Читать книгу Love or Lie - Bianca Wege - Страница 7
1. Kapitel
Оглавление»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.
Totalkatastrophe.«
- Eyla, 25
Heute ist nicht mein Tag. Ganz und gar nicht.
»Cassie!«, schreie ich, allmählich wirklich aufgebracht. Wieso nur habe ausgerechnet ich als ewige Zuspätkommerin eine Mitbewohnerin, die unter dem Ewig-Dusch-Syndrom leidet?
»Ich muss zur Arbeit, bitte!« Ich verlege mich aufs Flehen, während ich die Knöpfe meiner weißen Bluse über dem Spitzen-BH zuknöpfe. Ich habe bereits eine Verwarnung, weil ich einmal die Bahn verpasst habe, und ich kann mit Sicherheit nicht noch eine gebrauchen, nur weil ich dank meiner Mitbewohnerin nicht auf die Toilette kann. Ich spiele mit dem Gedanken, die Tür aufzubrechen, lasse es dann aber bleiben und sehe verzweifelt auf meine Armbanduhr. Dann muss es eben anders gehen. Mein Weg zur Redaktion des Leighton Modemagazins besteht aus insgesamt zehn Minuten Fußweg und zwanzig Minuten U-Bahn-Fahrt. Letztere werde ich ziemlich sicher verpassen. Dennoch bin ich mir nicht zu schade dafür, dem Ganzen eine Chance zu geben, reiße meine Jacke vom Haken, packe meine Tasche und sprinte zur Tür hinaus.
»Hallo, Mrs. Fieldman!«, rufe ich im Treppenhaus unserer Nachbarin zu, die Cassie und mich manchmal zum Essen einlädt, wenn sie ihre Enkel vermisst.
»Guten Morgen, Liebes, wieder zu spät dran?«, kommt die Antwort, und die alte Dame schenkt mir ein verschmitztes Lächeln.
»Leider ja!« Zerknirscht hetze ich weiter. Das Wetter draußen ist bewölkt, und wäre ich nicht so gestresst, wäre mir vermutlich ziemlich kalt. Es beschreibt jedenfalls nahezu perfekt meine triste Stimmung. Nur noch ein paar Minuten rennen – drei Minuten, um genau zu sein … ich sehe auf meine Uhr … vielleicht schaffe ich es in zwei … und dann könnte ich auch eventuell die Bahn noch schaffen … wenn sie ein paar Minuten Verspätung hat … ach, zur Hölle! Die Häuser verschwimmen bereits vor meinen Augen, als ich kaum zweihundert Meter weiter erschöpft an einer Laterne haltmachen muss. Immer ist es dasselbe. Und dabei habe ich meiner Schwester versprochen, mich zusammenzureißen, sobald ich studiere. Das ist ein Jahr her, und es hat sich nichts verändert, obwohl ich mich anfangs wirklich angestrengt habe. Ich stöhne auf und renne weiter. Es ist ein sinnloses Unterfangen, mit voller Blase die Bahn erwischen zu wollen. Aber ebenso sinnlos ist es, in der Wohnung die Zeit noch weiter verstreichen zu lassen. Doch irgendjemand scheint es gut mit mir zu meinen und die Bahn ist tatsächlich noch da, als ich auf den Bahnsteig sprinte und einsteige. Der Schweiß rinnt mir von der Stirn, ich muss krebsrot im Gesicht sein. Einige der anderen Fahrgäste mustern mich neugierig, doch ich ignoriere die Blicke geflissentlich und lasse mich auf den nächstbesten freien Sitzplatz plumpsen. Jetzt bin ich auch noch völlig verschwitzt. Während sich mein Atem langsam beruhigt, hole ich mein Handy aus der Jackentasche und bemerke eine Nachricht meiner Schwester.
Bist du rechtzeitig aufgestanden? Schaffst du die erste Bahn?
Keine fünf Minuten später eine weitere.
Also nicht. Soll ich anrufen?
