Читать книгу Im Auge des Milans - Bernward Salomon - Страница 6
Zwei Tage später
ОглавлениеEs ist früh am Morgen. Claudia reibt sich die Augen und öffnet die Terrassentür. Die Sonne hat es noch nicht über den etwa zwei Meter hohen Sichtzaun geschafft. Lautes Vogelgezwitscher ist aus dem angrenzenden Wald zu hören. Vorbei an der Gartensauna geht sie über die vom Tau bedeckte große Rasenfläche zu dem gemauerten Torbogen mit dem schweren Eichentor, das ihren Garten vom Rheinufer trennt. Nachdem sie den Riegel zur Seite geschoben und den Ausgang geöffnet hat, schlägt ihr die grelle Morgensonne ins Gesicht. Schützend hält Claudia die Hand vor die Augen.
»Guten Morgen Chefin, das nenne ich mal einen kurzen Weg zur Arbeitsstelle«, begrüßt sie einer ihre Mitarbeiter in einem weißen Schutzanzug.
Unterhalb der das Gesicht schützenden Hand erkennt die Leiterin der Spurensicherung eine schwarze Limousine mit geöffneten Türen. Das Fenster der Fahrertür ist zerborsten. Auf dem Boden darunter liegen rot gefärbte Glassplitter.
»Ich hoffe, du hast gut gefrühstückt. Sieht nicht sehr appetitlich aus. War ein glatter Durchschuss«, warnt sie von der Seite eine ihr vertraute Stimme vorsorglich beim Annähern an den Wagen.
»Guten Morgen Astrid, ich habe nach all den Jahren damit kein Problem mehr. Du bist aber auch schon früh auf den Beinen«, antwortet die gewohnt bequem gekleidete Leiterin der SPUSI.
»Das sieht auf den ersten Blick nach einem Selbstmord aus. Im Wagen lag dieser Abschiedsbrief. Ob die Einschätzung stimmt, können wir erst später sagen. Der Mann hieß übrigens Beyer, Jens Beyer«, überreicht der Mitarbeiter im Schutzanzug Astrid das Dokument in einer transparenten Kunststoffhülle.
»Ist schon klar«, nimmt die, wie immer schick gekleidete, Hauptkommissarin den Brief entgegen und geht zur Beifahrerseite der Limousine. Auf dem Lenkrad liegt der Kopf des Toten. Die Innenverkleidung der Fahrertür sowie das Hosenbein sind blutüberströmt. Beide Hände baumeln leblos herunter. Nur wenige Blutspritzer liegen auf dem Mitteltunnel.
»War wohl ein aufgesetzter Schuss«, erläutert Claudia, die hinter ihr in den Wagen schaut.
Astrid hebt den Kopf über das Wagendach: »Wo habt ihr den Abschiedsbrief gefunden?«
»Der lag auf der Mittelkonsole, Frau Stein«, kommt die prompte Antwort.
»Lass meine Jungs in Ruhe ihre Arbeit machen. Das sieht nach Routine aus. Komm rein zu mir und dann frühstücken wir auf der Terrasse. Ist das ein Wort?«, schlägt Claudia vor.
»Das hört sich hervorragend an. Ich muss mir nur gerade die hochhackigen Schuhe ausziehen. Die versinken sonst in deinem Rasen«, greift sich Astrid nach wenigen Schritten an die Ferse. Barfuß folgt sie Claudia in ihren Garten und schließt hinter sich das schwere Eichentor.
»Setz dich auf die Terrasse und genieße trotz des Mists da draußen den schönen Sommermorgen. Ich mache uns schnell das Frühstück.«
»OK!«, nimmt Astrid zwei Sitzkissen aus der Gartenbox, legt diese auf zwei Stühle und setzt sich.
Nach einer Weile kommt Claudia mit einem gefüllten Tablett zurück. Gemeinsam verteilen sie Tassen und Teller auf dem Gartentisch.
