Читать книгу Schlachtfeld Elternabend - Bettina Schuler - Страница 11
Papa ante portas
Оглавление»Hast du mir überhaupt zugehört?«
Mit einem Anflug von Verwirrung sah ich von meinem Smartphone auf. Mein Blick wanderte von den bunten Bildchen zu dem strengen Gesichtsausdruck meiner Frau. Und der war nur allzu deutlich. Jede falsche Antwort konnte ins Verderben führen.
»Äh, natürlich, Schatz.« Um ihr Misstrauen zu entkräften, setzte ich ein strahlendes Siegerlächeln auf. »Elternabend, zwanzig Uhr, kein Problem.« Ob sie bemerkte, dass ich das nur geraten hatte?
Die Sekunden dehnten sich bis zur Unendlichkeit. Dann kam die Erlösung. »Ja, zwanzig Uhr. Du weißt doch, wo die Schule ist?«
Jetzt durfte ich mir nur nichts anmerken lassen. Ein Zögern, ein falscher Blick konnte alles zum Einsturz bringen. »Klar weiß ich, wo die Schule ist …« Ich wagte ein überhebliches Lachen.
Nichts gegen meine Frau, sie ist die Liebe meines Lebens. Manchmal aber ist sie etwas übervorsichtig. Warum sollte ich nicht wissen, wo meine Kinder zur Schule gehen?
Ich notierte mir im Geiste, den Weg nachher zu googeln. Die Mail, die gerade ankam, ließ diesen guten Vorsatz jedoch im Nirwana verschwinden.
Erst später, ich saß bereits in meinem Auto und fuhr fröhlich winkend vom Hof, kamen mir Zweifel. Oder eher dunkle Ahnungen, die sich wie Gewitterwolken am Horizont breitmachten.
Welche Schule? Und welches Kind war es noch gleich?
Das Lächeln gefror mir im Gesicht, während ich fieberhaft darüber nachdachte.
Annalena. Klar, es musste Annalena sein. Lisa hatte ihren Elternsprechtag ja schon letzte Woche gehabt. Meine Frau war dort gewesen. Glaubte ich zumindest. Erleichtert schaltete ich in den dritten Gang, als mir eine weitere Frage durch den Kopf schoss.
Wo ging unsere Anni eigentlich zur Schule?
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, meine Frau anzurufen. Bestimmt saß sie bereits neben dem Telefon und wartete nur darauf, dass ich mich meldete. Einfacher wäre es schon, meinte der kleine Verräter in mir.
Ich machte ihn sofort mundtot. Ich bin ein Mann. Aber so was von. Typen wie ich haben den Eiffelturm gebaut. Die Allianz-Arena. Und die Pyramiden. Männer wie ich haben früher Mammuts gejagt, nur mit Speeren bewaffnet!
Dass als Nächstes die Couch vor meinem inneren Auge erschien, auf der ich mit einem frischen Bierchen in der einen und der Fernbedienung in der anderen Hand saß, konnte ich mir gerade nicht erklären. Ich nahm es mal so hin.
Allein schon, weil ich gerade die Ampelkreuzung erreichte, die das Ende unserer Siedlung markierte.
Mist, es war grün. Bei rot hätte ich wenigstens noch ein bisschen nachdenken können, aber so? Immer ist es grün, wenn man es überhaupt nicht gebrauchen kann. Angestrengt sah ich auf die Straße. Links oder rechts? Zumindest nicht geradeaus, da gings zum Fußballplatz. Dieser Gedanke versetzte mir einen kleinen Stich. Waren meine Jungs nicht heute dort Fußball spielen? Hinter mir tauchten Scheinwerfer auf. Zeit, eine Entscheidung zu treffen.
Spontan fuhr ich nach rechts.
Musste ich ja, denn da war schließlich Lisas Grundschule. Ich sah das Gebäude direkt vor mir, mit seinem ausgewaschenen beigefarbenen Putz. Ein schicker Flachdachbau aus den Siebzigern. Ein Heimspiel.
