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4. Brief an meine Essstörung – als Freundin und als Feindin (2018)

Liebe Essstörung,

nun begleitest du mich schon seit fast sechs Jahren. Langsam hast du dich in mein Leben geschlichen und wurdest immer mehr ein Teil meines Leben. Von mir. Mittlerweile bist du der Mittelpunkt meines Lebens.

Du bist immer für mich da - wie eine Freundin. Du gibst mir Sicherheit, vertreibst meine Langweile und füllst meine Leere. Du hilfst mir, mich besser zu fühlen und mich von den wirklich schmerzhaften Dingen abzulenken. Du hilfst mir, mit meinen Gefühlen umzugehen, wenn sie mich wieder überrollen und zu stark werden. Du gibst mir Halt, wenn es sonst kein anderer kann. Du lässt mich etwas anderes spüren als nur diesen Schmerz. Du belohnst mich, wenn ich etwas richtig mache. Du gibst mir das Gefühl, stark und diszipliniert zu sein. Du gibst mir das Gefühl, wenigstens etwas zu können und etwas Besonderes zu sein. Durch dich hat mein Leben wenigstens einen Sinn - abnehmen, bis wir gemeinsam verschwinden.

Du stellst mir jeden Tag neue Herausforderungen und überhaupt eine Aufgabe, um morgens aufzustehen. Du gibst mir die Motivation, noch weniger zu essen und noch mehr Kalorien zu verbrennen. Du gibst mir die Kraft, wenn ich am liebsten nur noch im Bett bleiben würde. Du gibst meinem Leben eine Richtlinie mit klaren Regeln. Du sagst mir, was richtig und was falsch ist. Du hast mir eine Möglichkeit gezeigt, wie ich in eine andere Welt flüchten kann, wie ich von dieser schrecklichen Welt emotional Abstand nehmen kann. Du hast mich in deine eigene kleine Welt herzlich aufgenommen und bei dir weiß ich, dass du mich nie loslassen wirst. Du weißt, wie ich am besten mit Überforderung umgehe - du hilfst mir, lenkst mich ab, tröstest mich. Ohne dich hätte ich die letzten Jahre nicht überlebt. Du hast mich beschützt und eine Mauer um mich gebaut, sodass niemand mehr an mich herankommt. Ich brauche niemanden anderen mehr - ich habe ja dich, die Einzige, auf die ich mich verlassen kann.

Seit so vielen Jahren halte ich nun an dir fest, liebe Essstörung, aber warum eigentlich? Du bist so ein großer Teil meines Lebens und gibst vor, mir das zu geben, was ich brauche. Ob es mir dadurch wirklich besser geht, ist die andere Frage. Gleichzeitig nimmst du mir auch so unglaublich viel. Du verbietest mir, das Leben zu genießen und mir das zu erlauben, was mir zusteht. Du baust eine Mauer um mich auf, sodass keiner mehr an mich herankommt. „Du brauchst niemanden anderen außer mich“, willst du mir einreden. „Warum Hilfe annehmen, wenn du doch nur ein wenig abnehmen möchtest, damit du dich besser fühlst?“. Immer wieder redest du mir ein, dass alles besser wird, wenn ich wieder abnehme. Dass ich dann viel besser aussehe und mehr wahrgenommen werde. Dass ich mich besser fühlen werde und ich mich nicht mehr verstecken muss. Dass mit 20 Kilogramm weniger alles besser ist.

Aber merkst du nicht, dass wir uns nur im Kreis drehen? Dass ich so niemals glücklich werden kann? Wo soll das hinführen? Was soll sich mit 20 Kilogramm weniger ändern? Nichts. Einfach nichts. Wer wäre ich denn, wenn ich meinen Wert durch eine Zahl auf der Waage bestimme? Die immer niedriger wird, ohne ein richtiges Ziel vor Augen zu haben, oder überhaupt zu wissen, wann es genug ist. Denn es gibt nie ein genug. Du gaukelst mir eine heile Welt und Zukunft vor, doch mittlerweile weiß ich, dass das alles nur eine deiner miesen Lügen ist. Du machst mich kaputt. Kaputter als ich eh schon bin. Du kannst mir nicht das geben, was ich brauche.

Du raubst mir die Kraft und meine Lebensfreude. Du zwingst mich, Verabredungen abzusagen, weil überall die Gefahr lauert, dass ich etwas essen könnte. Du isolierst mich und hältst mich in meiner Einsamkeit gefangen. Wofür bestrafst du mich? Du behandelst mich wie eine Puppe und formst mich, wie du mich gerne hättest. Dir ist es egal, wie ich mich dabei fühle. Du willst mich lieber tot als lebendig. Denn Essen bedeutet Leben und du verbietest mir das Essen. Du verbietest mir das Leben. Warum darf ich nicht einfach „sein“? Ohne es mir verdienen zu müssen? Langsam und leise reißt du mich mit in den Untergrund – bis wir beide nicht mehr da sind.

Denn wenn man tot ist, kann man nichts mehr falsch machen.

Ist das dein Ziel?

Und gleichzeitig schlägst du mit voller Kraft zu und redest mir ein, dass es mir ja auch helfen würde, wenn ich mich mit Essen vollstopfe. „Es lenkt dich ab, lässt dich etwas anderes fühlen. Du kannst alles um dich herum vergessen.“, sagst du mir. Dass danach alles wieder von vorne beginnt und der Schmerz noch da ist, sagst du mir nicht. Und zusätzlich redest du mir dann wieder ein, was ich doch für ein fettes, disziplinloses Schwein wäre, das sich mit Essen vollstopft und nur noch fetter wird. Doch auch dafür hast du eine Lösung und zwingst mich dazu, alles wieder in der Toilette loszuwerden. Dann lobst du mich. Merkst du eigentlich, was du mit mir machst? Du zerstörst mich und meinen Körper. Du lässt mich ganz viel essen mit dem Versprechen, dass es mir dann bessergeht, um mich danach erst recht fertigzumachen? Was macht das für einen Sinn? Und was habe ich davon? Kreislaufprobleme, Herzrasen und Zittern ohne Ende. Von den Schmerzen fang ich erst gar nicht an. Alles machst du mir kaputt. Ich will dich nicht mehr in meinem Leben. Du hast mir alles genommen. Deine Hinterhältigkeit kotzt mich im wahrsten Sinne des Wortes an.

Ich brauche dich nicht mehr in meinem Leben. Ich habe andere Wege gefunden, um mit meinen Problemen klarzukommen. Du wirst zwar immer ein Teil meines Lebens bleiben und das darfst du auch. Aber ich werde dir nicht mehr gehorchen. Du bist da, aber ich bin es auch und ich werde diesen Weg jetzt ohne deine „Lösungen“ weitergehen. Du warst ein wichtiger Teil meines Lebens und das wirst du vermutlich auch bleiben. Irgendwie bin ich dir ja auch dankbar, weil du mir immer wieder zeigst, wenn etwas nicht gut läuft und ich etwas ändern muss. Das darfst du auch weiterhin machen, aber deine Hilfe und Art mit den Problemen umzugehen, kann und will ich nicht mehr gebrauchen.

Ich komme jetzt ohne dich klar.

Mach‘s gut, liebe Essstörung.

Als ich aufhörte, mich zu bekämpfen

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