Читать книгу Als ich aufhörte, mich zu bekämpfen - Bettina Kilb - Страница 11
Оглавление2. Was mich in den Klauen der Magersucht hielt
April 2018
„Wenn ich nichts mehr esse, dann geht es mir körperlich schlecht, was für mich greifbar ist. Dann kann ich benennen, warum es mir schlecht geht. Wenn ich aber benennen soll, warum es mir psychisch schlecht geht, dann fehlen mir die Worte. Ich verstehe mich selbst nicht und es macht mir Angst, nicht zu wissen, was mit mir los ist. Wenn ich nichts mehr esse, ist mir alles egal. Alles rückt in den Hintergrund. Ich baue eine Distanz zu meiner Außenwelt auf. Ich spüre nichts anderes mehr als diesen Hunger. Nichts spielt mehr eine Rolle. Ich fühle mich sicher. Sobald ich ausreichend und genug esse, spüre ich meine Gefühle wieder so intensiv, dass ich sie kaum ertrage. Ich kann sie nicht zuordnen. Fühle mich so minderwertig, wertlos und hilflos.
Und irgendwie ist das Hungern auch eine langsame Form des Suizids. Wenn ich nichts mehr esse, dann ziehe ich mich von allem zurück. Ich ziehe mich aus dem Leben raus, weil ich keine Kraft mehr finde. Mir ist alles zu viel. Irgendwie finde ich es auch gut, weil dann habe ich einen Grund, nicht aufstehen zu müssen – nicht leben zu müssen. Ich freue mich, wenn die Zahl auf der Waage immer weniger wird, weil auch ich dann immer weniger werde. Weil ich vielleicht dann irgendwann so wenig und unscheinbar bin, dass es nicht mehr auffällt, wenn ich nicht mehr da bin. In der Hoffnung, dass ich irgendwann einfach ganz verschwinde oder einfach nicht mehr aufwache. Ich will nichts mehr essen. Nichts mehr fühlen. Nicht mehr leben. Ich bin so überfordert.“
Zu viel sein
Dieser Tagebuchauszug verdeutlicht mir nochmal, welche Bedeutung die Magersucht für mich hatte. Alles war für mich unglaublich anstrengend, weil ich mit meinen starken Emotionen nicht umgehen konnte und mich ihnen hilflos ausgeliefert fühlte. Das Hungern war für mich eine Möglichkeit, diese Emotionen zu unterdrücken und mich abzulenken. Es hatte nichts mit „Ich bin zu dick, ich möchte abnehmen“ zu tun. Oberflächlich spielten meine Figur und das Gewicht natürlich schon eine Rolle, aber es ging viel tiefer und war Ausdruck meines Schmerzes, nicht gut genug für diese Welt zu sein.
Irgendwie zu viel zu sein.
Ich hatte immer das Gefühl, dass ich zu viel war - für alle. Mit jedem Kilogramm, das ich abnahm, wurde auch ich weniger. Ich fühlte mich besser, leichter und unauffälliger. Ständig wünschte ich mir, einfach zu verschwinden. Und wenn ich nur x Kilogramm wiegen würde, dann wäre es natürlich leichter, auch daran zu sterben und nicht mehr da zu sein.
Die Bulimie hätte ich sofort losgelassen, wenn es möglich gewesen wäre, bei der Anorexie bin ich mir ehrlich gesagt nicht sicher, sie hatte noch zu viele Vorteile für mich: Selbstdisziplin, Kontrolle, ein (vermeintlich) besseres Selbstwertgefühl, mehr Motivation, mich zu bewegen und ja, irgendwie auch Aufmerksamkeit. Und das ist vielleicht etwas, was niemand gerne zugibt, aber wir alle möchten gesehen werden.