Nicht mehr als acht Klassenzimmer, die Gesichter waren ebenfalls immer dieselben. Würde fast wie ein Klassentreffen werden, nur mit Eltern. Zufrieden steuerte ich meinen Wagen weiter in Richtung Grundschule. War ja auch kein Problem, Lisa ging seit drei Jahren dahin. Und Annalena war auch schon dorthin gegangen.
Annalena!
Ich stieg in die Eisen. Das Auto gehorchte nur widerwillig. Mit deutlich längerem Hupen als notwendig überholte mich der Wagen, der in den letzten Minuten hinter mir hergefahren war. Idiot!
Während ich mich über diesen Rüpel und andere verkehrsgefährdende Autofahrer im Allgemeinen aufregte, wendete ich den Wagen und fuhr in Richtung Gymnasium.
Wieso musste dieses Gymnasium denn eigentlich in der entgegengesetzten Richtung liegen? Konnte man nicht einfach alle Schulen auf denselben Haufen packen? Logistisch wäre das doch viel einfacher. Und überhaupt, dann würden alle Busse in dieselbe Richtung fahren, oder nicht? Man stelle sich nur die enorme Einsparung von CO2-Ausstoß vor!
Berauscht von meiner eigenen Genialität fuhr ich meinem Ziel entgegen. Bis mir ein Blick auf die Uhr die Sache madig machte.
19:40 Uhr.
Das hätte jetzt wirklich nicht sein müssen. Der Mammutjäger in mir legte seinen Speer, auf den er sich die ganze Zeit zufrieden gestützt hatte, zur Seite und begann sich am Kopf zu kratzen.
Zwanzig Minuten. Das konnte eng werden. Ich malte mir dennoch aus, wie ich vor diesem hässlichen Betongebäude ankäme, meinen Wagen direkt vor der Treppe parkte und nonchalant ins Klassenzimmer träte. Tatatataa, ich bin da. Wir können anfangen.
Die Erinnerung an meine eigenen Worte rief mich zurück auf den harten Boden der Tatsachen.
»Klar weiß ich, wo die Schule ist …«
Ich verfluchte mich selbst, denn so sehr ich mich auch bemühte, mir den Weg vorzustellen, es gelang mir nicht. Alles was ich sah, war die dämliche Landstraße zur Grundschule.
So konnte das nichts werden. Ich schaute auf die Uhr.
19:43 Uhr.
Das würde knapp werden. Sehr knapp sogar. Die Richtung stimmte, da war ich mir ganz sicher. Jetzt durfte ich bloß keinen Fehler mehr machen, sonst kam ich zu spät …
Doch ich hatte ja eine Geheimwaffe. Ein Gadget! Mein Siegerlächeln kehrte zurück. Eigentlich war ich James Bond mit meinem Smartphone. Nur ohne Smoking. Aber genauso cool. Und ich hatte ein Gerät, das mein Supertelefon in den Schatten stellte und das den legendären Waffenmeister Q vor Neid erblassen lassen würde. Mein Navi.
39,90 Euro vom Discounter. Ein Schnäppchen. Wen interessierte es da, dass die Straßenkarte von 2006 war? In aller Ruhe tippte ich die Buchstaben ins Display. Ein Kinderspiel, das bekam selbst meine Drittklässlerin hin.
G Y M A -
Nichts. Das Navi fand nichts. Da wurde mir klar, dass ich mich vertippt hatte. Ich fing noch mal an. Die nächste Einfahrt kam reichlich schnell. So schnell, dass ich nicht aufpasste und mich wieder vertippte.
G Y M N N N
Ach, daran hätte mein alter Deutschlehrer seine Freude gehabt. Setzen, sechs. Ich schaffte es gerade noch, abzubiegen, dann korrigierte ich meine Eingabe.
Die freundliche Frauenstimme, die mich immer an Miss Moneypenny erinnert, bestätigte mein Ziel.
Hervorragend, geht doch. Ich sah auf die Uhr.
19:48 Uhr.
