Читать книгу Als ich aufhörte, mich zu bekämpfen - Bettina Kilb - Страница 8

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Zu mir


Vielleicht musste ich erst die Orientierung

verlieren, um klar zu sehen.

Um zu mir zu finden.

Um zu erkennen, dass alles,

was ich brauche, schon da ist.

Schon in mir ist.

„Ich bin in diesem Zug,

obwohl ich gar nicht weiß, wo ich hinmöchte.

Alle haben ihren Platz, aber für mich scheint es keinen zu geben.

Alle sind besetzt oder kaputt.

Nach und nach steigen die Menschen an ihren Orten aus

und ich? Ich stehe immer noch hier

und weiß nicht, wohin mit mir“,

habe ich einmal zu meiner Therapeutin gesagt.

Sehr lange habe ich mich gefühlt, als gäbe es auf der Welt keinen Platz für mich. Es fühlte sich an, als hätte jeder einen Plan vom Leben – nur ich nicht.

Jeder wusste, wo er ein- und wieder aussteigen wird. Ich dagegen stand planlos in meinem Abteil und vegetierte vor mich hin. In der Hoffnung, dass mir jemand einen Platz anbietet und mir sagt, wo ich aussteigen soll.

Aber so ist das Leben leider nicht.

Ich darf mir selbst einen Platz suchen und entscheiden, wo ich aussteigen möchte. Und an meinem Platz werde ich verschiedene Menschen treffen, die mich auf meinem Weg ein Stück begleiten werden. Ein paar werden sogar mit mir aussteigen, andere werden sitzen bleiben.

Ist das nicht irgendwie auch schön?

Denn es bedeutet, dass allein ich entscheiden kann, wo die Reise meines Lebens hingeht.

Schon als Kind habe ich mich oft anders gefühlt. Ich habe mir Gedanken über Dinge gemacht, die andere einfach hingenommen haben. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mit zehn Jahren im Wohnzimmer saß, die Menschen auf der Straße beobachtete und mich gefragt habe, warum ich eigentlich hier bin. Warum wir alle auf dieser Welt sind. Was das alles überhaupt für einen Sinn hat. Warum muss ich jeden Morgen aufstehen, wenn ich am Ende des Tages wieder schlafen gehe? Warum muss ich essen, wenn ich in ein paar Stunden wieder Hunger bekomme? Warum muss ich zur Schule gehen? Sind wir nur auf dieser Welt, um zu arbeiten? Was ist, wenn ich nichts Passendes für mich finden werde? Ich habe mir so viele Fragen gestellt, anstatt es einfach hinzunehmen und zu leben. Damit habe ich mir das Leben schon sehr früh sehr schwer gemacht. Und als ich älter wurde, ist mir aufgefallen, dass diese Fragen immer in Verbindungen mit „müssen“ standen. Mir fiel immer öfter auf, wie oft ich in meinem Sprachgebrauch „Ich muss“ verwende anstatt „Ich darf, möchte oder kann“.

Mittlerweile stehe ich an einem Punkt, an dem ich mir immer wieder vor Augen führe, dass das Leben ein Geschenk ist, das ich nutzen möchte. Ich möchte meine Gedankengänge oder Pläne nicht mehr mit „Ich muss heute…“ beginnen, sondern mit „Ich darf heute dies und jenes erleben“.

Mit Beginn der Pubertät wurde ich immer nachdenklicher und leider auch depressiver. Ich habe kaum noch Dinge gemacht, die ich wirklich wollte oder mir Spaß machten. Ich hatte immer Angst, etwas falsch zu machen und dafür verurteilt zu werden. Ich hatte große Angst vor Ablehnung, weswegen ich es immer allen recht machte; nur leider habe ich dabei den wichtigsten Menschen in meinem Leben vergessen – mich. Ich habe mich Stück für Stück verloren, bis ich irgendwann gar nicht mehr wusste, wer ich überhaupt bin. Ich habe mir viel verboten und untersagt, weil ich mir das Geld nicht wert war. Mit zwölf Jahren fing ich an, auf meine Ernährung zu achten und mir all die Dinge, die ich so gerne aß, zu verbieten. Ich fühlte mich in meiner Haut nicht wohl und wollte abnehmen. Nach und nach strich ich immer mehr Nahrungsmittel aus meinem Speiseplan, bis ich mich nur noch von Gemüse und Obst ernährte. Langsam, aber sicher schlitterte ich in eine ernsthafte Essstörung, die leider viel zu lange nicht ernst genommen wurde – vor allem nicht von mir.