Manchmal ist das Abnehmen auch mit der Motivation verbunden gewesen, mehr gesehen bzw. mehr ernst genommen zu werden, denn im Normalgewicht wird eine Essstörung meistens kaum wahrgenommen. Ist man dann im Untergewicht, machen sich alle Sorgen. Tief in mir sehnte ich mich oft danach, dass da jemand ist, der sich um mich sorgt und für mich da ist. Und eigentlich hatte ich das auch, aber ich wollte es nie wahrhaben. Und jetzt möchte ich das nicht mehr zu sehr im Außen suchen, weil ich mittlerweile alt genug bin, diese Rolle auch für mich zu übernehmen. Aber vielleicht ist da noch ein Teil aus meiner Kindheit, der sich danach sehnt, weil ich damals vielleicht nicht das bekam, was ich gebraucht hätte, ohne jemanden dafür verantwortlich zu machen. Ich denke, dass Eltern immer das Bestes für ihre Kinder geben, so auch meine Eltern, deswegen würde ich sie niemals dafür verantwortlich machen. Sie haben ihr bestmöglichste getan und ich bin sehr dankbar, sie zu haben.
Sicherheit und Schutz
Ich beobachte immer öfter, dass gerade introvertierte Menschen in eine Anorexie rutschen. Vielleicht, weil sie manchmal Probleme haben, über ihre Bedürfnisse und Wünsche zu sprechen und richtig zu kommunizieren. Es sind oft die stillen Menschen, die sich eher zurücknehmen und zurückziehen, anstatt für sich einzustehen und den Mund aufzumachen.
Früher habe ich mir oft gewünscht, dass andere Menschen sehen, wie zerbrechlich und verletzlich ich bin, damit mir ja keiner wehtut. Ich wollte beschützt werden, habe nach Sicherheit gesucht, gleichzeitig aber niemanden an mich rangelassen und dicht gemacht. Als ich jünger war, war ich nicht in der Lage zu sagen, dass es mir nicht gut geht, und dass ich Hilfe brauche, weshalb ich mich so sehr in meinen Krankheiten verlor. Über die Jahre habe ich gelernt, dass nur ich selbst mir helfen kann – mit Unterstützung meiner Mitmenschen – was einerseits beängstigend, andererseits aber auch schön ist. Das heißt nämlich, dass ich allein mein Leben in der Hand habe und Entscheidungen treffen kann. Ich weiß langsam, was ich brauche und möchte, dass ich für mich selbst verantwortlich bin und nicht erwarten kann, dass andere meine Gedanken lesen.
Und ich bin sehr froh, dass andere Menschen in mir immer diese starke und strahlende Persönlichkeit gesehen haben, die ich tatsächlich war. Die schönsten Sätze, die ich zu hören bekam, waren Sätze wie:
„Betty, deine Anwesenheit tut mir so gut.
Es macht alles irgendwie erträglicher.
Du musst gar nichts machen,
bitte sei einfach nur da.“
Das war für mich eine unglaubliche Wertschätzung, die mir wieder vor Augen geführt hat, welchen Wert ich für andere Menschen habe und dass ich wichtig bin. Und auch das hat mir geholfen, mir das Essen wieder zu erlauben und die Zunahme zu akzeptieren. Denn ich bin gut so, wie ich bin.
Ich denke, dass ich so sehr zwischen dem „Hungern“ und „Überessen“ schwankte, weil ich in meinem Kopf genauso ambivalent war. Einerseits wollte ich gesund werden, andererseits bot mir die Essstörung noch zu viele Vorteile. Ich konnte es mir nicht mehr vorstellen, ohne sie zu leben, weil sie schon viel zu lange an meiner Seite war. Ich hatte Angst, sie loszulassen. Natürlich war es mein langfristiges Ziel, gesund zu sein und mich mit Normalgewicht zu akzeptieren. Aber ich muss zugeben, dass da immer noch ein großer Teil in mir war, der nicht normalgewichtig sein wollte. Ein Teil, der so dünn sein wollte, dass sich andere Sorgen um mich machen und sich vielleicht fragen, was mit mir los ist. Es ist mein inneres, verletztes Kind, das „gesehen“ werden wollte. Um das man sich kümmert. Und oft schreit es noch danach und möchte (von mir) gesehen werden, doch ich weiß, dass ich mit Hungern nicht weiterkomme.
Auch der Aspekt, mich in eine andere Welt zu flüchten - voller Kalorien, Gewicht und Sport – in der das Schlimmste war, dass ich zunehme, spielte eine große Rolle. Die Essstörung lenkte mich von dem „echten“ Schmerz in der wirklichen Welt ab. Ich habe mich abgeschottet, eine Schutzmauer um mich herum aufgebaut, hinter die niemand blicken konnte. Sie bot mir Schutz. Schutz vor Enttäuschung, Verletzung und der großen gefährlichen Welt da draußen. Aber auch das gehört nun einmal zum Leben dazu und das möchte ich lernen, zu akzeptieren.
