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3. Kapitel

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»Ich bin ja ein grosser Fan von Schlachtplänen und ich finde, wir kriegen das gut hin.«

– Amber, 26

Abends sitzen Amber, Cassie und ich im Wohnzimmer. Eine Schüssel Nachos steht auf dem kleinen Holztisch vor uns, die ich jedoch kaum anrühre. Die erste Heulattacke habe ich schon hinter mir, aber sicherlich wird mich bald eine weitere übermannen.

»Also, die Behandlung kostet in etwa hunderttausend Dollar?« Amber tippt auf den Block, den sie mit einigen Zetteln vor sich ausgebreitet hat und auf dem die eben genannte Zahl in einem leuchtenden Pink prangt.

»Und du musst mindestens fünfundzwanzigtausend Dollar vorstrecken, damit die Behandlung überhaupt begonnen wird?«, hakt Cassandra nach, die mir gegenübersitzt und an ihrem Weinglas nippt.

»Genau.« Nervös kaue ich auf meiner Unterlippe herum.

»Ein Kredit ist nicht möglich?«

Ich seufze tief, die hinter den Lidern brennenden Tränen unterdrückend. »Nein, meine Mom hat es bereits versucht, aber sie verdient zu wenig, als dass man ihr den nötigen Kredit geben würde. Merve hat zwar ein paar Rücklagen, aber sie muss ja auch irgendwie ihre Miete bezahlen, da kommen höchstens fünftausend zusammen.« Merves Traum ist es seit jeher, Medizin zu studieren, deswegen hat sie das ganze letzte Jahr Vollzeit in einem Café gearbeitet, um sich ihre kleine Wohnung leisten zu können und etwas für das Studium zu sparen. Es ist irgendwie ungerecht, dass das nun alles für ihre Krankheit draufgehen soll.

»Ich bin Studentin, und Richard wollen sie den Kredit ebenfalls nicht geben, weil er bereits das Haus abbezahlt. Meine Mom hat versucht, ihn zu überreden, das Haus zu verkaufen, aber er meint, das sei zu viel verlangt.« Letzteres sage ich verächtlich.

»Okay … Aber deine Mom hat gesagt, dass sie und Richard etwas davon übernehmen können, nicht wahr? Und sie sagte zehntausend?«, will Amber wissen und ich nicke. Ich habe deswegen einen langen Disput mit meiner Mutter geführt, und ich weiß, dass ich unfair bin, aber ich bin zu erschöpft, mich ständig mit ihr wegen Richard zu streiten. Für mich ist Merve alles. Für meine Mom ihre neue Familie. Wäre mein Dad noch am Leben, würde das Ganze anders aussehen, aber das ist er eben nicht. Meine Familie, wie sie einmal war, gibt es nicht mehr. Sie ist zerbrochen, in der Nacht des Unfalls.

»Ich selbst kann dreitausend beisteuern, ohne dass es mit den Wohnungskosten zu knapp wird«, schlägt Amber vor und schreibt beides auf den Block.

»Tausendfünfhundert kann ich abtreten.« Cassie greift nach den Nachos, während Amber mit blauem Kugelschreiber die Zahlen aufschreibt.

»Bleiben noch fünftausendfünfhundert.«

»Ich habe viertausendfünfhundert auf dem Konto. Aber dann kann ich die Miete nicht mehr bezahlen, wenn ich alles abbuche.« Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen, um meine Verzweiflung zu überspielen. Cassie schenkt sich noch mehr Wein ein.

»Aber wenn wir die Anzahlung zusammenbekommen, wie bekommen wir den Rest der Behandlung finanziert?«, spricht sie die Frage aus, die wir bisher in stillem, gegenseitigem Einverständnis ignoriert haben.

»Ich glaube, wir steigen auf was Härteres um, oder?« Amber steht auf und läuft zu unserem Vorratsschrank, um eine Flasche Tequila hervorzuziehen. Obwohl sie offiziell nicht mit Cassie und mir zusammenwohnt, ist sie so oft hier, dass sie sich wie zu Hause fühlt und jeden Winkel unserer Wohnung kennt.

»Ich habe nichts einzuwenden.« Mit einem großen Schluck leere ich das Weinglas vor mir. Wir entscheiden uns dafür, eine kleine Pause von der deprimierenden Planung zu machen, und Cassie schaltet den Fernseher ein. Während Amber und ich Nachos mampfen und die Orangenscheiben für den Tequila schneiden, verfolgt sie gebannt die Werbeanzeigen.

