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Spickzettel

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»Probleme gibt es nicht, nur Herausforderungen.« Nun ja, diese Lebensweisheit mag ihren Wahrheitsgehalt haben, doch hin und wieder zweifelte ich daran. Und insbesondere bei Elternabenden.

Klar, die haben wir alle schon mitgemacht. Oder besser durchgemacht. Der Übergang ist irgendwie fließend.

Normalerweise ging ich ganz entspannt ins Klassenzimmer, setzte mich zu den anderen und hörte mir an, was es dieses Jahr wieder so gab. Insgeheim hoffte ich, dass der Abend nicht durch ach so wichtige Nachfragen in die Länge gezogen wurde und nach einem kurzen Plausch mit den anderen Eltern machte ich mich schnell wieder auf den Heimweg. Wie alle anderen auch!

Doch diesmal war das anders.

Ich betreute an unserer Grundschule die Kinder nach dem Unterricht und gehörte damit jetzt offiziell zu den ANDEREN. Deshalb saß ich jetzt unruhig an unserem Esszimmertisch, meine Kinder spielten friedlich in ihren Zimmern und vor mir lag der leere Block. Und meine persönliche Herausforderung an diesem Tag war der bevorstehende Elternabend der Mittags- und Nachmittagsbetreuung.

Diesmal würde ich mich nicht bequem zurücklehnen können, sondern musste selbst was sagen! Ob ich wollte oder nicht.

Doch wie würden die Eltern reagieren, wenn mir nicht viel mehr gelang, als meinen Namen zu stammeln?

Am besten fing ich ganz einfach an.

»Liebe Eltern«, hörte ich mich sagen. Oder hieß es »Miteltern«? Oder vielleicht »Gäste«? Am ehrlichsten wäre vermutlich »Leidensgenossen«.

»Viele kennen mich ja, für die anderen stelle ich mich kurz vor …« Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber. »Normalerweise sitze ich ja bei euch, heute allerdings …«

Mist. Je länger ich darüber nachdachte, desto sinnloser kamen mir meine eigenen Worte vor. »Ich mache die Betreuung seit bla, es sind täglich circa bla, bla, bla Kinder …« Das ist alles so, so langweilig!

Also. Was könnte ich den Eltern über die Betreuung ihrer Kinder erzählen?

Ich brauchte etwas anderes. Eine Vorstellungsrunde. Genau, das machte Spaß, jeder sagte etwas, man bekam schon mal ein paar Minuten rum und die Anspannung schwand. Und schwupps waren auch schon die Kolleginnen der Nachmittagsbetreuung dran. Genau so würde ich es machen.

Doch als mir einfiel, dass der Rektor heute Abend vor mir an der Reihe war, war die Idee schon geplatzt. Sicher machte er die Vorstellungsrunde. Er war ja nicht blöd und wusste, wie man Zeit schindet.

Hmmm.

Ich trommelte mit meinen Fingern auf dem Papier herum, bis so etwas wie eine Melodie herauskam.

Was sollte ich nur sagen?

Basteln ist gut. Ausleben der kindlichen Kreativität. Das machten wir oft mit den Kindern. Basteln ging immer.

»Die Handarbeit dient der Förderung der Feinmotorik und der gestalterischen Grundkompetenzen …«

Vor meinem inneren Auge sah ich, wie ich mich verzweifelt über einen Tisch streckte, um zu verhindern, dass der Wasserbecher umfiel. Horrorszenarien flackerten vor mir auf, fleckige Kleider, verstreute Bügelperlen, die man mit verklebten Fingern zurück in die Schachtel fummeln musste. Zwanzig kleine Gesichter waren auf mich gerichtet und beobachteten jede Bewegung.

Vielleicht sollte ich das Basteln lieber erst später bringen.

Der Block sah mich vorwurfsvoll an. Seine leeren Kästchen wirkten trostlos.

Ich schrieb: »Anwesenheitsliste.«

So. Ein Anfang war gemacht.