Ich grinse in mich hinein. Merve als Wecker zu engagieren ist keine schlechte Idee. Denn diese acht Minuten Schlummern, die ich mir jedes Mal aufs Neue herausnehme, sind einfach genau die paar Minuten, die den Unterschied zwischen Stress und Gemütlichkeit ausmachen. Den Unterschied zwischen der früheren oder der späteren Bahn. Zur Antwort schicke ich den Affen-Emoji, der sich die Augen zuhält, ehe ich das Handy wieder einstecke. Ich sehe zu, wie es draußen zu nieseln beginnt, und bin froh, dass ich es zuvor noch in die Bahn geschafft habe. Der Herbst hat langsam seinen Höhepunkt erreicht und die Bäume in den Parks und Straßen tauchen New York in ein Meer aus Orange und Gelb. Dieser Anblick erinnert mich immer ein bisschen an Abschied nehmen. Wo andere die wunderschönen Farben sehen, sehe ich das nahende Ende.
Ich haste die letzten Meter zum Gebäude des Leighton Magazines, das sich durch seine ungewöhnliche organische Form von den rechteckigen Glasklötzen auf der Straße abhebt. Innerhalb dieses Wolkenkratzers befinden sich alle Redaktionen der Leighton-Gruppe, auch das Modemagazin Skyscraper, für das ich seit zwei Jahren arbeite. Der Nieselregen hat sich beruhigt und ist nur noch als leichter Nebelhauch auf der Haut zu spüren. Meine Blase ist gefühlt kurz vor dem Platzen und ich bete inständig, sie möge sich nicht hier und jetzt entleeren. Innerlich schreiend stolpere ich die Stufen zur Eingangstür hinauf und verschütte dabei eine geraume Menge des frisch erworbenen Caffè Latte über mich, den ich für meine Chefin besorgen sollte. So ein Mist! Ich spüre die heiße Flüssigkeit zwischen meinen Brüsten hinabrinnen und verfluche mich. Das darf doch nicht wahr sein. Heute geht wirklich alles schief, was schiefgehen kann. Ich muss irgendetwas Furchtbares getan haben, womit es mir die Göttin Karma nun heimzahlen will. Nach dem Ausmaß meines Peches zu urteilen, habe ich jemanden auf dem Gewissen. Während ich überlege, wen ich versehentlich ermordet haben könnte, schlürfe ich den Rest des Getränks aus und versenke den leeren Becher mit einem gekonnten Wurf in einem der Mülleimer. Ein kleines Grinsen schleicht sich dabei auf mein Gesicht. Dann wird es für Mrs. Chain eben keinen Kaffee geben. Vielleicht ist genau dieses böse Denken verantwortlich für deine Probleme, schießt es mir durch den Kopf, und mein Grinsen erstirbt.
Mit gerümpfter Nase betrachte ich den braunen Fleck auf meiner weißen Bluse und seufze resigniert. Da muss ich jetzt durch. Die Damentoilette liegt im linken Flügel des Erdgeschosses, und ich staune nicht schlecht, als ich im Foyer eine lange Schlange in Schale geworfener junger Frauen entdecke. Sie wirken, als wären sie Gäste eines Galaabends, und ich durchforste mein Gehirn. Habe ich irgendein nennenswertes Event vergessen? Aber es ist erst kurz nach acht … Ich hebe eine Augenbraue und quetsche mich an einigen von ihnen vorbei nach links, wo ich anschließend schleunigst in den Toilettenraum verschwinde.
Nachdem ich endlich wieder durchatmen kann, stehe ich vor dem Waschbecken. Das Unglück meines Kaffeeunfalls ist größer, als ich zunächst gedacht habe. Ich versuche mit etwas Wasser den Fleck notdürftig zu entfernen, was mir jedoch gänzlich misslingt. Stattdessen wird meine Bluse immer durchsichtiger, und schließlich gebe ich auf. Die kann ich definitiv nicht mehr retten. Aber immerhin weiß meine Chefin so auch gleich, wo ihr Kaffee abgeblieben ist, und ich muss keine unnötigen Fragen beantworten. Vielleicht knöpfe ich aber auch die Jacke für den Rest des Tages bis obenhin zu. Mit einem Blick auf die Uhr mache ich mich auf den Weg. Als ich endlich vor dem Büro stehe, bin ich bereits dreizehn Minuten zu spät, und mein Herz rutscht mir in die Hose. Ich versuche so unauffällig hineinzuschleichen wie möglich, aber Mrs. Dean, unsere Sekretärin, fängt mich bereits bei der Garderobe ab.