»Ich freue mich schon auf den kommenden Freitag, wenn wir unser monatliches Teamschwitzen haben«, schmunzelt die Leiterin der SPUSI mit Blick auf die Gartensauna. »Horst und Will Smith haben schon zugesagt. Horst hat mir unseren Rosé und sein Kölsch schon mitgegeben.«
»Ich hätte nie gedacht, dass wir vier Singles so lange regelmäßig gemeinsam in die Sauna gehen. Schon gar nicht mit unserem muffigen Oberknubbel«, lächelt Astrid. Nachdem sie den ersten Schluck Kaffee getrunken hat, wirft sie ihren Blick auf den Abschiedsbrief des Herrn Beyer. Mehrmals dreht sie ihn schräg gegen das aufziehende Licht.
»Ist etwas damit, Astrid?«
»Ich sehe nur auf der Unterseite Blutspritzer. Entweder ist das Blatt auf die beschriftete Seite gefallen oder …«, zögert Astrid.
»… oder er wurde nachträglich deponiert«, setzt Claudia den Satz fort. »Wir sollten uns nachher mal die Tatortfotos genauer ansehen. Was schreibt er denn?«
»USCHI, ICH WILL DAMIT NICHT LEBEN. Mehr steht da nicht. Die Schrift sieht ziemlich unruhig aus. Offensichtlich stand er unter Druck«, betrachtet Astrid das Stück Papier.
»Wenn ich mich umbringen würde, stände ich auch ganz schön unter Strom«, antwortet Claudia und beißt genüsslich in ihr Brot.
»Du hast sicher recht«, legt die Kriminalistin das Dokument zur Seite, umgreift mit beiden Händen ihre Kaffeetasse und blinzelt beim Trinken in den herrlichen Sonnenaufgang. »Dein Grundstück ist echt ein Traum, Claudia. Wenn ich da so an meine Stadtwohnung in Mülheim denke.«
»Ist zwar etwas groß, aber super«, stimmt Claudia mit halb vollem Mund zu.
In diesem Moment klingelt Astrids Smartphone. »Kann man nicht mal in Ruhe frühstücken«, brummelt die Polizistin vor sich hin und nimmt das Gespräch an. »Stein. … Hallo, was gibt es denn Wichtiges?«
Danach hört sie dem Anrufer etwa eine halbe Minute interessiert zu. »Danke für die schnelle Information. Seid ihr denn sicher, dass es ein Selbstmord war?«, hakt Astrid nach.
Wieder vergeht eine Weile des Zuhörens.
»Ich bin mir auch nicht sicher. Bitte informiert mich, sobald ihr Genaueres wisst. Schönen Tag noch«, beendet Astrid das Gespräch und schaut zu Claudia. »Das war dein Mitarbeiter. Die haben mittlerweile herausbekommen, dass dieser Herr Beyer ein höheres Tier im Landesverkehrsministerium war. Er ist ledig und war gerade dienstlich in China. Man hat seinen Dienstausweis und eine Bordkarte in seiner Brieftasche gefunden. Nach seinem Personalausweis wohnte er in Rath/Heumar. Die Todesursache ist immer noch nicht zweifelsfrei. Wer mag denn diese Uschi sein, wenn er ledig ist?«
»Die Frage musst du nachher schon selber beantworten. Aber jetzt frühstücken wir und genießen noch ein paar Minuten diesen Sonnenaufgang«, antwortet Claudia.
*
Etwa eine Stunde später hält Astrid in einer ruhigen Siedlung in Rath/Heumar vor einem gut gepflegten Einfamilienhaus mit einem freundlich angelegten Vorgarten. »Hier würde ich auch gerne wohnen«, denkt sie sich, steigt aus dem Dienstwagen und schaut sich um. Dann geht sie zur Hauseingangstür. Diese ist einen Spalt weit geöffnet. Vorsichtig drückt Astrid die Tür weiter auf. »Hallo! Ist jemand zu Hause?«
Das Geräusch eines Staubsaugers verstummt.
»Wer ist denn da?«, ist eine Frauenstimme zu hören. Einen Augenblick später steht eine junge Frau im Flur.
»Mein Name ist Stein, Astrid Stein. Ich bin von der Kriminalpolizei«, zeigt Astrid zeitgleich ihren Dienstausweis.