»Habt ihr euch auch schon immer gefragt, wie es wäre, dort mitzumachen?«, schwärmt sie mit verträumter Stimme und ich sehe interessiert auf, halte mit dem Messer inne. »Wo?«

»Bei Love or Lie.« Cassie deutet auf den Fernseher. »Momentan finden die Castings statt.«

Amber nickt und steckt sich eine Orangenscheibe in den Mund, von der sie die Schale fachmännisch entfernt hat. Mein Gehirn braucht eine Sekunde, bis es realisiert, dass ich den Namen der Sendung kenne, und meine Wangen nehmen beinahe augenblicklich ein tiefes Rot an. Entweder ich sage jetzt etwas oder die Geschehnisse des Tages wandern mit mir ins Grab. Aber eigentlich muss ich es ihnen erzählen. Und wenn es nur dafür ist, dass sie an diesem fürchterlichen Tag etwas zu lachen haben.

»Im Leightons war heute eins.« Ich kämpfe mit meiner Selbstachtung und laufe schließlich zu meiner Tasche im Flur, in die ich nach dem Casting den Zettel mit dem Passwort und die Flyer gesteckt habe. Ich halte meinen verdutzten Freundinnen das Stück Papier unter die Nase. »Hier.« Amber reißt mir den Wisch aus den Händen und liest einen Augenblick, dann weiten sich ihre Augen.

»Du hast teilgenommen? Wieso hast du nichts erzählt?«

Ich fahre mir durch die Haare und fühle mich angesichts ihrer Entrüstung beinahe eingeschüchtert.

»Ja, das das war eine Spontanaktion, die mir im Nachhinein sehr unangenehm ist.«

Cassie sieht mich ungläubig an. »Du warst wirklich beim Casting?« Gegen Ende des Satzes schraubt sich ihre Stimme mehrere Oktaven in die Höhe und endet schließlich in einem schrillen Quietschen. »Wie cool ist das denn bitte!«

Ich mustere sie verdutzt und widme mich wieder der Frucht auf dem Küchenbrett. Ehrlich gesagt hatte ich damit gerechnet, ausgelacht zu werden. Ihre Reaktionen verunsichern mich.

»Nee, das ist nichts für mich. Und die Chancen weiterzukommen sind ja eher gering, oder? Da ist es besser, sich auf die Tatsachen zu fokussieren.«

Cassie runzelt argwöhnisch die Stirn und lässt sich wieder auf den Boden vor dem Fernseher sinken, wo sie ihre Beine zum Schneidersitz kreuzt. »Du könntest es ja zumindest versuchen!«

»Ihr habt nicht gesehen, wie viele Bewerberinnen dort waren! Das kann man vergessen. Und ich hasse solche Shows.« Ich verziehe den Mund.

»Love or Lie mag ich eigentlich, aber teilnehmen würde ich niemals«, beteuert Amber und gießt den Tequila in die Gläser. Cassie, die das Gefühl zu haben scheint, ihre Lieblingsserie verteidigen zu müssen, verschränkt empört die Arme vor der Brust.

»Ich finde die Vorstellung einfach schön, dass sich über diese zwei Monate hinweg echte Beziehungen entwickeln! Und der Antrag am Ende ist einfach jedes Mal zum Dahinschmelzen! Ein Pärchen ist sogar immer noch verheiratet!« Sie weist mit dem Zeigefinger auf den Fernseher. »Außerdem gibt es drei Typen, das heißt, auch die Frauen haben mehr Auswahl.«

»Aber das ganze Drama bleibt das gleiche, das ist doch alles schon abgekartet.« Ich verdrehe die Augen und nicke Amber zu, die die Tequila Shots fragend in die Höhe hält, und wir setzen uns neben meine Mitbewohnerin, die den Shot allerdings ablehnt.

»Ich verstehe nicht, wieso sich so viele Frauen dazu herablassen. Das ist doch erniedrigend. Das Einzige, worauf sie scharf sind, ist die Aufmerksamkeit auf Social Media.«

Oder auf das Geld, ergänze ich im Stillen. Amber reckt ihr Glas meinem entgegen und wir stoßen mit einem leisen Klirren an.

»Aber jetzt mal ernsthaft, wieso nimmst du nicht wirklich teil?« Cassie runzelt die Stirn. »Der Dreh geht schon in vier Wochen los. Es würde also sogar zeitlich passen.« Ambers Augen weiten sich und wir verschlucken uns gleichzeitig an unserem Tequila.

Ich versuche kläglich, etwas zu sagen, doch es geht in meinem Röcheln unter. Der Alkohol brennt mir wie Feuer in der Luftröhre. Und ich huste einige Male verkrampft, während mir Tränen in die Augen schießen.