»Sie sollten so schnell wie möglich in Mrs. Chains Büro kommen …« Sie sieht mich missbilligend über den Rand ihrer Prada-Brille an. »Sie ist nicht besonders gut gelaunt.«
»Oje, danke für die Warnung.« Ich weiß, dass ich in diesem Fall absolut keine Chance mehr habe, meine Verspätung in irgendeiner Weise zu vertuschen. Mit zitternden Fingern und weichen Knien laufe ich zum Büro meiner Chefin und klopfe an die Tür. Ein äußerst mulmiges Gefühl überkommt mich. Mein Mund ist ganz trocken, als das ungehaltene »Herein« erklingt und ich mit wackeligen Schritten den mit blauem Teppich ausgelegten Raum betrete. In der Mitte steht ein großer Glastisch, um den mehrere Stühle gestellt sind. Auf einem davon sitzt meine beste Freundin Amber. Auf den anderen weitere Arbeitskollegen. Mrs. Chain hat an der Ecke Platz genommen und bedeutet mir nun, mich auf den einzig freien Stuhl zu setzen. Dass ich meine Jacke noch trage, würdigt sie keines Blickes.
»Schön, dass Sie uns auch endlich beehren, Miss Morgan.« Ihre Stimme ist so kühl wie das Oktoberwetter vor dem Fenster.
»Entschuldigen Sie bitte.« Kleinlaut lasse ich mich neben Amber sinken, die mir ein aufmunterndes Lächeln schenkt. Wenn ich bis eben gedacht habe, dass dies der schlimmste Teil der Besprechung sei, so habe ich mich geirrt. Das Fiasko beginnt erst, als Mrs. Chain ihre Hände faltet und sich auf dem Stuhl kerzengerade aufrichtet.
»Wie Sie alle sicher mitbekommen haben, müssen wir einige Stellen kürzen.«
Gänsehaut überzieht meine Arme, kaum dass sie das ausgesprochen hat, und ein eiskalter Schauer rinnt meine Wirbelsäule hinab. Denn mit diesen wenigen Worten macht sie mir bewusst, dass ich verloren bin. Dass ich es hier nicht lebend herausschaffen werde. Dass es ganz egal gewesen wäre, ob ich heute pünktlich gekommen wäre, denn die Entscheidung, mich rauszuwerfen, stand ohnehin schon fest. Die Ersten, die geschmissen werden, sind immer die Werkstudenten. Mein Herz pocht so sehr, dass ich Angst habe, es könnte mir jeden Augenblick aus der Brust springen. Mit diesen wenigen Worten ist nicht nur mein Job Geschichte, sondern viel, viel mehr. Wie soll ich denn nun in der Lage sein, meine Schwester zu unterstützen? Wie soll das gehen? Ohne Job bin ich machtlos! Ich habe Pläne geschmiedet, wie ich meiner Mutter mit genügend Überstunden entgegenkommen und auch einen Teil vorstrecken könnte … wie ich vielleicht Merves Anzahlung mitfinanzieren könnte. Und jetzt ist alles dahin. Als mein Name fällt, kann ich meiner Chefin nicht einmal mehr in die Augen sehen. Ich weiß, dass es nicht ihre Schuld ist, dass die Einnahmen momentan nicht glänzend sind, und ich weiß auch, dass sie es nicht gern tut, dennoch ist sie diejenige, die mir meine einzige Hoffnung raubt. Meine Schwester wird ihre Behandlung nicht beginnen können – wegen mir! Die Zeit vergeht zäh, Sekunden kommen mir vor wie eine Ewigkeit, und als es endlich vorbei ist, weiß ich nicht, was ich sagen soll.
Ich streiche mir eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und stehe langsam auf. Meine Knie drohen nachzugeben, doch ich reiße mich am Riemen. Schließlich nicke ich in die Runde der betretenen Gesichter und verlasse ohne ein weiteres Wort das Büro. Ich muss mir diese peinlichen Momente der letzten Freundlichkeiten nicht auch noch antun. Dieser Tag ist mein Untergang.