Die junge Frau schaut sich den Ausweis genauer an: »Was kann ich für sie tun, Frau Stein?«
»Darf ich sie zunächst fragen, mit wem ich es zu tun habe?«, entgegnet Astrid.
»Ich bin Petra Heidenreich, die Reinigungsfrau von Herrn Beyer. Was ist geschehen? Kommen sie doch herein, noch ist der Flur nicht geputzt. Sie müssen wissen, dass Herr Beyer sehr viel Wert auf Sauberkeit legt.«
»Danke, Frau Heidenreich«, betritt Astrid das Haus, während Frau Heidenreich hinter ihr die Tür schließt. »Ich muss ihnen leider mitteilen, dass wir Herrn Beyer vor einigen Stunden tot in seinem Fahrzeug aufgefunden haben.«
»Nein!«, hält sich die junge Reinigungskraft erschrocken die Hände auf ihre Wangen, die schlagartig kreidebleich werden. Hatte er wieder einen Schwächeanfall. Vor zwei Jahren hatte er nämlich einen, nachdem er eine Erkältung verschleppt hatte?«
»Können sie sich vorstellen, dass sich Herr Beyer etwas angetan hat?«, fragt Astrid weiter, ohne die gestellte Frage zu beantworten.
»Der Herr Beyer? … Nie und nimmer. Der ist so lebensfroh und in diversen Vereinen. Nur mit der Liebe hatte es wohl nicht so richtig geklappt. Hat er sich denn etwas angetan?«, möchte Frau Heidenreich wissen.
»Was meinen sie damit?«, fragt Astrid interessiert nach.
»Na ja, ich möchte nicht indiskret sein, aber beim Aufräumen findet man schon mal dies und das. Außerdem verabschieden sich manchmal solche Frauen, wenn ich morgens zum Putzen komme. Sie wissen schon … so Frauen mit hochhackigen Schuhen und tiefem Ausschnitt«, beginnt Frau Heidenreich aus dem Nähkästchen zu plaudern.
»Sie meinen es sind Prostituierte?«, hakt die Polizisten direkt nach und überspielt den Umstand, dass sie selber gerade hochhackige Schuhe anhat und ihre Sommerbluse auch nicht zu keusch geschnitten ist.
Die Reinigungsfrau bemerkt das auch und relativiert sofort ihre Aussage: »Das waren natürlich keine so feinen Sachen, wie sie tragen.«
»Erlauben sie mir die etwas indiskrete Frage, ob Herr Beyer sich auch an sie rangemacht hat?«, möchte Astrid wissen.
»Hat er, Frau Hauptkommissarin. … Aber ich kann mit Männern nicht wirklich etwas anfangen, wenn sie wissen, was ich meine. Das hat er auch problemlos akzeptiert.«
Astrid muss ein wenig über die direkte Art schmunzeln, welche sie selber so gerne pflegt.
»Wann haben sie Herrn Beyer das letzte Mal gesehen?«
»Vor seiner Reise nach China. Er hatte mir gesagt, dass er heute Nachmittag zurückkommt. Deshalb bin ich jetzt auch hier«, kommt prompt die Antwort von Frau Heidenreich.
»Wissen sie, ob er privat oder beruflich etwas im Kölner Süden zu tun hatte?«
»Nicht, dass ich wüsste. Er hat aber ein Fahrrad, mit dem er oft durch Köln fährt. Der ist mit hoher Wahrscheinlichkeit schon durch alle 86 Veedel gefahren. Was ist denn jetzt genau passiert?«
Astrid geht wieder nicht auf die Frage ein und setzt die Befragung fort: »Hatte Herr Beyer Angehörige oder Freunde?«
»Nicht, dass ich wüsste. Seine Eltern sind schon lange gestorben und er war ein Einzelkind. … Aber warten sie … Eine Uschi habe ich in der letzten Zeit zwei, drei Mal morgens hier gesehen, wenn sie wissen, was ich meine«, erklärt Frau Heidenreich süffisant.