Ich sollte dazu sagen, dass ich recht groß bin (180 cm) und mich sehr lange ziemlich unwohl damit fühlte. Ich hatte immer das Gefühl, zu viel zu sein und wollte nicht auffallen. 2014 war ich dann an einem kritischen Punkt, denn ich erkannte, dass ich so nicht weitermachen kann, wirklich etwas ändern und zunehmen wollte ich damals aber auch nicht. Ich hatte mein tiefstes Gewicht (BMI 15) erreicht. Ich machte mir Sorgen um meine Gesundheit, weil meine Menstruation schon lange ausblieb, mir die Haare büschelweise ausfielen und ich ständig umkippte. An eine Therapie habe ich damals überhaupt nicht gedacht, ich habe mich nicht einmal als krank eingestuft. Ich war sehr gut darin, alles zu verstecken und mir nichts anmerken zu lassen. Ich muss aber dazu sagen, dass ich vor meiner Familie immer gegessen habe, sodass niemand mitbekommen konnte, was gerade wirklich los ist. Ehrlich gesagt wusste ich das selbst nicht. Meine Freunde und Lehrer dagegen haben ziemlich schnell gemerkt, dass da etwas aus dem Ruder läuft, haben versucht, mit mir zu reden, doch ich setzte mein typisches Lächeln auf und versicherte, dass alles gut sei. Meine Leistungen in der Schule wurden immer besser, ich wurde im Sport ehrgeiziger, vernachlässigte aber das Essen immer mehr.

Immer wieder wurde ich angesprochen, ob es mir denn gut gehe, weil ich so krank aussehe. Ich war damit ziemlich überfordert, da ich aufgrund meiner Körperschemastörung den Ernst der Lage nicht erkannte. Das bedeutet, dass ich meinen Körper anders wahrgenommen habe, als er tatsächlich war. Obwohl ich anhand meines Gewichtes hätte merken müssen, dass ich untergewichtig und zu dünn bin, nahm ich mich immer noch als zu dick wahr. Ich fand immer mehr an meinem Körper, das mich störte und wollte immer weniger werden. Ich bekam nicht mit, dass ich dabei war, mich selbst zu zerstören. Objektiv gesehen war ich weiterhin die liebe Tochter, die Musterschülerin, die beste Freundin, die alles stehen und liegen ließ, wenn man sie brauchte – eigentlich ein ziemlich glückliches, erfolgreiches, beliebtes Mädchen nach außen hin.

Dass ich innerlich jeden Tag ein Stückchen starb, ahnte niemand.

Das ganze Thema hat sich ziemlich im Sande verlaufen, als ich zunahm. Für die anderen war das Thema damit erledigt, doch das war es nicht. Meine Symptomatik und mein Gewicht haben sich vielleicht verschoben, aber meine Gedanken waren genauso krank wie vorher. Bitte glaub niemals, dass jemand mit einer Essstörung geheilt ist, wenn er an Gewicht zunimmt. Die Gedanken und das Gefühl brauchen viel länger, um nachzukommen. Es kann sein, dass sich das Innere des Menschen so gut wie gar nicht verändert hat, weswegen die Rückfallquote sehr hoch ist. Es braucht viel Zeit, Geduld und Ausdauer, eine Essstörung loszulassen. Egal, ob 40 Kilogramm oder 80 Kilogramm, eine Essstörung ist immer ernst zu nehmen und schlimm. Die meisten essgestörten Menschen, die ich kenne, sind nicht im Untergewicht, also glaub bitte nicht, dass alle essgestörten Menschen extrem dünn oder extrem übergewichtig sind.

Der Leidensdruck ist bei normalgewichtigen Essgestörten meist noch höher als bei Untergewichtigen, da sie in ihrem Leid nicht gesehen werden. Du weißt nie, was ein anderer Mensch gerade durchmacht und wie krank er vielleicht ist.

Zurück zu mir: Da ich mir selbst aber auch nie eingestanden habe, dass ich unter einer Essstörung litt, habe ich so weitergemacht. Zugenommen habe ich dann nur aufgrund von heftigen Essanfällen. Diese fingen ziemlich harmlos an, arteten aber immer mehr aus. Ich schlitterte also von der Magersucht direkt weiter in die Bulimie. Auch das bekam niemand mit, denn es waren alle einfach nur froh, dass ich endlich wieder mehr aß und zunahm. Meine Gedankenwelt war dagegen immer noch ein Trümmerhaufen und ich wollte nichts mehr, als wieder abzunehmen.

