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RABENMUTTER

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»Ist dir eigentlich schon aufgefallen, wie Paul den Füller hält?«, rief mir meine Schwägerin aus der Küche zu.

Ich war im Bad und wickelte meine Tochter. Jedenfalls versuchte ich das. Sie strampelte so wild, dass man den Eindruck bekam, sie hätte sechs Beine. Mindestens. Als ich endlich fertig war, wurde mir mit einem Schlag klar, wo der Ausdruck »schiefgewickelt« herkam.

»Wie bitte?«, keuchte ich atemlos, schnappte mir das sechsbeinige Strampeltier und ging in die Küche zurück.

»Na, den Füller.« Sie saß neben Paul am Küchentisch und zeigte auf die Hand meines Sohnes. »Er hält ihn total falsch.«

Paul warf mir einen flehenden Blick zu. Ich sah seine füllerhaltende Hand an und dann das Heft, in das er seine Hausaufgabe schrieb. Im ersten Moment fand ich eigentlich, dass das alles ganz gut aussah. Okay, ein Sternchen für Schönschrift bekäme er vielleicht nicht, aber leserlich sahen die drei Zeilen, die er geschrieben hatte, schon aus.

»Ich würde sowieso viel lieber mit Kugelschreiber schreiben«, maulte Paul.

Meine Schwägerin schüttelte energisch den Kopf. »In der Grundschule wird mit Füller geschrieben. Punkt. Das kündige ich immer gleich beim ersten Elternabend der ersten Klassen an. Eure Lehrer doch auch, oder?« Bei der Frage wandte sie ihren Blick von Paul zu mir.

Meine Schwägerin ist Grundschullehrerin. Zum Glück nicht an Pauls Schule. Ich hatte keine Ahnung, wie das dort mit dem Füller gehandhabt wurde. Der erste Elternabend war ja immerhin schon vier Jahre her.

»Bestimmt«, sagte ich vorsichtshalber.

Mein Sohn schlug sein Heft zu und wollte aufstehen, als meine Schwägerin ihn am Arm festhielt.

»Halt. Du hast einen Fehler gemacht. Wie schreibt man ›Anorakkapuze?‹«

Paul klappte sein Heft wieder auf. »So wohl nicht«, murmelte er.

Entschlossen strich sie das Wort durch, drückte meinem Sohn den Füller in die Hand und bog ihm die Finger zurecht.

»Da gehören zwei K hin. Anorak endet mit einem K und Kapuze fängt mit einem an.«

Während Paul das Wort korrigierte, sah mich meine Schwägerin vorwurfsvoll an. »Machst du denn keine Hausaufgaben mit ihm?«

»Ähem«, stammelte ich, »eigentlich nicht. Nur wenn er mich darum bittet. Also, wenn er etwas nicht versteht, oder so«, fügte ich etwas lahm hinzu.

»Als Lehrerin rate ich meinen Eltern immer wieder, ihre Kinder bei den Hausaufgaben zu begleiten. Eine ordentliche Unterstützung …«

Glücklicherweise krabbelte meine Tochter genau in diesem Moment gegen das Tischbein und fing an zu heulen. Meine Schwägerin verstummte. Paul schmiss den Füller in sein Mäppchen und verzog sich mit erleichterter Miene in sein Zimmer.

Als meine Tochter mit dem Weinen aufgehört hatte, führte meine Schwägerin ihren belehrenden Vortrag augenblicklich fort: »Erst beim letzten Elternabend musste ich meine Eltern zum wiederholten Male daran erinnern, dass …«

Diesmal rettete mich das Telefon.

»Hallo«, tönte eine hohe Stimme aus dem Apparat, »hier spricht Hannah. Ist Paul da? Ich wollte fragen, was wir heute aufhaben. Ich bin nämlich krank«, schniefte sie zur Erklärung dazu.

»Paul«, rief ich die Treppe hoch, »Telefon!«

»Ich bin auf Klo«, brüllte er die Treppe herunter.