»Liebe Eltern, am Anfang jeder Betreuung steht die Anwesenheitsliste.«

Ich sah mich, wie ich souverän Häkchen für Häkchen setzte, alle Kinder brav und adrett vor mir. Ja, so sollte es sein.

Doch die Realität war ein Pulk von hinausstürmenden Kindern, die ihren Bus erreichen wollten und unter denen man nach jenen suchte, die leider wieder einmal vergessen hatten, dass sie noch bleiben mussten.

Oder der Sitzkreis. Das passt schon besser. Schnell schrieb ich es auf, um dann wieder ins Stocken zu geraten. Was konnte ich dazu großartig erzählen?


»Wir setzen uns zu Beginn in einen Kreis, sodass ich kontrollieren kann, ob alle Kinder da sind.« Vor meinem inneren Auge sah ich die verschiedensten Variationen eines Kreises. Es gab ovale Kreise, mancher war auch ein bisschen rechteckig, andere wiederum formvollendet rund. Sitzkreis heißen sie alle. »Also in irgendeine geometrische Figur. Kann mal ein Ei sein oder auch eine Acht. Dann besprechen wir, was heute gemacht wird … vielleicht gehen wir auf den Ritterspielplatz, um …«

… die Fahrradfahrer zu erschrecken? Das hatte schon was.

»Äh, um den Kindern Gelegenheit zu geben, sich dem Freispiel zu widmen. Das alles ist natürlich klaren Regeln unterworfen …«

All die Ritter und Prinzessinnen hatten völlig unterschiedliche Auffassungen darüber, wie man »richtig« Burg spielt. Dabei hatte ich wohl eher die Rolle des Drachen - das mit dem Feuerspucken bekam ich mithilfe von Tabasco vielleicht noch gerade so hin …

Ich schielte auf meinen Spickzettel. Nein, da stand noch immer nicht mehr drauf. Leider.

»Die Abholung der Erstklässler …«

Ja, das war ein Thema. Für Erwachsene war so etwas ja einfach. Man ging in ein Gebäude, verschaffte sich einen Überblick und suchte dann mithilfe von Schildern und Türnummern den Weg. Doch so ein kleiner Fratz von etwa eins zwanzig Körpergröße hatte da wohl eine ganz andere Sicht auf die Dinge. Nicht nur, dass die Türen knapp doppelt so groß waren wie er, überall sprangen auch noch andere Kinder herum, große Kinder, die wie die Wahnsinnigen zum Bus rannten. Dass es ein Abenteuer sein konnte, sich in so einem großen Gebäude ganz allein zurechtzufinden, das war für uns Erwachsene natürlich kaum vorstellbar. Für die Kinder war es einfach nur Realität. Nicht ohne Stolz notierte ich mir den Begriff »Selbstständigkeit«.

Nur dass ich mich gerade ganz anders fühlte, hilflos. Vielleicht konnte ich mir in diesem Punkt noch etwas von den ABC-Schützen abschauen?

»Konflikte«, schoss es mir durch den Kopf. Jawohl, Konflikte lösen, das war auch ein guter Punkt.

Ein guter Teil meiner Betreuungsarbeit lag darin, einen guten Umgangston für alle zu finden und die zahllosen Probleme zu bewältigen. Das schrieb sich leicht, war aber doch immer eine kleine Herausforderung. Mal war es der Kickerball, dann das unfair verlorene Spiel oder der Strich auf der Zeichnung, den ein anderer gemacht hatte. Probleme, so ähnlich wie in der UN-Vollversammlung, nur eben etwas kleiner.

Aber Erziehung, das geht nicht über Nacht, und sagt nicht ein afrikanisches Sprichwort: »Für die Erziehung eines Kindes braucht es ein ganzes Dorf«? Oder eben die Pädagogen.

Was noch?

»Sternenliste und Motivation«, schrieb ich aufs Papier.

Genau, denn wer beteiligte sich schon gern am Aufräumen? Aber Ordnung musste sein und war ganz nebenbei auch ein wichtiges pädagogisches Ziel. Wenn das bei meinem Mann nur auch funktionierte. Der war leider völlig immun gegen Sternenlisten und Ordnungsdisziplin. Vielleicht sollte ich ihn mit Gummibärchen belohnen? Oder doch lieber mit Fußball und Bier?