Ich konnte alles sehr gut verheimlichen und habe versucht, ein ganz normales Leben zu leben. Ich sage bewusst „versucht“, da es von da an ziemlich bergab ging. Die Bulimie wurde immer schlimmer, ich nahm immer mehr zu, bis ich 2015 mein Höchstgewicht (+40 kg) erreichte, was mich immer depressiver stimmte. Ich hatte starke Gewichtsschwankungen, nahm immer mal wieder zehn bis zwanzig Kilogramm ab und dann in kurzer Zeit wieder zu. Aus Verzweiflung begann ich tagelang zu fasten, verlor aber immer wieder die Kontrolle und nahm wieder zu. Oft stand ich um 04.00 Uhr auf, um vor der Schule noch joggen zu gehen. Unter Schlafstörungen litt ich auch schon eine Weile und mehr als drei bis vier Stunden Schlaf pro Nacht waren es nie. Ich unternahm nichts mehr mit Freunden, meine schulischen Leistungen wurden schlechter, ich traute mich nicht mehr aus dem Haus. Ich begann, mich selbst zu verletzen. Ich wollte nichts mehr machen, ich wollte nur noch sterben. Diesen täglichen Kampf mit dem Essen, mit mir und meinem Körper hielt ich nicht mehr aus. Ich wusste nicht mehr weiter, konnte mit keinem darüber reden, weil niemand davon wusste. Ich schämte mich so sehr und hatte Angst, was andere von mir denken könnten, wenn sie von all dem erfahren würden.

Dann hatte ich einen Fahrradunfall, der mich ziemlich aus dem Leben geworfen hat. Aufgrund einer Tibiakopffraktur wurde ich zweimal operiert und durfte fast zwei Monate nicht laufen und mindestens ein halbes Jahr keinen Sport machen. Von heute auf morgen wurde mein kompletter Alltag auf den Kopf gestellt, aber das Schlimmste war für mich, dass ich von anderen abhängig war. Anfangs war ich nicht einmal in der Lage, allein aufzustehen. Ich konnte erst einmal nicht in die Schule, nicht mehr zum Pferd und keinen Sport mehr machen – ich lag wochenlang nur noch im Bett. Dadurch verstärkte sich meine Depression umso mehr und ich wurde immer lebensmüder. Die Essstörung wurde immer schlimmer, die Essanfälle hörten nicht auf und ich nahm immer mehr zu, weil der Ausgleich mit dem Sport fehlte. Doch die Essstörung brachte mich sogar dazu, viel zu früh wieder mit dem Sport anzufangen, obwohl ich es noch gar nicht durfte. Ich war aber so gefangen in ihr, dass mir meine Gesundheit egal war und ich die Schmerzen ignorierte.

Einerseits habe ich mir so sehr gewünscht, mit jemandem reden zu können, andererseits konnte ich es mir überhaupt nicht vorstellen, weil ich niemandem zur Last fallen wollte. Es war mir unglaublich unangenehm und ich wusste selbst nicht so genau, was mit mir los ist. Ich fing an, meine Gefühle und Gedanken aufzuschreiben, um damit klarzukommen. Schreiben half mir, mich zu sortieren, zu reflektieren und auch loszulassen. Ich startete mit einem Blog im Internet, um meinen Kopf etwas zu entlasten. Es war lange die einzige Möglichkeit für mich, mein Innenleben nach außen zu tragen, weswegen ich mich irgendwann entschied, es mit anderen zu teilen. Der Austausch mit anderen Betroffenen tat mir sehr gut und half mir, mir einzugestehen, dass ich Hilfe brauchte und dass es auch okay ist, sich Hilfe zu suchen. Es tut unglaublich gut, sich mit anderen auszutauschen und zu merken, dass man nicht allein ist.

Mein Umfeld merkte aber langsam, dass ich mich immer mehr veränderte und zurückzog. 2016 ging ich erstmalig zu einem Arzt, bei dem ich zusammenbrach und nur noch weinte. Viel erzählt habe ich nicht, aber genug, dass er mir eine Überweisung mit der Diagnose „Depression“ für einen Psychiater gab. Für mich war das ein riesiger Schock, das jetzt schwarz auf weiß zu lesen. Ich? Depressiv? Nein, das kann nicht sein. Wie soll ich das meinen Eltern beibringen? Es war mir unglaublich unangenehm. Meine Eltern sind damit aber super umgegangen und für sie war das auch keine große Überraschung.