»Paul kann gerade nicht«, sagte ich in den Hörer, »ich gucke mal, ob ich sein Hausaufgabenheft finde.«

Pauls Ranzen stand noch am Tisch. Darin fand ich alles Mögliche: Kaugummipapier, ein halbes Käsebrötchen, zerbröckelte Radiergummiteile, ein Stück Lineal, Hefte, ein Pfund Anspitzspäne und ein Buch. Aber kein Hausaufgabenheft.

»Es tut mir leid, Hannah, ich …«

Paul stürmte in die Küche und riss mir den Hörer aus der Hand.

»Hi«, sagte er und lauschte. Im nächsten Moment schoss es wie eine Pistole aus seinem Mund: »Mathe, Seite 24, Aufgaben 1a und b. C nur, wenn du Lust hast. Deutsch, Seite 54, Nummer 2. Und für nächste Woche noch Bio. Seite 43 bis 46 lesen.«

Er legte auf und verschwand.

»Ich muss auch los«, kündigte meine Schwägerin an, umarmte mich, rümpfte die Nase über Pauls Schulranzen und verschwand ebenfalls.


Ich stand am Küchentisch und starrte auf Pauls Deutschheft. Dann schlug ich es auf und blätterte darin. Sollte ich mich vielleicht doch öfter mit ihm hinsetzen? Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern und legte das Heft weg. Meine Schwägerin hatte den Samen des schlechten Gewissens gesät. Hatte ich bei den Elternabenden nicht richtig zugehört? Was hatte denn Pauls Lehrer zu diesen Themen gesagt? Und wann war ich eigentlich das letzte Mal bei einer Elternversammlung gewesen?

Mit diesen Gedanken im Kopf machte ich mich auf den Weg zum Einkaufen. Und wie das manchmal so ist im Leben, sollte das Thema an diesem Tag damit noch lange nicht abgehakt sein. Im Supermarkt traf ich nämlich Hannahs Mutter.

Nach ein paar freundlichen Worten zur Begrüßung sagte sie: »Wie läuft es eigentlich bei Paul in Mathe?«

»Mathe? Ganz gut, glaube ich.«

»Kommt denn Paul mit der neuen Lehrerin zurecht?«, wollte sie wissen.

Neue Lehrerin? Was für eine neue Lehrerin?

»Frau Simon, die Vertretungslehrerin für die Meyer«, fügte Hannahs Mutter zum Glück sofort hinzu.

Ich nickte und tat so, als wüsste ich, wovon sie redete.

»Ach so, natürlich. Ich denke schon, dass er mit ihr klarkommt. Er hat nichts Negatives berichtet.« Eigentlich hatte Paul gar nichts berichtet. Er hatte die Lehrerin noch nie erwähnt.

»Meine Hannah meint, die Simon sei uralt und ein richtiger Drachen und würde ständig herumschreien«, regte Hannahs Mutter sich auf. »Dabei sollte die Meyer doch nur vier Wochen fehlen. Und nicht vier Monate! So lange kann man doch gar nicht brauchen, um sich von so einer OP zu erholen, oder?«

»I-ich weiß auch nicht«, stotterte ich. Was für eine OP denn eigentlich? Und warum erzählte mir mein Sohn verdammt noch mal nichts davon? Oder fragte ich ihn vielleicht zu wenig?

Hannahs Mutter redete sich derweil in Rage. Während wir zwischen Nudeln und Brotaufstrichen anderen Leuten im Weg standen, klagte sie lauthals: »Erinnerst du dich denn nicht? Beim Elternabend hat Herr Schmidt doch ausdrücklich betont, dass Frau Meyer nicht länger fehlen würde als einen Monat, denn schließlich sind ständige Lehrerwechsel nicht gut.«

Ich nickte. Das konnte man wohl sagen. Hannahs Mutter hatte rote Flecken im Gesicht und einen ganz verzerrten Mund. Sie sah wirklich nicht gut aus. Ich schüttelte mitfühlend meinen Kopf. Sie blickte mich erwartungsvoll an.

»Ich war leider nicht da beim letzten Elternabend«, sagte ich leise. Ich konnte nicht länger so tun, als wüsste ich, wovon sie sprach.

»Oh«, hauchte sie und guckte mich mit großen Augen an.