»Wie sah diese Uschi denn aus?«
»Die war etwas besser gekleidet als die anderen Damen. Etwas aus der Art gefallen waren die Handschuhe, die sie auch im Sommer trug. Wenn sie mich fragen, dann war das so eine etwas teurere, die man zur Not auch mal zu einem Anlass mitnehmen konnte. Die ist die Art Frau, die genau weiß, wie man mit Männern umgehen muss. Sie ist groß, gut gebaut und hatte blonde lange Haare. Ich bin mir aber nicht sicher, ob die echt sind. Sonst kann ich über die Frau nichts sagen?«
»Wie kam sie denn hier hin? Zu Fuß, mit dem Bus oder mit dem Auto?«
»Liebe Frau Hauptkommissarin, in der Aufmachung kann die nur mit dem Auto gekommen sein. Aber gesehen habe ich das nie«, redet Frau Heidenreich zunehmend vertraulich.
»Darf ich mich denn mal in dem Haus umsehen«, nutzt Astrid diesen Umstand.
»Na klar doch! Tun sie sich keinen Zwang an. Ich mache in der Zwischenzeit weiter …, obwohl es eigentlich keinen Sinn macht«, kommt die prompte Erlaubnis.
»Gehen sie bitte nach Hause, ohne weiterzumachen. Vielleicht muss die Spurensicherung hier noch arbeiten. Geben sie mir bitte beim Verlassen des Hauses ihren Schlüssel und hinterlassen ihre Anschrift und Telefonnummer«, instruiert Astrid die Reinigungskraft und beginnt den Rundgang durch das Haus.
Zunächst wirft sie einen Blick ins Wohnzimmer, in die Küche und ins Gäste-WC. Alles sieht modern eingerichtet und sauber aus. Dann geht sie die Treppe hoch. Die Badezimmertür steht offen. Astrid blickt in den großzügig geschnitten Raum. Sogar ein Bidet ist eingebaut. »Schick, der hat an alles gedacht«, murmelt die Polizistin vor sich hin. Dann öffnet sie eine zugezogene Tür. Vor ihr liegt ein ausgesprochen geräumiges Schlafzimmer. In der Mitte steht auf einem hochflorigen Teppich ein Doppelbett mit Metallgittern an Kopf- und Fußende.
Der Einbauschrank ist voll verspiegelt und in die abgehängte weiße Decke sind diverse Strahler eingelassen.
»Na das nenne ich mal eine Spielwiese!«, nimmt Astrid sterile Schutzhandschuhe aus ihrer Handtasche und versucht damit die Einbauschranktüren zu öffnen. Allerdings ist eine doppelflügelige abgeschlossen. »Frau Heidenreich, können sie bitte einmal hochkommen!«, ruft Astrid sehr laut.
Wenig später betritt Petra Heidenreich das Schlafzimmer.
»Haben sie für diese Schranktür einen Schlüssel?«, möchte Astrid wissen.
Die junge Frau schüttelt etwas verlegen den Kopf: »Ich weiß aber, was da drin ist. Herr Beyer hatte sie einmal versehentlich nicht abgeschlossen. Dort sind so Erwachsenenspielsachen mit Leder drin. Sie wissen schon, was ich meine.«
»Ich ahne es«, antwortet Astrid.
»Ich würde jetzt gerne gehen. Ist das für sie OK, Frau Stein? Ich habe den Hausschlüssel und meine Anschrift auf die Küchenanrichte gelegt«, schaut Frau Heidenreich fragend.
»Ich komme kurz mit herunter«, entgegnet Astrid. Dort angekommen vergewissert sie sich, dass die Anschrift vollständig ist.
»Das passt«, lächelt sie die Reinigungsfrau an. »Sie können jetzt gehen.«
Als die Haustür geschlossen ist, zückt Astrid ihr Smartphone. Nach einigen Sekunden ist sie verbunden. »Hallo Claudia, ich bin es schon wieder. Schickst du dein Team bitte in das Haus von Herrn Beyer. Ich werde immer mehr das Gefühl nicht los, dass eine vernünftige Beweismittelsicherung erforderlich wird. Ich möchte mir nachher ungerne vorwerfen lassen, nicht in alle Richtungen ermittelt zu haben. An seinem Schlüsselbund ist wahrscheinlich ein Schlüssel für einen Wandschrank.«
»Geht das schon wieder los, dass ich euch ständig hinterherhecheln muss? Aber ok, wir sind ohnehin hier gerade fertig. In ca. 20 Minuten können wir bei euch sein«.