Sollte nicht mehr weit sein. Es brauchte schon die gefühlskalte Stimme von Miss Moneypenny, um meine Zuversicht mit einem Schlag zu zerstören.
»Bitte wenden.«
Was meint sie damit? Ich war doch richtig, oder? Mein Blick richtete sich wie in Zeitlupe auf den kleinen Bildschirm. Der Pfeil log nicht. Unbarmherzig formte er ein U und zeigte in die Richtung, aus der ich gekommen war.
Mist.
Hatte da nicht irgendwo ein Mammut gelacht? Ich tat so, als hätte ich nichts gehört.
Die Folterstimme aus dem Off wiederholte sich: »Bitte wenden.« Woher wollte die das wissen? Es ging da entlang, dessen war ich mir sicher.
Ich fuhr in eine Seitenstraße, die mir gänzlich unbekannt vorkam. Anschließend unter einer alten Eisenbahnbrücke hindurch, die ich zum ersten Mal in meinem Leben sah.
Meine gefühlskalte Nemesis kommentierte das natürlich. »Achkrzkrz krchchchchcrrrrrr«, machte das Navi.
Ich versuchte mich an einer Reihe unverständlicher bayerischer Flüche, auch wenn das keinen Spaß machte, denn sie ignorierte meinen Wutanfall. Erst dann verstand ich sie - wie durch ein Wunder - wieder klar und deutlich.
»Bitte wenden.«
»Nein! Hast du noch nie was von einer Abkürzung gehört?« Ich schrie. Das konnte sie doch nicht kaltlassen. Aber Miss Moneypenny war unbeeindruckt. Das konnte ich auch sein.
James Bond hätte sich niemals so behandeln lassen, niemals. Mit eiserner Miene gab ich Gas.
Der Weg endete abrupt. Die Schlammpiste vor meinem Kühler war nicht der Nürburgring. Ich musste erneut in die Eisen steigen.
19:53 Uhr.
Jetzt oder nie, ich setzte alles auf eine Karte. Mein Auto röhrte und schepperte. Ich quälte es weiter. Die Reifen schlitterten nach vorn, wie durch ein Wunder hielt ich den Wagen auf der Straße. Das wird nicht gut ausgehen, nie und nimmer.
»Bitte wenden.« Ich hörte es nur gedämpft durch den Schleier der Anstrengung hindurch. Das Auto fuhr weiter, Meter für Meter. Plötzlich war da wieder Teer unter meinen Reifen. Und Lichter, jede Menge Lichter.
Vor mir erhob sich ein graues Ungetüm aus Beton. Das Gymnasium. Ich war da! Meine Souveränität kehrte zurück. Die Worte »Sie haben Ihr Ziel erreicht« gingen mir runter wie Öl. Das war doch gar nicht so schwer gewesen, man musste den Papa nur machen lassen. Passt auf, ihr Mammuts und Moneypennys, jetzt komme ich!
Mein Stimmungshoch hielt bis zu dem Moment, in dem ich erkannte, dass der Parkplatz gesperrt war. Wie konnte man nur einen Parkplatz sanieren, wenn er gerade gebraucht wurde?
Mist, Mist, Mist.
So eine Baustelleneinfahrt war doch auch nichts anderes als ein Parkplatz, oder? Sollten die anderen doch an der Straße parken, ich nahm den direkten Weg. Vor der Tür zu stehen, das sparte Zeit.
Im Gebäude kam das wahre Problem ans Tageslicht. Irgendwie sahen alle Gänge gleich aus. Ich hatte eine vage Erinnerung daran, wo ich hinmusste. Schließlich waren wir doch am ersten Schultag der fünften Klasse dabei gewesen. Ich vergaß meinen würdevollen Gang und hetzte los durch die Flure dieser Schule, die mir vorkam wie ein Labyrinth.
Vielleicht sollte ich jemanden fragen? Aber da war niemand.