»Tschüss, Mrs. Dean. Es hat mich sehr gefreut.« Ich packe meine Tasche fester und stapfe mit bebenden Lippen aus der Redaktion, die mir während der vergangenen Jahre zu einem echten Zufluchtsort geworden ist. Es ist mehr als nur ein Job für mich gewesen. Ich habe es hier geliebt. Jede einzelne Stunde, die ich hier verbracht habe, habe ich genossen, jeden Text, den ich schreiben, jedes Interview, das ich führen durfte. Sogar meine Chefin habe ich irgendwann zu schätzen gelernt, auch wenn sie zum Drachen mutieren kann. Und vielleicht hatte ich auch insgeheim schon mit dem Gedanken gespielt, wie es wohl gewesen wäre, übernommen zu werden, mich zur Journalistin hochzuarbeiten und mit bekannten Persönlichkeiten Interviews zu führen. Und nun ist mein Traum von einer Sekunde auf die andere zerplatzt. Und nicht nur das, Merves Traum vom Medizinstudium hat sich ebenfalls in Luft aufgelöst. Denn ohne die Behandlung wird sie dort nicht studieren können. Vielleicht wird sie ohne die Behandlung auch sonst nicht mehr viel tun … Ich bemerke erst, dass ich zu rennen begonnen habe, als mich jemand am Handgelenk packt und zurückhält.
»Eyla, jetzt warte doch!« Amber zwingt mich dazu, sie anzusehen. Ihre kinnlangen dunkelbraunen Haare wippen auf und ab und sie mustert mich besorgt mit ihren braunen Augen.
»Ich weiß, dass dir dieser Job viel bedeutet, wirklich!«, sagt sie. »Aber du bist gut in dem, was du tust! Du wirst schnell wieder einen finden.« Sie hat leicht reden. Sie ist dort fest angestellt und nicht nur eine Werkstudentin.
»Darum geht es nicht … Ich … ich kann Merves Rechnungen nicht zahlen.« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Ich schlucke und sehe zu Boden.
»Welche Rechnungen?« Amber wirkt verwundert. Dann scheint ihr ein Licht aufzugehen und ihre besorgte Miene weicht echter Bestürzung. »Sie hat wieder …?« Meine beste Freundin schlägt ihre Hände vor den Mund.
»Ich weiß es seit einer Woche. Und dieses Mal wird eine Chemotherapie nicht ausreichen. Sie muss eine alternative Methode versuchen, aber die wird von der Krankenversicherung natürlich nicht übernommen und …« Ich schließe kurz die Augen, um mich zu fangen.
»Deswegen brauchst du diesen Job dringender als jeder andere«, führt Amber meinen Satz zu Ende und schlingt ihre Arme um mich. »Wenn du mit Mrs. Chain redest, sie sieht das bestimmt ein, und dann …«
»Du hast doch gehört, was sie gesagt hat. Sie führt auch nur die Anordnungen durch. Und sie wird wohl kaum einen von den festen Mitarbeitern gegen mich eintauschen. Sie haben gerade nicht die Kapazitäten, mich zu behalten, egal wie dringend es ist.« Ich tue ihren Vorschlag mit einer Handbewegung ab.
»Ich könnte dir etwas leihen!«
»Fünfundzwanzigtausend?«
»Na gut«, lenkt Amber ein. »Aber das hättest du doch auch mit dem Job nicht geschafft.«
»Nein. Aber eher als ohne.« Die Hilflosigkeit schnürt mir die Kehle zu, und es fällt mir zunehmend schwerer, Luft zu holen. Amber streicht mir sanft über den Rücken und gibt mir dadurch Halt.
»Wir kriegen das hin! Ich werde alles tun, um dir unter die Arme zu greifen.« Ich würde ihr so gern glauben.
»Na gut«, flüstere ich.
»Und heute Abend treffen wir uns bei dir und tüfteln einen Schlachtplan aus.« Ambers Tonfall duldet keine Widerrede und ich lächele schwach.
»Okay.«