»Danke Claudia, ich warte hier erst einmal und fahre dann in seine Firma. Ihr seid die Besten.«
»Du schleimst schon fast so scheinheilig, wie Horst. Ich spüre seinen schlechten Einfluss auf dich«, legt die Leiterin der SPUSI auf.
Mit einem Grinsen steckt Astrid das Smartphone weg und geht zurück ins Obergeschoss, um eine bisher noch nicht geöffnete weitere Tür zu öffnen. Es ist augenscheinlich sein unspektakulär eingerichtetes Arbeitszimmer. Offene, sauber geordnete Aktenregale zieren die Wände. Ein handelsüblicher hellgrauer Schreibtisch mit einem typischen Bürostuhl steht seitlich zum Fenster. Auf der aufgeräumten Arbeitsfläche stehen nur Monitor, Maus und Tastatur. Der PC steht unter der Tischplatte.
»Dann schauen wir doch mal, wie vorbildlich du mit der IT-Sicherheit umgehst«, sagt die Polizistin zu sich selbst, während sie den PC einschaltet. Zuerst schaut sie in die offenen Schreibtischschubladen, dann hebt sie die Tastatur an. Nichts. Auf der Fensterbank steht eine Matroschka, jene ineinander verschachtelten Holzfiguren. Nachdem sie die kleinste Figur geöffnet hat kommt ein kleiner Zettel zum Vorschein. »Ist doch immer das gleiche«, geht Astrid mit einem zufriedenen Gesicht an den Computer. Mit geübten Fingern bewegt sie sich auf der Benutzeroberfläche und klickt das Mailprogramm an. Ein kurzer Blick auf den kleinen Zettel und ruckzuck ist der Postkorb geöffnet. Sofort springt ihr eine Mail mit dem Absender Uschi-N in die Augen. Astrid will gerade die Datei öffnen, da zuckt sie zurück. »Stopp, liebe Astrid!«, erinnert sie sich an den letzten Saunaabend mit ihren Kollegen. Will Smith hatte eindringlich davor gewarnt, irgendwelche Mails mit unbekanntem Absender zu öffnen.
Erneut greift Astrid zu ihrem Smartphone.
»Hallo ming Rüsje, watt kann ich für dich dunn (Hallo mein Röschen, was kann ich für dich tun)?«, ertönt es nach einer Weile.
»Hallo Willi, ich benötige deine Hilfe als IT – Experte. Ich habe hier einen PC eines potenziellen Opfers. Ich habe zwar die Passworte, aber ich möchte die Mails nach deinem Hinweis nicht einfach öffnen. Könntest du mal hier vorbeikommen?«, fragt Astrid.
»Wie künnt ich do näh sagen, wenn de mich su brav bittest. Wo soll ich denn hinkumme, Schätzelein (Wie könnte ich da Nein sagen. Wo soll ich denn hinkommen)?«, säuselt er durch das Telefon.
»Du bist ein Schatz, ich sende dir die Anschrift vom Smartphone und warte hier auf dich, mein Lockenköpfchen«, flachst sie mit ihrem Kollegen. Immer wieder muss Astrid grinsen, wenn sie den kölschen Dialekt und Willis Aussehen übereinander bringt. Wer erwartet bei diesen Worten auch einen Farbigen mit Rastalocken und dicker Hornbrille hinter einem Berg von Monitoren.
»Bis jleich, ming hochhackiges Klack, Klack (Bis gleich, mein hochhackiges Klack Klack)«, spielt Willi auf Astrids laute Stöckelschuhe an und legt auf.
*
Vor einigen Minuten ist Claudia mit ihrem Team angerückt. Ohne große Einweisung machen sich die Kollegen an die Arbeit, nachdem die Chefin ihnen mitteilte, dass Willi wegen des PC gleich eintrifft.