Zu dieser Zeit begann ich mit einer Lehrerin meiner Schule zu sprechen, die mir eine unglaubliche Hilfe und Stütze war. Sie hat mich die ganze Zeit begleitet und durch sie habe ich den Schritt gewagt, eine Therapie im März 2017 zu beginnen und dann auch meinen ersten Klinikaufenthalt zu wagen. Durch meine wunderbaren Freunde, meine Familie und dieser tollen Lehrerin habe ich es durch das Abitur geschafft und unter diesen Umständen ein recht gutes Ergebnis erzielt. Oft frage ich mich, wie ich mein Abitur überhaupt geschafft habe. Ich schlief kaum noch und konnte mich auf nichts mehr konzentrieren. Im Unterricht habe ich die meiste Zeit damit verbracht, um über Kalorien und Essen nachzudenken.

Nach der Schule litt ich nur noch unter Ess-Brechanfälle oder holte den Schlaf nach, den ich nachts nicht bekam. Zeit zum Lernen blieb da nicht.

Nach meinem Abitur fiel ich in ein tiefes Loch und war kurz davor, die Hoffnung aufzugeben. Suizidgedanken inklusive Ideen, wie ich mein Leben beenden könnte, waren zu diesem Zeitpunkt schon sehr ausgeprägt. Im Sommer 2017 ging ich dann das erste Mal in eine Klinik auf die Station für Essstörungen, welche leider nicht ausreichend für mich war. Ich hatte dort nicht das Gefühl, wie ein „Mensch“ behandelt zu werden, weil nur auf meine Essstörung geschaut wurde. Es fühlte sich an, als wäre ich die Essstörung (anstatt ich habe eine Essstörung). Schon dort wurde der Verdacht geäußert, dass ich unter einer „Emotionalinstabilen-Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typs“ leiden könnte. Die Station behandelte jedoch ausschließlich meine Bulimie, weswegen sich an meinem Zustand aber auch nichts änderte, da die Essstörung nicht mein Hauptproblem war. Ich habe schon oft gemerkt, dass die Essstörung eher ein Symptom von etwas viel Größerem ist. Die Essstörung war und ist leider immer noch mein Mechanismus, um Gefühle, Anspannung und schwierige Situationen zu regulieren und zu überstehen. Im weiteren Verlauf gehe ich darauf genauer ein, da mir diese Erkenntnis oft die Augen geöffnet hat.

Ich wurde also drei Monate später aus der Klinik entlassen - ohne große Veränderung in Bezug auf meine Problematik. Wirklich bereit, an der Essstörung zu arbeiten war ich damals aber auch noch nicht und mich jemandem öffnen, konnte ich auch nicht. Es war mir alles zu viel, zu neu, zu unberechenbar. Ich wusste nicht, was passiert und fühlte mich dort absolut nicht wohl. Ich fühlte mich schon wieder „nicht gesehen“ und als wäre ich nur eine Fallnummer, die abgearbeitet wird. Dementsprechend verhielt ich mich dann auch, machte dicht und „funktionierte“, sodass mich alle in Ruhe ließen und die Therapeuten mit mir zufrieden waren.

Trotzdem entschied ich mich, meinen Auslandsaufenthalt in Australien anzutreten. Im November 2017 flog ich nach New South Wales, um dort als Au Pair zu arbeiten. Jedoch beendete ich diesen nach drei Monaten und flog zurück nach Deutschland. Einerseits wegen schlechter Erfahrungen mit meiner Gastfamilie, andererseits aufgrund meines schlechten Gesundheitszustandes. Selbst in Australien hatten mich meine Essstörung und die Depression ziemlich im Griff. Ich habe meinen Job zwar sehr zuverlässig erledigt, lag aber jeden Abend weinend im Bett und schmiedete Pläne, wie ich meinem Leben ein Ende setzen könnte. Oft stand ich an wunderschönen Klippen und dachte darüber nach, zu springen. Hier und jetzt. Aber das konnte ich meiner Familie und meinen Freunden nicht antun. Ich wollte nicht für den Schmerz verantwortlich sein, den ich in ihnen ausgelöst hätte.

