Читать книгу Als ich aufhörte, mich zu bekämpfen - Bettina Kilb - Страница 12

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3. Bulimie und emotionaler Hunger

Januar 2019

„Der Drang zu essen ist so stark. Es macht mich noch verrückt. Ich kann an nichts anderes denken und würde mich am liebsten mit allem vollstopfen, bis ich nichts anderes mehr spüre. Um alles andere auszublenden. Um mich wenigstens nur einen kleinen Moment besser zu fühlen. Eigentlich will ich gar nichts mehr essen, aber ich kann nicht aufhören. Ich habe keine Kraft mehr und bin so unglaublich müde. Müde von diesem Leben. Ich schäme mich so.“

Essanfälle

Du bist gestresst, traurig, frustriert und tröstest dich vielleicht einmal mit einem guten Essen. Mal ist das vielleicht auch in Ordnung, wenn es nicht überhandnimmt. Wenn das jedoch passiert und in unkontrollierbaren Heißhunger und Essanfällen ausartet, dann solltest du etwas verändern. Ich hatte oft das Gefühl, dass dieser Hunger in mir nicht körperlich bedingt war. Dieser emotionale Hunger war unstillbar, ich konnte essen und essen, er wurde nicht besser. Also stopfte ich mich mit Essen voll, bis ich mich körperlich voll fühlte, um wenigstens irgendetwas zu fühlen, was mich von diesem seelischen Hunger und Schmerz ablenkt.

Oder ich habe aufgehört zu essen, weil der Hunger so groß war, dass ich ihn eh nicht hätte stillen können. Da war so eine große Leere in mir, die sich nicht füllen ließ. Die einfach nur wehtat. Meine Essstörung gab mir kurzfristig ein gutes Gefühl, denn Überessen beruhigte mich und füllte kurzzeitig die innere Leere. Und das Hungern lenkte mich ab; gab mir kurzzeitig das Gefühl von Kontrolle und Macht.

Ich habe gemerkt, dass ich die Essanfälle nutzte, um loszulassen und um eine Erleichterung zu verspüren. Denn wenn ich einen Essanfall hatte, dann war mir alles andere egal. Ich dachte nicht mehr an morgen oder gestern. Und das tat für einen Moment so gut, einfach abzuschalten. All das lenkte mich kurzfristig von meiner Hoffnungslosigkeit, Orientierungslosigkeit und meinem Schmerz ab.

Ich erinnere mich noch sehr gut an den Sommer 2015. Meine Freunde und ich hatten geplant, in den Urlaub zu fahren, aber ich sagte kurzfristig ab, weil ich nicht wusste, wie ich das mit dem Essen regeln sollte. Einerseits wollte ich gar nicht essen und fand die Vorstellung schrecklich, auswärts essen zu müssen. Andererseits hatte ich fast täglich Essanfälle, die ich im Urlaub schwer hätte verstecken können. In solche Situationen kam ich immer wieder. So oft überlegte ich mir Ausreden, wieso ich keine Zeit habe und nicht mitkommen kann. Einmal haben meine Freunde mich dann überredet, zu einem Fest mitzukommen, obwohl ich absolut keine Lust hatte. Aber ich riss mich zusammen und ging mit – in der Hoffnung, dass ich mich etwas ablenken kann. Zu dieser Zeit hatte ich schon zugenommen und war wieder im Normalgewicht. Meine Magersucht entwickelte ich in der 9./10. Klasse (2013/2014), weswegen es in der Schule jeder mitbekam.

Anfangs war ich auf einer Realschule, um dem G8-System aus dem Weg zu gehen. Ich wechselte 2015 für das Abitur auf ein Gymnasium, worüber ich sehr froh war, weil dort niemand von meiner Essstörung wusste. Das erleichterte mir die Zunahme – ich sah es als Chance, die Essstörung hinter mir zu lassen, geklappt hat es leider nicht. Mir fiel es unglaublich schwer, Menschen aus meiner alten Schule wiederzutreffen, die mich das letzte Mal sahen, als ich noch so dünn war. Das war einer der Gründe, warum ich mich nicht mehr aus dem Haus traute. Ich hatte wahnsinnige Angst, dass andere über mich reden werden und es jedem (negativ) auffällt, dass ich zugenommen habe. Auf dem Fest versteckte ich mich immer wieder hinter meinen Freunden und war super angespannt. Ich konnte es überhaupt nicht genießen und wollte einfach nur weg. Mir war alles zu viel - zu viele Menschen, zu laut, zu viel Essen… Ich sagte meinen Freunden, dass ich aufgrund von Kopfschmerzen schon gehen würde. Stattdessen fuhr ich um 23: 45 Uhr noch schnell zu einem Supermarkt, um Essen zu kaufen. Ich war total im Funktionsmodus, gar nicht mehr richtig anwesend. Ich schmiss alles Mögliche in den Einkaufswagen, ohne groß nachzudenken. Ohne es wirklich mitzubekommen, saß ich im Auto und stopfte alles in kürzester Zeit in mich hinein. Und das alles mit dem Gedanken, ab morgen nie wieder etwas zu essen. Ich weinte und aß, bis nichts mehr ging. Ich hatte solche Schmerzen und war so verzweifelt. Ich fühlte mich wie der größte Versager. Anstatt mit meinen Freunden den Abend zu genießen, saß ich hier im Auto und stopfte mich mit Essen voll. Ich hatte absolut die Kontrolle verloren. Ich fühlte mich fremdgesteuert.