»Hier ist der Schlüsselbund. Wo ist der Wandschrank?«, möchte Claudia wissen.
»Komm mit, das könnte unterhaltsam werden«, geht Astrid die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, nimmt Claudia die Schlüssel aus der Hand und probiert einen nach dem anderen aus.
»Voila!«, vermeldet sie schließlich den Erfolg und öffnet langsam beide Türflügel.
»Na da schau her! Da ist ja die perfekte Abendgarderobe für sie und ihn«, lästert Claudia über die lederne Auswahl.
»Und sieh dir mal den fesselnden Hals-, Arm- und Beinschmuck an«, feixt Astrid. »Allerdings finde ich den Ansatz über den Oberschenkeln etwas luftig. Was meinst du?«
»Und an den Körbchen haben sie auch etwas gespart. Du könntest das vielleicht tragen. Bei mir würde das schöne Leder oberhalb des Bauchnabels zu sehr verdeckt«, setzt Claudia einen oben drauf.
Beide schauen sich herzhaft grinsend an. Nachdem ein Kollege einige Fotos des Möbelstückes gemacht hat, beginnen sie seriös mit den Schutzhandschuhen den Schrank zu sichten.
»Och, hät de Omma für de Jung dat Sofa zerschnippelt, damit er zumindest e bissje zum Aantrecke hät (Och, hat die Oma für den Jungen das Sofa zerschnitten, damit er zumindest ein bisschen zum Anziehen hat)?«, ertönt von hinten Willis frotzelnde Stimme mit seiner Notebooktasche in der Hand. »Hallo, ihr Grazien des Polizeidiensts! Könnt ihr mir sagen, wo der PC steht?«
»Hallo Willi, der steht nebenan im Arbeitszimmer. Ich habe ihn nicht wieder ausgeschaltet. Ich hoffe, das war OK?«, antwortet Astrid.
»Ohne zu antworten, verschwindet der junge Mann mit seiner Neard-Brille in Richtung Arbeit.
»Hallo Mädels, das müsst ihr mal sehen!«, ruft er bereits nach weniger als zehn Minuten. »Schickt aber vorher die Kinder ins Bett.«
Astrid und Claudia lassen sich neugierig nicht zweimal bitten.
»Schaut mal! Da führt die Mutti ihren Fiffi (Hund) Gassi. Der muss et ävver furchtbar nüdig jehat han, weil de Mutti kinn Zick mi hatte, sich en Botz aanzetrecke (Der muss es aber sehr nötig gehabt haben, weil die Mutti keine Zeit mehr hatte, sich eine Hose anzuziehen)«, begrüßt Willi beide. »Ich spiel das Video noch einmal ab.«
Es ist der nackte Herr Beyer in einer eindeutig kompromittierenden Situation zu sehen. Eine blondhaarige Frau, deren Gesicht nicht zu erkennen ist, trägt die Lederkleidung aus dem Wandschrank.
»Mit dem Betreff DAMIT DU SCHÖN FOLGSAM BIST und dem Absender USCHI-N. würde ich mal davon ausgehen, dass dieser Herr Beyer ein echtes Problem mit Uschi hat«, sagt Astrid scherzhaft.
»Dat is nit sicher, ming Rösje (Das ist nicht sicher, mein Röschen). Die Mail wurde gestern aus dem Darknet versendet. Wer sich hinter der Adresse letztlich verbirgt, ist sehr schwer herauszubekommen«, widerspricht Willi.
Claudia geht näher an den Bildschirm. »Kannst du die Frau noch etwas vergrößern? Genauer gesagt, die linke PO-Backe«, bittet sie ihren Kollegen.
»Du überraschst mich immer wieder, liebe Claudia. … Bitte sehr, bitte gleich«, tippt er auf der Tastatur.
Ohne auf Willis Spitze einzugehen, zeigt die Leiterin der SPUSI auf ein kleines Tattoo an der delikaten Stelle. Es ist ein Herz mit den Initialen S und U.