»Ja«, murmelte ich und zeigte auf mein Kind, das erstaunlich lieb und geduldig im Einkaufswagen saß und ein Brötchen zerkrümelte. »Meine Tochter war krank und mein Mann musste so lange arbeiten und …«

Hannahs Mutter musterte mich mit zusammengekniffenen Augen und erwiderte mit spitzer Stimme: »Kann ja schon mal vorkommen, dass etwas dazwischenkommt …«

Ich seufzte innerlich. Das klang so anklagend.

»Wir sollten mal Leons Papa vorschicken«, sagte sie nach einer kurzen, aber peinlichen Stille.

Okay, das verstand ich jetzt wieder nicht. Also lächelte ich verschwörerisch. Vielleicht lächelte ich auch nur dämlich, denn sie fügte hinzu: »Leons Papa ist doch unser Elternvertreter. Der könnte doch mal mit dem Direktor reden. Aber eigentlich ist der genau wie sein Sohn. Leons Papa, meine ich, nicht der Direktor. Wenn du weißt, was ich meine.« Sie wackelte mit ihren Augenbrauen und säuselte leise: »Dumm wie Brot. Aber ich habe den sowieso nicht gewählt. Du etwa?«

»Ich war doch nicht beim Elternabend«, erinnerte ich sie.

»Die Wahl fand am vorletzten Elternabend statt«, erwiderte Hannahs Mutter. Jetzt nahm ihre Stimme diesen Tonfall an, den manche Menschen benutzen, wenn sie mit Babys reden.


Hilfe. Da war ich anscheinend auch nicht gewesen. Oder hatte ich das einfach nur vergessen? Mit einem Mal fiel es mir ein: Die Geburt meiner Tochter war damals dazwischengekommen. Aber das traute ich mich jetzt nicht mehr zu sagen. So langsam wuchs nämlich das frisch gesäte schlechte Gewissen zu einer riesigen Rankenpflanze an. Eine Rabenmutter bist du, schalt ich mich still. Ich musste mich unbedingt mehr um das Schulleben meines Sohnes kümmern. Augenblicklich! Und sei es nur, um die Supermarktgespräche mit anderen Eltern zu meistern. Ich straffte meine Schultern. Wann war eigentlich der nächste Elternabend?

»Ich habe jetzt einen Termin mit Herrn Schmidt zum Elterngespräch gemacht«, quasselte Hannahs Mutter weiter.

Ich nickte strahlend. Gute Idee. Herrn Schmidt kannte ich. Den hatte ich schon mal gesehen. Das war Pauls Klassenlehrer. »Ja, das mache ich auch«, posaunte ich fröhlich.

Das war doch ein Anfang.

Ich war jetzt eine andere Mutter. Eine enthusiastische Grundschulmutter. Beim Mittagessen am nächsten Tag fragte ich Paul: »Und? Wie wars in der Schule?«

»Wie immer«, nuschelte er mit dem Mund voller Nudeln.

»Habt ihr Hausaufgaben auf?«

»Ja.«

Die Worte meiner Schwägerin hingen mir immer noch in den Ohren. »Ich kann dir gern helfen, wenn du magst.«

Paul schüttelte seinen Kopf.

»Was ist denn jetzt mit dieser Füllersache? Gibt es da ein Problem?«

»Nö.«

»Wie ist eigentlich diese neue Mathevertretungslehrerin? Kommst du klar?«

Paul nickte. »Klar.«

»Kannst du auch Mehr-Wort-Sätze sprechen?«

»Manchmal.«

»Wo ist eigentlich dein Hausaufgabenheft?«

Schulterzucken.

Paul war wirklich keine große Hilfe, wenn es darum ging, mich intensiver, unterstützender und mütterlicher in sein Schulleben einzubringen. Ich setzte mich an den Computer und öffnete die Homepage von Pauls Schule. Sicherlich standen dort die Termine. Mein Wunsch, einen Elternabend zu besuchen, wurde nämlich von Minute zu Minute größer. Ich stöberte stundenlang auf der Homepage herum und kannte am Ende alle Daten der Schulfeste und Sportveranstaltungen, lernte die Namen aller Lehrer auswendig, wusste plötzlich, dass es einen Förderverein gab und studierte Tausende Fotos mit Tausenden Kindern. Allerdings fand ich keine Termine für Elternabende oder -sprechtage. Daher studierte ich Pauls Stundenplan. Perfekt. Am nächsten Tag hatte Paul die letzte Stunde bei Herrn Schmidt. Da würde ich einfach mal vorbeischauen, ein Wort mit seinem Klassenlehrer wechseln und einen Termin für das Elterngespräch machen.