»Geht’s euch gut?« Cassie wendet sich halbherzig vom Fernseher ab, in dem nun ein Ausblick und der Aufruf zum Casting ebenjener Reality-TV-Show gezeigt wird. Sie preisen eine Reise ins verschneite Winterwunderland Alaska an wie den Jackpot selbst, und ich frage mich, wie jemand glauben kann, dass Kälte romantisch sei.

»Planänderung.« Amber hat sich wieder beruhigt. »Du bewirbst dich!«

»Ich werde mich niemals für diese Show bewerben!«

»Das ist die einzige Möglichkeit, so schnell an so viel Geld zu kommen!« Die Wangen meiner besten Freundin glühen regelrecht. »Ja, die Chance, genommen zu werden, ist gering, aber es ist immerhin eine Chance! Und du brauchst für diese zweieinhalb Monate erst mal keine Wohnung, ich ziehe in der Zeit einfach zu Cassie. Wenn ich jetzt kündige, passt das mit der Frist.« Amber reckt eine Hand in die Höhe. »Ich mag meine Mitbewohnerin doch sowieso nicht sonderlich, und damit kannst du getrost all dein Geld vom Konto abheben. Den Rest werden wir schon zusammenkratzen können.« Ihre Argumente erscheinen mir einleuchtend, dennoch weigert sich mein Verstand, das anzuerkennen.

»Ich habe mich beim Casting total blamiert, wirklich! Und es ist doch nicht einmal gesagt, dass ich bis zum Ende komme …«

»Es war bestimmt nicht so schlimm, wie du denkst! Und es gibt drei Typen. Bei einem wirst du es ganz bestimmt schaffen«, mischt sich Cassie wieder ein, die Feuer und Flamme ist. »Du musst dich also nur an denjenigen klammern, der es dir am leichtesten macht.«

»Aber ich kann nicht … wenn …« Ich ringe die Hände. Ich habe heute Morgen mitgemacht, weil es um Geld ging, ja. Aber ich habe nach der anfänglichen Euphorie nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, mich zu bewerben. All die Jahre habe ich solche Sendungen verachtet und das auch zur Genüge kundgetan. Und jetzt stehe ich hier. Schon die Vorstellung von mir als Teil dieser Sendung löst in meinem Kopf mehrere Errors aus. Natürlich habe ich mit dem Gedanken gespielt, aber doch nicht daran gedacht, ihn tatsächlich in die Realität umzusetzen.

»Ich kann doch nicht …«

»Sieh dich an!« Amber springt auf. »Du bist klug, witzig, und für deine Rehaugen würden manche töten! Die werden sich sowieso auf der Stelle in dich verlieben!«

»Ich wäre die hohle Nuss in der Show!«

»Na und? Dann bist du die hohle Nuss, die zweihundertfünfzigtausend auf dem Konto hat!« Cassie rüttelt mich leicht an der Schulter.

»Wenn du in die Endrunde kommst, Eyla, dann kannst du jede Behandlung der Welt bezahlen. Eine Viertelmillion.« Ambers Stimme ist nun zu einem Flüstern gesenkt. »Das Einzige, was du tun musst, ist, sie zu verführen und am Ende das Geld zu wählen.« So wie sie das sagt, klingt es sehr einfach. Ich denke einen Augenblick nach.

»Lasst uns doch einfach mal recherchieren und das Formular ausfüllen.« Cassie schleppt aufgeregt ihren Laptop herbei, den sie vor uns aufklappt. Ich scanne den QR-Code vom Flyer ab und wir kopieren den Link, um ihn in Cassies Browser einzufügen. Ein Feld ploppt auf, in das ich meine Nummer und das Passwort vom Casting eingebe. Dabei bin ich so aufgeregt, dass ich mich mehrmals vertippe. Nach der dritten Fehlermeldung hält es Amber jedoch nicht mehr aus und stößt mich unsanft zur Seite, um an meiner Stelle die Zahlen einzutippen. Eine Bestätigung erscheint auf dem Bildschirm, dann öffnet sich ein Fragebogen. Ich inspiziere ihn kurz und beginne, meine Personalien sowie mein Geschlecht und meine sexuelle Orientierung einzutragen. Es gibt eine Reihe von Fragen zu meiner Herkunft, und ich gebe an, dass meine Großmutter mütterlicherseits von der Türkei nach Amerika ausgewandert ist, aber ein Teil der Familie noch in der Türkei lebt. Dass wir mit diesem Familienzweig nichts zu tun haben, verschweige ich. Außerdem wird erneut ein Bild von mir gefordert. Bevor wir aber lange suchen müssen, erinnert sich Cassie an eines, das ich ihr vor einer Weile geschickt habe, und wir laden es hoch. Auf einer weiteren Seite befinden sich ein paar Felder zu meinem Beruf und meinen Hobbys, und es gibt doch ernsthaft eines, in dem man Geheimnisse eintragen soll.