Irgendwann wurde es wie zum Ritual: Bevor ich irgendwo hin ging, hatte ich einen Essanfall, damit ich z.B. nicht auf einer Party die Kontrolle verliere. Vor anderen Menschen hatte ich zwar nie einen Essanfall und ich glaube auch nicht, dass ich mich getraut hätte, vor anderen Menschen so viel zu essen, aber die Anspannung war unerträglich. Meine Gedanken kreisten nur um das Essen, das dort überall herumstand. Ich konnte mich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Man kann es ein wenig mit einem Junkie vergleichen, der nur an seinen Stoff denken kann. Ich war unruhig, zittrig – total neben der Spur. Wenn ich davor nichts aß, dann war es noch hundertmal schlimmer, also „beugte“ ich vor und stillte mein Verlangen schon vorher. Auf Feiern oder generell vor anderen Menschen aß ich nie etwas, ich schämte mich. Und obwohl ich beispielsweise schon vor der Feier einen Essanfall hatte und mir eigentlich schon schlecht war, verlor ich wieder die Kontrolle, als ich nach Hause kam. Ich durchsuchte das ganze Haus nach Essen und aß alles, was mir in die Finger kam. Und hier auch wieder mit dem Gedanken, dass es jetzt das letzte Mal sei und ich ab morgen ganz sicher nichts mehr essen würde. Du merkst: Es hat nie funktioniert.

Wenn ich etwas ändern möchte, dann muss ich es jetzt ändern und nicht erst morgen.

Anspannungsregulation

Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich diesen Zustand der Erleichterung auch durch Sport erreichen kann, mit dem Unterschied, dass es mir danach gut geht. Ich hatte oft Tage, an denen es mir so schlecht ging, ich mich abschotten und niemanden sehen wollte. Stattdessen bin ich ins Fitnessstudio gegangen und habe mich ausgepowert, wodurch ich all meine Anspannung abbauen konnte. Und der Drang zu essen war auch weg. Erst dann konnte ich mich den grundlegenden Gefühlen widmen und in mich hören, was ich gerade brauche. Das war so eine positive Erfahrung für mich, weil ich immer der Meinung war, dass mir nichts helfen wird. Ich denke, das muss man auch erst einmal zulassen (wollen). Ich fing also langsam an, mich zu fragen, was gerade los ist.

„Bin ich gestresst?“

„Was fühle ich?“

„Was will ich durch den Essanfall bezwecken?“

Runterkommen oder Frust abbauen? Dann geh duschen oder schwing dich auf das Fahrrad! Mich von meiner Hoffnungslosigkeit ablenken oder die Leere füllen? Dann nimm ein heißes Bad, gehe eine Runde im Wald laufen oder ruf jemanden an! Mich kurzzeitig besser fühlen? Ja, lies dir den Satz nochmal durch. Der Knackpunkt ist „kurzzeitig“. Denk daran, wie es dir nach dem Essanfall geht: Wie schlecht du dich sowohl körperlich als auch psychisch fühlen wirst. Willst du das wirklich? Ist es das wert? Kommst du so langfristig an dein Ziel? Frage dich, ob du wirklich Hunger hast oder es nur eine Kompensation ist. Wenn du wirklich Hunger hast, dann bau erst einmal deine Anspannung ab.

Dann bereite dir etwas zu Essen zu, aber geplant und kontrolliert. Höre dabei auf deinen Körper: Nach was ist dir gerade? Auf was hast du Lust? Und wenn es Schokolade ist, dann plane sie mit ein. Höre auf deinen Körper und gib ihm das, was er verlangt. Sei achtsam während des Essens. Wie geht es dir gerade? Beobachte dich genau und schau, was passiert. Und wenn du jetzt immer noch das Bedürfnis hast, dich „vollzustopfen“, dann lies dir diesen Text nochmal von vorne durch. Bringt dich das weiter? Was brauchst du gerade wirklich? Wenn ich das beachte, dann kann ich dem Drang tatsächlich leichter standhalten! Aber manchmal fehlt mir dafür ehrlich gesagt die Motivation und vielleicht auch der Wille, weil Nachgeben natürlich immer leichter ist. Rückfälle sind nicht schlimm und okay. Das Schlimme ist die Selbstabwertung danach. Strafe deinen Körper und deine Seele bitte nicht dafür, es war lange ihre Überlebensstrategie.

