vergessen.«

»Nicht der Rede wert. Das hätten sie auch gemacht. Genießen sie Peking. Sie können mir ja ein paar Fotos zukommen lassen«, entgegnet Herr Beyer freundlich.

»Ein ganz dickes Danke und selbstverständlich bekommen sie einige Fotos«, zeigt sich der Versicherungsangestellte sehr erleichtert. Dann trennen sich beide und gehen zu ihren jeweiligen Abflugschaltern.

Im Auge des Milans

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