Februar 2018 war ich wieder in Deutschland und im März wurde ich schon in die nächste Klinik eingewiesen, was das Beste war, was mir hätte passieren können. Zum ersten Mal habe ich wirklich jemanden an mich herangelassen und ließ mir helfen. Ich habe dort so viele tolle, herzliche Menschen kennengelernt und hatte die tollsten Ärzte und Therapeuten, die ich mir hätte vorstellen können. Dort war ich über ein Jahr; habe sehr viel erlebt und mitgenommen, was ich gerne teilen möchte. Es war eine sehr schwierige Zeit, aber auch eine unglaublich tolle, intensive und schöne Zeit. Ich bin meinen Therapeuten und meiner Ärztin so dankbar, dass sie mich nie aufgegeben haben. Ich muss schon zugeben, dass es gerade am Anfang sehr schwer war, mein Vertrauen zu gewinnen. Aber ich wurde dort mit so viel Verständnis, Wertschätzung und Respekt behandelt, dass ich mich immer mehr öffnen konnte. Ich rechne ihnen ihre Mühe sehr hoch an und werde diese Zeit und die wertvollen Erfahrungen nie vergessen. Vor allem aber habe ich durch sie gelernt, dass ich mich auf Menschen verlassen kann und dass Vertrauen auch in schwierigen Zeiten beständig bleibt.

Dieser zweite stationäre Aufenthalt verlief anfangs sehr schleppend. Ich war ziemlich verzweifelt und planlos. Ich wollte einfach nicht mehr. Trotzdem hat mich niemand aufgegeben. Ich wurde mit all meiner Hoffnungslosigkeit akzeptiert und immer wieder aufgefangen. Als ich zwischendrin kurzzeitig auf die Geschlossene verlegt wurde, weil ich zu suizidal war, veränderte sich mein Denken langsam: „Ich gehöre hier doch nicht hin“, dachte ich mir. Ich erlaubte mir endlich zu denken, dass ich viel Potenzial habe und das erreichen kann, was ich möchte, wenn ich es denn möchte. Ich habe mich neu geordnet und für das Leben entschieden. Nichts und niemand wird mich retten können, außer ich mich selbst.

Nach dem Aufenthalt in der Geschlossenen bin ich zurück in die Klinik, in der ich davor war. Ich wechselte ins tagesklinische Setting und begann, zweimal die Woche in einer Schulbetreuung zu arbeiten. Parallel dazu fing ich an, mich für meine Ergotherapie Ausbildung zu bewerben, nahm Vorstellungsgespräche wahr und bekam tatsächlich an allen Schulen eine Zusage. Ich entschied mich für meine jetzige Schule und machte mich auf WG-Suche. Auch dort wurde ich ziemlich schnell fündig und zog in meine wundervolle WG, in der ich jetzt immer noch wohne.

Ich musste mir bewusstwerden, was ich möchte. Ob ich mich weiter in die Krankheit flüchte oder kämpfe und ein neues Leben beginne. Seitdem gab es immer wieder ziemliche Tiefschläge und schwierige Phasen, aber ich habe immer weitergemacht – die Ausbildung trotz allem durchgezogen – und ich mache auch jetzt weiter. Ich habe mich für das Leben entschieden. Ich habe immer noch wahnsinnige Angst vor der Zukunft, aber das ist okay und ich freue mich darauf, was noch alles auf mich wartet.

Ich war oft so hoffnungslos. Ich wollte nicht mehr leben und war mir sicher, dass ich es auch niemals wollen werde. Es ist immer noch oft schwierig und es werden auch immer wieder schwierige Phasen kommen, aber so ist das Leben nun einmal. Ich zweifle noch oft und die Hoffnungslosigkeit ist nicht weg, aber ich lasse mich nicht mehr davon unterkriegen, sondern mache weiter.

Gib bitte niemals auf, egal wie schlimm es sich anfühlen mag. Es wird besser. Versprochen.

Und jetzt sitze ich hier und schreibe meine Geschichte auf, um Mut zu machen. Um zu zeigen, dass alles möglich ist, wenn man es möchte. Ich nehme dich mit auf meine Achterbahnfahrt durch das Leben. Unzählige Auf und Abs, absolute Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Aber auch wertvolle Erfahrungen und Erkenntnisse, die mich für immer bereichern werden. Auch jetzt bin ich noch lange nicht am Ziel, aber ich habe die ersten Meilensteine gelegt und gehe meinen neuen Weg weiter.

Manchmal stolpere ich noch, falle hin und würde am liebsten liegen bleiben, aber ich stehe immer wieder auf und gehe diesen Weg weiter. Weil es sich lohnt!