»Autsch, das hat bestimmt wehgetan«, kommentiert Astrid.
»Dä Tätoweerer hät bestimmt och singe Spass jehat (Der Tätowierer hat bestimmt auch seinen Spaß gehabt)«, schaut sich Willi das Beweisobjekt noch etwas genauer an.
»War das eine fest installierte Kamera oder war da ein Kameramann?«, möchte Claudia wissen.
»Das muss ich mal checken. Die Kamera wackelte zumindest nicht. Ich habe mir alle Dateien heruntergeladen und schaue mir das Material in Ruhe auf meinen Geräten im Büro an. Deine Mitarbeiter können aber zur Sicherheit nachschauen, ob im Schlafzimmer irgendwo eine Kamera oder eine Halterung versteckt ist«, antwortet Willi wieder sachlich.
»Wartet ihr beide bitte mal hier oben. Ich frage kurz bei meinen Leuten nach, was sie bisher herausgefunden haben«, dreht sich Claudia um und geht nach unten.
Astrids Blicke fallen auf die vielen Aktenordner in den Wandregalen. Sehr viele Aktenordner haben das Logo einer Brücke und die fetten Buchstaben SPRINT. Den Ordner mit der Beschriftung DIE ENTSCHEIDUNG zieht die Kriminalhauptkommissarin aus dem Regal und schlägt ihn auf.
Die erste Seite ziert das Wappen des Landes Nordrhein-Westfalen sowie die europäische Flagge. Darunter steht wieder SPRINT sowie ENTSCHEIDUNGSVORLAGE.
Ganz unten steht:
VERANTWORTLICH: Jens Beyer (Staatssekretär)
»Das ist ja ein hohes Tier«, denkt Astrid überrascht und blättert weiter zum Vorwort:
»NRW ist mit einem enormen Nachholbedarf der Verkehrsinfrastruktur konfrontiert. Insbesondere viele kleinere Brücken haben ihren Lebenszyklus überschritten und müssen durch neue und tragfähigere Brücken ersetzt werden. Die individuelle Planung einer jeden Brücke würde die Planungskapazitäten des Landes und unserer Kommunen hoffnungslos überfordern. Aus diesem Grund wurde das Projekt SPRINT ins Leben gerufen. Ziel des Projekts ist es, standardisierte Brückenelemente zu planen und zu fertigen. Da das Gesamtvolumen mehrere Hundert Millionen Euro beträgt, wurde das Projekt europaweit ausgeschrieben. Die finalen Angebote wurden verglichen und als fachlich gleichwertig eingestuft. Das finanziell eindeutig günstigste Angebot unterbreitete die international agierende Firma CENTURY-BP mit ihrer gleichnamigen Tochtergesellschaft in der Nähe von Schanghai. Das Gesamtvolumen des Projektes beträgt ca. 500 Mio. Euro und der chinesische Lieferanteil ca. 200 Mio. Euro.
Wir empfehlen, das Angebot anzunehmen.«
»Willi, es könnte sein, dass wir zu bescheiden denken. Unser kleiner Fifi war ein ganz hohes Tier in Düsseldorf und der mischte bei einem richtig großen Projekt mit. Da geht es um dreistellige Millionenbeträge. Wenn das keine einfache Sex-Erpressung ist …
»… dann sollten wir mal mit unserem Polizeipräsidenten Rücksprache nehmen«, fällt Claudia Astrid ins Wort. »Wir haben uns mal die Kontakte auf seinem Smartphone angeschaut. Ich wette, dass die Hälfte der Leute in den Landesministerien ein- und ausgeht. Außerdem war Herr Beyer im Hochadel der Kölner Karnevalsgarden. Der kölsche Klüngel ist ja schließlich hinreichend bekannt.«
»Du hast recht. Bevor ich da wieder in irgendein Fettnäpfchen trete, sichere ich mich besser ab. Willi, du bist mir dafür verantwortlich, dass insbesondere dieses Video auf keinen Fall die Presse in die Finger bekommt«, macht ihm Astrid unmissverständlich ihre Befürchtungen klar.