Ich schweifte ab …

Etwas fehlte noch bei meinen Notizen. Etwas, das mir wichtig war. Nur, dass ich nicht drauf kam.

Mein Blick wanderte über unser Bücherregal. Während ich die Buchrücken überflog, ärgerte ich mich über mich selbst: »Jetzt mach mal vorwärts, die Kleinen möchten noch vorgelesen bekommen.«

Genau das war es: das Vorlesen.

Es gab kaum etwas, mit dem man die Kinder so begeistern konnte wie mit dem Vorlesen. Es war so ein schönes Gefühl, wenn man die Kleinen im Kreis versammelt hatte – oder in einer Art rundem Dreieck? –, das Buch auf den Knien lag und man vor den staunenden Augen den Titel der Geschichte vorlas.

Das Vorlesen war etwas ganz Besonderes, sowohl für die Kinder als auch für mich. Nicht etwa, weil es da um Buchstaben und Wörter ging. Oder um das Rezitieren. Sondern weil man in den gespannten Gesichtern der kleinen Zuhörer genau beobachten konnte, wie die Geschichten lebendig wurden. Nicht selten kamen Wortmeldungen, die bezeugten, wie die Kinder die Geschichten miterlebten. Wie zum Beispiel bei der Hexe mit dem nervigen Bruder: »Mein Bruder nervt auch immer so«, oder: »Der Goldschatz ist aber mehr als zehn Euro wert, oder?«

Gerade deshalb war das Vorlesen mein kleiner Höhepunkt des Tages. Mit diesen schönen Erinnerungen beendete ich meine Arbeit am Spickzettel.

Ein Blick auf die Uhr genügte, um mich zu beunruhigen. Glücklicherweise kam mein Mann nach Hause und übernahm das Vorlesen. Schnell noch ein Gutenachtkuss für die Kinder, schon musste ich los.

Es dauerte nicht lange, bis ich vor der Schule parkte.

Die Ersten, die ich auf dem Schulhof traf, waren die »Raucher«. Wir unterhielten uns, alle waren entspannt. Natürlich wurde auch geschimpft.

»Wie lange das wohl wieder dauert?«

Ich lachte, sagte aber nicht, dass das möglicherweise auch von mir abhing. Wenn ich ins Stottern kam, dann konnte es schon ein bisschen länger werden. Nun ja, wir würden sehen …

Ich ertappte mich dabei, dass ich, ganz anders als sonst, noch draußen blieb, obwohl ich gar nicht rauche.

Die Zeiger rückten unweigerlich vorwärts.

Beim Hineingehen sah ich unseren Rektor mit seiner Gitarre. Ob er uns zum Mitsingen auffordern würde? Klar machte das den Kindern Spaß und ohne singenden Rektor wäre unsere Schule nicht dieselbe. Aber die Eltern, heute Abend? Und die Kolleginnen aus der Nachmittagsbetreuung? Ich war schon auf die Gesichter gespannt.

Vielleicht gab es auch einen Allgemeinwissenstest? Nach dem Motto: »Das hätte Ihr Kind gewusst!« Alles war möglich an so einem Abend. Sogar, dass ich die Seiten wechselte. Doch es war alles halb so schlimm, schließlich war ich gut vorbereitet: Ich hatte meinen Spickzettel. Juhu! Und was für einen! Damit konnte gar nichts mehr schiefgehen.

Nachdem der Rektor selbstverständlich die Vorstellungsrunde zum Zeitschinden genutzt hatte, war ich an der Reihe. Es war ein bisschen unangenehm, als sich alle Augen auf mich richteten.

Vorne angekommen räusperte ich mich, schlug meinen Block auf – und gleich wieder zu.

Ich hatte das Blatt mit den Notizen auf dem Tisch liegen lassen.

Meine einzige Waffe lag zu Hause.

Schlachtfeld Elternabend

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