Du kannst mir glauben, ich war so oft am Tiefpunkt, wollte aufgeben und habe nur mit viel Glück überlebt, aber irgendwas in mir wollte leben und ich habe mich immer wieder aufgerafft. Ich hätte vor ein paar Jahren nicht gedacht, dass ich jetzt noch lebe und sagen werde, dass ich Hoffnung habe. Hoffnung auf ein schönes und erfülltes Leben. Hoffnung, dass es mir irgendwann wieder gut gehen wird. Und ich glaube dran. Alles geht seinen Weg.

Es ist so viel in mir, das raus möchte. Ich möchte mit diesem Buch Kraft und Hoffnung schenken. Meine Erfahrungen sollen motivieren, immer wieder aufzustehen, auch wenn es unmöglich scheint. Es geht immer weiter, auch wenn du den Weg noch nicht siehst.

Du bekommst einen Einblick in den Kampf, den ich täglich führte und noch führe – vor allem gegen mich selbst. Ich bin noch lange nicht da, wo ich gerne sein würde, aber ich bin auf einem guten Weg. Ich habe so viel gelernt in diesen Jahren und möchte mein Wissen und meine Erfahrungen gerne weitergeben, weswegen ich dir auch viele Einblicke in meine therapeutischen Prozesse gebe wie zum Thema Selbstwert, Perfektionismus oder die Kraft unserer Glaubenssätze, womit wir unsere Realität erschaffen. Und natürlich schreibe ich dieses Buch auch für mich, denn das Schreiben ist für mich wie eine Therapie. Es hat mir geholfen, mich zu sortieren, Druck abzulassen und mir letztendlich Hilfe zu suchen. Indem ich das alles aufschrieb, lernte ich loszulassen und mich von meinen Gedanken zu distanzieren. Ich bin nicht meine Gedanken oder Gefühle. Ich habe Gedanken und Gefühle, die ich beeinflussen kann. Es hat mir unglaublichen Spaß gemacht, meine Tagebuchauszüge und Therapieinhalte zu sortieren, um ein Buch daraus zu gestalten. Den größten Teil habe ich in einer Zeit geschrieben, in der es mir sehr schlecht ging und ich eigentlich keinen Sinn mehr im Leben gesehen habe. Trotzdem packte mich immer wieder die Motivation und ich schrieb darauf los. Es floss einfach aus mir heraus, ich plante nie, was ich schrieb. Es war alles schon da. Das dürfen wir uns immer wieder bewusstmachen: Wir haben schon alles in uns – und wir können uns auf die Suche machen und es finden.

Wenn ich ehrlich bin, habe ich oft noch Tage, an denen mir alles unglaublich trostlos und sinnlos erscheint. An denen ich mir wieder so überflüssig vorkomme, als gäbe es keinen Platz für mich. Aber langsam fange ich an, auch das zu akzeptieren. Das ist okay, ich bin okay. Es scheint nicht jeden Tag die Sonne, manchmal regnet es auch wieder oder stürmt es sogar. Vielleicht brauchen wir den Regen, um wachsen zu können? Und wenn du genau hinschaust, dann erkennst du vielleicht den Regenbogen hinter den Wolken. Er ist da, du musst nur genau hinsehen – du darfst genau hinsehen. Vielleicht stellst du dich das nächste Mal einfach in den Regen und schaust, was passiert? Vielleicht ist er gar nicht so schlimm, wie er sich am Anfang anfühlt? Und wer weiß, was durch den Regen vielleicht gewachsen ist? Vielleicht sieht die Welt morgen schon wieder ganz anders aus.

Und wenn ich nur einem Menschen mit diesem Buch helfen kann, dann habe ich alles richtig gemacht. Du musst diese Phasen nicht aushalten und du musst da auch nicht allein durch - es gibt Hilfe. Ich hoffe, mit meinen Worten helfen zu können und wünsche jedem von Herzen nur das Beste! Du hast nur ein Leben, mach das Beste daraus. Und denke daran: Am Ende des Lebens gibt es keinen Pokal, also mache das, was DU für richtig hältst!

Deine Betty

P.S.: Wer Rechtschreibfehler findet, der darf sie gerne behalten. Auch wenn ich es gefühlt hundertmal durchgelesen haben, sind bestimmt immer noch hier und da ein paar Fehlerchen, aber das Buch ist eben auch nicht perfekt – und das war auch nicht meine Intention. Viel Spaß beim Lesen und falls du möchtest, freue ich mich, von dir zu hören. Du kannst mich gerne über Instagram (@vielleichtwirdsvielleichter) kontaktieren und mir deine Gedanken zu diesem Buch hinterlassen.

Als ich aufhörte, mich zu bekämpfen

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