Über den Tag staut sich bei mir oft so viel an, was mich erdrückt und lange habe ich diese Anspannung nur mit der Essstörung reguliert. Ich verfalle ab und zu noch in meine alten Muster, weil diese vertraut sind und mir Sicherheit vermitteln, was aber nicht heißt, dass sie mir auch guttun. Ich möchte langfristig eine gesündere Strategie finden, die mir auch weiterhin hilft. Teilweise habe ich diese gefunden (z.B. Sport, malen, reden), aber es braucht jedes Mal wieder die bewusste Entscheidung, den neuen Weg gehen zu wollen. Und es braucht immer noch viel Anstrengung und Kraft, mich für den neuen Weg zu entscheiden. Aber umso öfter ich den neuen Weg gehe, desto leichter wird es. Und auch wenn es nicht immer klappt, ich habe auch nicht von heute auf morgen laufen gelernt.

Hochsensibilität

Manchmal glaube ich, dass ich einen Hang zur Hochsensibilität habe. Ich merke immer mehr, wie sehr mich die Energie von anderen Menschen beeinflusst. Ich merke sofort, wie jemand drauf ist, was in jemandem vorgeht und wenn etwas nicht stimmt. Das kann manchmal super anstrengend sein. Mir ist auch nochmal bewusst geworden, dass ich gerade nach langen Tagen mit vielen Menschen um mich herum den Drang nach Essanfällen verspüre. Die ganzen Schwingungen und Stimmungen, die auf mich einprasseln, sauge ich wie ein Schwamm auf und kann mich schwer davon abgrenzen. Ich merke, wie meine Energie immer weniger wird und ich anfange, mich Stück für Stück zu verlieren, weil ich gar nicht mehr weiß, was ich eigentlich fühle.

Durch eine Therapeutin ist mir aber bewusst geworden, dass ich damit nicht allein bin und es auch anderen so geht. Ich erinnere mich noch gut an eine Therapiestunde, in der meine Therapeutin von einer Situation erzählte, in der sie eigentlich gut drauf war und plötzlich diesen Ärger fühlte. Dann prüfte sie für sich selbst, ob es ihr Ärger war oder nicht. Sie kam zu dem Schluss, dass es nicht ihr Ärger war und gab ihn wieder ab. Das hat mich im Nachhinein noch lange beschäftigt. Deswegen prüfe ich jetzt immer wieder in Situationen, in denen viele Menschen um mich herum sind, ob das aktuelle Gefühl wirklich mein Gefühl ist, oder ob ich es von jemandem aufgenommen haben.

An sich ist es ja auch schön, dass ich mit anderen Menschen so mitschwingen kann, trotzdem muss ich aufpassen, dass ich mir nicht zu viel auflade und wieder abgebe, was nicht mir ist.

In meinem Freundeskreis merke ich mittlerweile sehr gut, wer mir guttut und Energie gibt, anstatt sie mir zu rauben. Es macht einen wahnsinnigen Unterschied, wenn du darauf achtest, mit wem du dich umgibst. Du wirst spüren, dass du dich bei manchen Menschen wohler fühlst, gerade wenn es dir schlecht geht. Wenn ich mich an depressiven Tagen mit meinen besten Freunden treffe, dann habe ich danach meist mehr Energie als vorher. Oft genug habe ich aber auch gemerkt, dass mir viele Menschen eher meine Energie geraubt haben und ich mich danach ausgelaugter als vorher fühlte.

Die Energie, die ich über den Tag verlor, wollte sich mein Körper zurückholen und natürlich spreche ich hier auch von Energie aus der Nahrung selbst, die ich leider oft nicht ausreichend zu mir nahm. Und vielleicht wollten sich mein Körper und meine Seele mit dem Essen einfach schützen, Energie tanken, ablenken oder loslassen.

Mein Ziel ist es zu beobachten, wann der Drang zu essen kommt, was am Tag passiert ist, wie ich mich gerade fühle und wie ich mich gerne fühlen würde.

Der Körper ist die coolste Maschine überhaupt, die so viel regelt und leistet. Mein Körper weiß genau, was er braucht und was gut für mich ist. Ich muss nur wieder lernen, auf ihn zu hören. Und ich sollte dahinter schauen, was mich zu dem Ganzen treibt.

Als ich aufhörte, mich zu bekämpfen

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