Damals, als ich noch die Schulbank drückte, da gab es einen, der immer da war. Ich sah ihn noch vor mir. Seine vertraute Silhouette, leicht gebeugt, wie ein General nach der Schlacht, der nach Deserteuren sucht. Ein Scharfrichter im Lehrerkostüm.
Der Bruckner.
Der Albtraum meiner Schuljahre, ein Mann, vor dem sich selbst der Hausmeister Herr Bert - oder war es Herbert? - auf dem Klo versteckte. Der in Ermangelung von Gesprächspartnern regelmäßig mit den Schaukästen und den Säulen sprach und der Abiturienten zum Heulen brachte, weil sie ihr Pausenbrot nicht aufgegessen hatten. Genau dieser Bruckner.
Warum war der nicht hier, wenn man ihn ein Mal im Leben brauchte?
Wie der Geist einer verblassenden Erinnerung schwebte der alte Lateinvokabelinquisitor direkt auf mich zu.
19:58 Uhr.
Das Phantom musterte mich von Kopf bis Fuß. »Du schon wieder«, sagten seine Augen und: »Wie immer zu spät.«
Völlig verdutzt rannte ich weiter, floh vor meiner eigenen Planlosigkeit und diesem Lehrergespenst einen der Gänge entlang. Immer weiter, tiefer in das finstere Labyrinth aus Türen und vollgekritzelten Zeichenblättern. Offensichtlich die talentfreie Zone dieser Schule. Endlich, endlich erkannte ich die Treppe wieder. Ja, da musste es sein. Ich rannte die Stufen hoch, nahm drei auf einmal. Dann war ich da.
Ich platzte in das Klassenzimmer.
Nie zuvor hatte ich so erschreckte Gesichter gesehen. Klar, man wird nicht jeden Tag beim Yoga gestört und mein Auftritt war wohl so heftig, dass mehrere der Damen abrupt ihre Position veränderten und in einem Atemzug vom Baum zum fallenden Stein mutierten, wobei sie natürlich durch die Nase ein und durch die Nase auch wieder ausatmeten.
Mit hochrotem Kopf zog ich mich zurück. Nein, das war gewiss nicht das Klassenzimmer unserer Anni. Das nicht. Ich lief weiter, rannte durch die Gänge und schaute hinter Türen. Entweder waren die Räume dahinter leer oder irgendeine Verschwörung aus Volkshochschulkurs und Selbsthilfegruppe tagte dort. Es war zum Heulen. Ich checkte meine Uhr.
20:04 Uhr.
Fieberhaft fing ich an zu rechnen. Wie alt war dieses Kind eigentlich? In welche Klasse ging es? Minuten verstrichen, ich arbeitete mich Tür für Tür voran, bis es mir siedend heiß einfiel. Sechste Klasse, Anni ging in die sechste Klasse. Das machte es leichter, ich suchte nach den Türschildern.
20:12 Uhr.
Das Schild verkündete mir: 6a. Fast war ich ein bisschen gerührt. Ich war da. Ich war wirklich da. Noch einmal atmete ich tief ein, dann öffnete ich die Tür.
Das Klassenzimmer war dunkel.
Ich fasste es nicht. Dunkel. Ich war ganz allein. Unsicher sah ich noch einmal aufs Türschild. Tatsache, 6a.
Da klingelte mein Handy. Ich stand kurz vor dem Zusammenbruch. Natürlich war es meine Frau, wer sonst? Wie sollte ich ihr all das erklären, mein Zuspätkommen, der leere Klassenraum, wie? Ich brachte kein Wort heraus.
»Hat es schon angefangen?« Ihre Stimme klang freundlich, ganz ohne den spöttischen Unterton, den ich erwartet hatte.
Die leeren Stühle und Tische waren einfach nur deprimierend. »Nö«, presste ich heraus.
»Ach, Schatz?«, sagte sie. »Wenn du schon da bist, dann trag Lisa doch gleich für die Theatergruppe ein, ja?«
Es gibt Tage, da ist einem Mann das größte Mammut egal. Da will man nur noch eins: auf die Couch. Und zwar so schnell wie möglich.