»Das ist doch nicht wahr, oder?« Ich zeige anklagend darauf. Amber lacht und Cassie schnaubt.

»Shhht!«, sagt sie und deutet auf den Bildschirm. »Weiter!«

Ich verdrehe die Augen. Dann tippe ich War noch nie richtig verliebt ein. Erstens stimmt das und zweitens bin ich mir sicher, dass es hier über hundert Damen gibt, die dieses Feld für Ich bin noch Jungfrau missbrauchen. Aber so ist das eben, jeder wird diesen Fragebogen so gut es geht zu seinen Gunsten nutzen, wieso soll ich es also nicht auch tun? Vielleicht hätte ich auch Ich hasse Schnee hineinschreiben können, vielleicht hätte mich auch das weitergebracht, aber das ist nun nicht wirklich ein Geheimnis, das ich lange verbergen kann. Ich sehe noch einmal nach, ob ich alle Fragen beantwortet habe, auch die über meine schulische Ausbildung und meine Kindheit. Vorsichtig sehe ich zu meinen Freundinnen auf. »Mehr Alkohol?«

Drei weitere Tequila Shots braucht es, bis ich annähernd dazu bereit bin, die dümmste, aber vielleicht wichtigste Entscheidung meines Lebens zu treffen. Zehn Wochen. Nur zehn Wochen, dann wäre dieser Horror vorbei. Das sage ich mir immer wieder, als ich mit dem Cursor über dem Senden-Button kreise und mich nicht dazu durchringen kann, ihn endlich zu klicken.

»Tu es!« Cassie hält mir ihr Weinglas hin. Sie ist ebenfalls beschwipst, und weil sie ihre Hand nicht ruhig halten kann, während sie mir die dunkelrote Flüssigkeit vor die Nase hält, finden ein paar Tropfen ihren Weg auf meine weiße, flauschige Schlafanzughose. Kurz weiten sich meine Augen in viel zu spät einsetzendem Schreck, während ich zusehe, wie das Rot in dem mit kleinen Cupcakes verzierten Stoff versickert. Mir ist bewusst, dass ich es nie wieder herauskriegen werde. Ich entscheide aber, dass ich zu betrunken bin, um mich über Weinflecken zu ärgern, und trinke entschlossen einen großen Schluck aus dem Glas meiner Mitbewohnerin. Sie hat sich mittlerweile etwas schwankend auf den Weg zu unserer behelfsmäßigen Schnapsbar gemacht und stellt erneut drei Shotgläser auf den Tisch. Eins für mich, eins für sich selbst und eins für Amber, die gerade von der Toilette zurückkommt. Ich seufze. Je mehr ich intus habe, desto eher werde ich endlich dieses verdammte Formular abschicken. Eine Notwendigkeit, der ich nicht entrinnen kann, weil mir keine andere Wahl bleibt.

»Senden!« Cassie schlägt einen Befehlston an und entscheidet sich dieses Mal für Bacardi. Ich hasse Bacardi, aber selbst das ist mir egal.

»Ich kann das nicht!« Verzweifelt raufe ich meine Haare und starre weiter auf den Bildschirm, auf dem nun das zuvor hochgeladene Abbild meiner selbst im DIN-A6-Format prangt und vorgaukelt, besonders glücklich zu sein. Als das Bild entstanden ist, bin ich es vielleicht gewesen. Glücklich. Es ist ein Porträt, auf dem ich mich über das Geländer der Veranda meiner Eltern gelehnt habe, meine braunen Haare verstrubbelt vom Wind und meine Augen glühend vor Lebensfreude. Es liegt erst drei Jahre zurück, doch es kommt mir vor wie eine Ewigkeit.

»Hier. Trink! Kein Trübsal blasen.« Cassandra stellt mir das bis zum Rand gefüllte Shotglas hin und ich nehme es dankbar an. Der wievielte ist das heute? In einem einzigen Zug leere ich es, und mit der Flüssigkeit, die meine Speiseröhre hinunterrinnt, lösen sich auch allmählich die düsteren Gedanken in meinem Kopf.

»Danke.« Ich stelle das Glas ab.

»Du tust das für sie. Also klick endlich.« Amber legt mir unterstützend eine Hand auf die Schulter. Ich atme tief durch, schließe kurz die Augen, um mich zu konzentrieren, und lege dann erneut den Finger auf das Touchpad des Laptops. Mit zusammengepressten Lippen starre ich auf den Button.

»Für Merve«, bekräftigt Cassie.

»Für Merve«, murmele ich und schicke meine Bewerbung endgültig ab.

Love or Lie

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