Ausdruck meines Schmerzes
Ich glaube, dass gerade die anorektische Seite in mir Ausdruck für mein seelisches Leiden und meinen Schmerz war. Wenn ich so dünn war und man mir meine Zerrissenheit ansah, dann fühlte es sich irgendwie richtig an, passend zu meinem Innenleben. Mein Körper war meine Projektionsfläche, um nach außen zu tragen, wie sehr ich täglich gelitten habe. Ich konnte es nicht anders kommunizieren. Ich fühlte mich hilflos und verloren, weil niemand merkte und verstand, dass es mir so schlecht geht. Eigentlich war mir auch nicht wichtig, dass mich jemand versteht, sondern dass mir jemand beisteht, egal wie schwierig es ist. Ich brauchte keine Ratschläge oder Lösungen. Hauptsache jemand gab mir die Zeit, die ich brauchte und ließ mich nicht allein.
Vielleicht war es mir auch so wichtig, in meinem Leid gesehen zu werden, weil ich mich tief in mir immer noch so wertlos und schlecht fühlte. Ungeliebt und falsch auf dieser Welt. Das Gefühl, dass jemand für mich da war, gab mir dann kurzfristig das Gefühl, dass ich doch irgendwie wertvoll bin.
Aber so habe ich mich immer nur im Kreis gedreht, weil mir das keiner geben konnte – und wenn, dann nur kurzfristig. Heute weiß ich, dass ich mir die Aufmerksamkeit und den Wert selbst geben muss.
Die Magersucht kennt keine Grenzen
War ich in einer Hungerphase, wurde mir irgendwann bewusst, dass ich so auch nicht glücklich werde oder an mein Ziel komme. Ich realisierte, dass ich das alles gar nicht möchte, weswegen ich wieder mehr aß. Das hielt ich aber auch nicht aus, weil ich dann wieder merkte, dass dahinter noch viel mehr steckt. Mir wurde wieder bewusst, dass ich mich mit dem Hungern ablenkte und meine Probleme verdrängte. Als die Bulimie wieder an der Front war, merkte ich, dass meine vermeintlich gewonnene Stärke immer mehr verschwand und ich wieder unsicherer wurde. Das Hungern und Abnehmen gaben mir so viel Kraft, als wäre ich etwas Besonderes, wäre stark und erfolgreich. Aber das war auch nur eine Illusion.
Die Essstörung löste in mir eine für mich ungreifbare Ambivalenz aus. Einerseits gab sie mir so viel Sicherheit, Halt und eine Routine – einen Sinn für meinen Alltag und mein Leben. Andererseits löste sie in mir so eine Hoffnungslosigkeit, Unsicherheit und Angst aus, weil ich tief in mir wusste, dass das zu nichts führen wird. Dass ich mich so nur in mein Unglück stürze, in mir selbst verliere und mich zerstöre. Dann trat in mir erst recht ein Gefühl von Sinnlosigkeit auf. Denn warum quäle ich mich und arbeite auf einen Zustand des vermeintlichen „Glücklichseins“ hin, der – wenn ich es mir eingestehen würde – niemals eintreten wird?
Weil es nie ein dünn genug, schön genug, gut genug geben wird. Die Magersucht kennt keine Grenzen. Sie frisst mich von innen auf, bis ich nicht mehr da bin. All die vermeintliche Kontrolle und Sicherheit, die ich durch sie bekomme, ist nur eine Illusion. Denn die Kontrolle habe ich schon lange nicht mehr. Ich flüchte mich immer wieder in die Zwänge der Essstörung, in der Hoffnung, mich wieder zu finden. Dabei habe ich mich schon lange verloren. Und die Essstörung hält mich durch ihr hinterhältiges Konstrukt nur noch mehr gefangen.
Ich kann versichern:
Du wirst nicht aufhören, wenn du bei X bist.
Du wirst dann nicht glücklich und zufrieden mit dir sein.