Zufrieden ging ich zu Bett. Ich war endlich die engagierte Mutter eines Grundschulkindes. Eigentlich fehlte nur noch ein Elternabend zu meinem Glück. Das war mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen.

Als ich am nächsten Tag das Schulgebäude betrat, wucherte das schlechte Gewissen erneut. In welchem Raum befand sich eigentlich Pauls Klassenzimmer? Bestimmt waren sie mit dem neuen Schuljahr umgezogen. Ratlos stand ich in der Vorhalle. Glücklicherweise kam gerade eine Schülerin aus der Toilette und konnte mir den Weg zur 4c weisen.

Es klingelte schon und die ersten Kinder kamen aus der Tür, also betrat ich den Klassenraum. Paul sah mich zuerst erschrocken und dann verschämt an, blieb kurz neben mir stehen, um sich dann mit einem kurzen »Hallo« an mir vorbeizuschlängeln.

Mit sicherem Schritt ging ich auf den Lehrer zu. »Guten Tag, Herr Schmidt«, sagte ich und reichte ihm die Hand.

»Guten Tag, Frau …?«

»Frau Müller«, half ich ihm auf die Sprünge, »Pauls Mutter.«

»Ach, natürlich«, rief Herr Schmidt. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja, ich wollte einmal fragen, ob wir einen Termin für ein Elterngespräch machen können.«

»Haben Sie denn konkrete Fragen? Ich kann Ihnen nämlich gleich versichern, dass ich von meiner Seite zufrieden mit Paul bin.«

Stolz nickte ich dem Klassenlehrer zu. »Ja, nein«, entgegnete ich. »Konkret vielleicht nicht. Eigentlich wollte ich Sie auch nur fragen, ob Ihnen das mit dem Füller schon aufgefallen ist. Er hält ihn nämlich nicht korrekt«, wiederholte ich die Worte meiner Schwägerin, »und schreibt leider auch nicht so ordentlich …«

Herr Schmidt winkte ab. »Der Paul hat mich schon darauf angesprochen. Ich habe ihm heute einmal genau auf die Finger geschaut«, erwiderte Herr Schmidt lachend, »und finde, sein Schriftbild ist ganz in Ordnung. Ich mache mir da keine Sorgen. Haben Sie sonst noch ein Anliegen?«

Noch ein bisschen stolzer auf meinen Sohn fuhr ich fort: »Na ja, ich wollte einfach einmal hören, ob alles läuft. Wissen Sie, ich war ja leider auch nicht beim letzten Elternabend dabei« - eigentlich die letzten zwei, aber das wollte ich jetzt nicht noch betonen - »und deswegen möchte ich …«

»Wir können gern einen Termin machen«, unterbrach mich Herr Schmidt. »Aber, wie gesagt, Paul ist ein guter Schüler.«

Ich nickte und bedankte mich. »Dann komme ich einfach zum nächsten Elternabend. Ganz bestimmt.« Ich war fest entschlossen.

»Ich würde mich freuen«, verabschiedete er sich höflich.

Schon fühlte ich mich viel besser. Ich hatte mit dem Klassenlehrer meines Sohnes gesprochen. Beim nächsten Elternabend würde ich dabei sein. Schließlich wusste ich jetzt sogar schon, in welchem Raum er stattfinden würde. Jawohl! Komme, was wolle!

»Und übrigens«, rief mir Herr Schmidt noch hinterher, »wenn wirklich einmal irgendwas ist, dann garantiere ich Ihnen, dass ich Ihnen eine Notiz in Pauls Hausaufgabenheft schreibe.«

Na, das kann er ja mal versuchen.

Schlachtfeld Elternabend

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