Weil das Problem nicht der Körper oder das Gewicht ist. Er ist nur die Projektionsfläche, um all den Schmerz, die Angst und Unsicherheit nach außen zu tragen. Die Kompensation, um irgendwie klarzukommen und zu überleben. Ich musste mir bewusstmachen, dass das alles nur in meinem Kopf ist. Die einzige Sicherheit, die es im Leben gibt, die kann nur ich selbst mir geben.
Generell habe ich gemerkt, dass ich viel zu oft in der Zukunft lebe: „Wenn ich X erreicht habe, dann mache ich dies und das“ oder „Wenn ich x Kilogramm erreicht habe, dann esse ich normal“, was wohl meine größte Lüge war. Als ob ich dann plötzlich normal essen würde. Und genau da ist der Knackpunkt. Ich konnte dann nicht auf einmal alles aufgeben, was ich mir mühsam und qualvoll erarbeitet habe. Und das war auch der Punkt, der mich so hoffnungslos stimmte.
Wenn ich dann an Punkt X bin und das alles aufgeben kann, was ist dann? Was mache ich dann? Was ist mein nächstes Ziel?
Das, was mich so sehr reizte und in den Klauen der Essstörung gefangen hielt, war nicht der Zustand X, den ich irgendwann erreichen würde, sondern der Prozess dorthin, der niemals endet. Das tägliche weniger werden, was in mir ein Glücksgefühl auslöste, weil ich dann etwas richtig machte. Ich konnte und wollte nicht mehr aufhören, weil mir dann auch einfach die Beschäftigung und der Sinn in meinem Leben fehlte. Für Außenstehende mag das sehr schwer nachzuvollziehen sein, denn es gibt so viel wichtigere Dinge, die dem Leben Sinn geben können. Ja, die gibt es, aber als Essgestörte/r siehst du nichts anderes mehr. Dein Leben dreht sich nur noch um Essen, Hungern, Abnehmen, die Waage, Kalorien und Sport. Alles andere verliert an Bedeutung.
Mein Zuhause
Was mein Körper aber eigentlich alles für mich leistet, habe ich nie wertgeschätzt. Meine Beine tragen mich jeden Tag durch die Welt, meine Arme ermöglichen es mir, Dinge von A nach B zu bringen oder meine Liebsten in den Arm zu nehmen. Mein Körper braucht Energie, er möchte funktionieren und vor allem leben. Ich sollte mir immer wieder bewusstmachen, dass mein Körper das Wichtigste in meinem Leben ist. Ohne ihn geht gar nichts. Er ist der Ort, in dem ich lebe - mein Zuhause. Mit ihm kann ich mich fortbewegen, Erinnerungen sammeln, Liebe, Trost und Wärme schenken. Er ist ein Wunderwerk, mit dem ich Wunder vollbringen und Leben gebären kann! Warum verdammt, gebe ich dann dieser Hülle so viel Macht? Warum mache ich mich selbst kaputt, anstatt meinen Körper zu schätzen, der so viel leistet? Warum bin ich immer so hart zu mir selbst?
Es wäre gelogen, wenn ich sage, dass ich im Reinen mit mir und meinem Körper bin. Ich bin noch lange nicht an dem Punkt, an dem ich gerne sein würde. Aber ich freunde mich immer mehr mit ihm an und schaffe es langsam, ihn zu akzeptieren und zu schätzen. Ich habe weiterhin noch oft Probleme mit ihm, fühle mich auch oft noch unwohl, aber ich lege nicht mehr so einen großen Wert darauf und lenke den Fokus um. Ich habe nicht mehr diese Angst, aufgrund meines Körper abgelehnt zu werden. Passiert ist mir das auch nie, trotzdem habe ich mir immer Gedanken gemacht, was andere über meinen Körper denken könnte und hatte Angst, dass mich andere aufgrund dessen weniger akzeptieren werden, was vollkommener Quatsch war.
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Eine Situation, die ich unglaublich berührend fand:
Ich war mit meinen Gastkindern in Australien essen.
Ein Junge sagte, dass er sich schlecht fühle, weil er so viel
gegessen habe, woraufhin mein Gastmädchen sagte:
„How can you feel guilty about food?!”
Ich fand diese Situation so eindrücklich.
Kinder sind noch so unvoreingenommen, mutig, lebenshungrig.
Von ihnen kann ich noch so viel lernen.