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Kapitel 3

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Eine Berührung an seinem Arm schmerzte derart brutal, dass es ihn aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit herausriss.

Mit einem Aufschrei erwachte Desith und schlug instinktiv zu, blind, aber durch den nebligen Schleier der Schmerzen spürte er, wie seine zur Faust geballte Hand in etwas Warmes einschlug, das sofort nachgab. Ein dumpfer Laut drang an sein Ohr, gefolgt von einem geknurrten Fluch. In seinem Schlag hatte keine Kraft gelegen, aber seinen Angreifer offensichtlich überrascht. Noch immer entsagten ihm seine Sinne den Dienst, waren desertiert, er konnte nicht richtig sehen, seine Lider waren wie verklebt, das versetzte ihn noch mehr in Panik. Er spürte nur Schmerz, Hitze auf der Haut, und eine beunruhigende Kälte in seinem linken Arm, roch nichts, hörte unheilvolle dunkle Stimmen und Schritte um sich herum, und seinen eigenen, rasenden Herzschlag, der schwer vor Anstrengung in seinen Ohren dröhnte.

Und alles, woran er sich erinnerte, waren blaue Flammen, klares Wasser und gesichtslose Dämonen in dunklen Umhängen. Er warf sich brüllend umher, war sich dem Schaukeln unter sich überhaupt nicht bewusst. Hände packten ihn plötzlich an Armen und Beinen, er kämpfte mit aller Kraft gegen sie an. Stimmen erhoben sich rund herum, traten näher, er hatte das Gefühl, anzuhalten, obwohl ihm zuvor nicht bewusst gewesen war, dass er sich bewegt hatte. Es war ihm auch gleich, er wusste nur eines: er musste sich wehren.

Schreiend, tretend und schlagend versuchte er, seine Angreifer abzuwehren, während sein geschwächtes Herz einen Satz nach dem anderen machte. Ein Feuer loderte in ihm und ließ ihn schwitzen und zittern zugleich. Übelkeit kam auf und er musste spucken. Wieder fluchte jemand, ein paar Hände ließen locker, er warf sich gegen den Angreifer, dem dieser Fehler unterlaufen war.

Schmerz entfachte, als er hart auf dem Boden aufkam, und breitete sich wie ein Buschfeuer über seine Rippen aus, stach ihm mitten ins Herz und brachte ihn zum Keuchen. Es raschelte unter ihm, als lägen sie in einem Laubhaufen, während er blind mit seinem Angreifer rang.

»So tut doch was, Herr!«, ächzte eine alte Stimme, dünn wie Papier. »Er bringt sich noch um.«

Unter ihm grollte ein Mann: »Nehmt ihn runter von mir! Der hat doch die Tollwut!«

Irgendwo lachte jemand schmutzig: »So nah war dir noch kein sterbliches Wesen, wah Rurik?«

»Leck mich, Bragi!«, knurrte der Dämon, den Desith unter sich festhielt. »Nehmt ihn runter, bevor ich ihm das Genick breche!«

Desith schrie wütend, etwas anderes bekam er nicht heraus. Es machte ihn rasend, dass dieser Dämon glaubte, er käme gegen ihn an, obwohl Desith ihn doch bereits festgesetzt hatte! Pah! Bevor diese Kreatur ihm das Genick brach, hatte er sie mit bloßen Händen zerrissen!

»Beim Allmächtigen, so beruhige dich doch endlich! Desith!« Er wurde hochgerissen, ein Felsen schien sich um seine Brust zu legen und hielt ihn mühelos in der Luft, gepresst an einen Berg. Desith strampelte, fauchte und spürte, wie die Wut in ihm ein gleißendes, weißes Licht in seinem Inneren zum Erstrahlen brachte, das seinen Schmerz linderte und seinen Gebeinen Lebensgeister einhauchte. »Lasst mich los, aahhhhh, ihr verfluchten Dämonen, mich bekommt ihr nicht!«

»Er ist von Sinnen, Herr! Schnell, wir müssen ihm Kräuter einflößen!«

»Still, Desith, es ist jetzt genug!«, sagte der Berg, der ihn gefangen hielt, die Stimme kam ihm seltsam vertraut vor, doch seine Furcht und sein Überlebenswille waren stärker als der Funke Vertrauen, der erwachte. Er versuchte, seinem Widersacher die Ellenbogen in die Rippen zu rammen, doch mehr als ein Grunzen entlockte er dem Angreifer damit nicht. Aus purer Verzweiflung schlug er schließlich die Zähne in den felsengleichen Arm, der ihm die Luft abdrückte.

Der Klammergriff löste sich dadurch um keinen Fingerbreit, aber es war eine honigwarme Genugtuung, den darauffolgenden schmerzerfüllten Schrei zu vernehmen.

Und in diesem Moment wusste er, wer ihn festhielt.

Bevor er sich jedoch besinnen konnte, wurde er bereits grob auf den Boden geschubst und mit einem recht unsanften Tritt auf den Rücken befördert.

Er blinzelte, die grobe Behandlung sorgte dafür, dass sich sein Blick ein wenig klärte.

Ein paar große Schatten standen um ihn herum, breite Schultern, lange Zöpfe und Bärte – keine gesichtslosen Geister unter Umhängen, nur ein paar stinkende Barbaren.

Er wurde an den Schultern gepackt und niedergedrückt, hart schlug ihm jemand ins Gesicht.

»Herr!«, rief die krächzende Stimme erschrocken. »Nicht doch, er ist zu schwach!«

Der Protest wurde ignoriert.

»Beiß mich nie wieder, Desith Airynn von Elkanasai, sonst zieh ich dir alle Zähne, dann frisst du zukünftig nur noch Grütze, kapiert?«

Als Desith die großen tiefbraunen Augen mit den violetten Sprenkeln darin erkannte, hätte er beinahe vor Erleichterung geschluchzt. »Vynsu?«, ächzte er mit schwacher Stimme. Da fiel ihm alles wieder ein, der Fluss, die Rettung, Derrick…

»Rick!«, rief er und klammerte sich mit knochigen Fingern in Vynsus Wams. »Ihr … ihr…«

Vynsus violette Sprenkel verloren an Intensität, als in sein grobes Gesicht ein mildtätiger Ausdruck trat. »Keine Sorge, der Großkönig wird ihn suchen und heim-«

»Nein!«, fuhr Desith auf, und bereute es sofort. Ihm stach ein so scharfer Schmerz in den Kopf, dass ihm schwindelig und übel wurde. Etwas Warmes rann ihm über die Schläfe und Wange, Vynsu riss die Augen auf und jemand hinter ihm verwünschte Desith.

»Er hat sich die Naht am Kopf aufgerissen, der Narr!«

Desith achtete nicht darauf, er versuchte, Vynsus Aufmerksamkeit durch ein Schütteln zu erlangen, und beschwor ihn furchtvoll: »Ihr dürft ihn nicht suchen! Ihr dürft niemals mehr nach ihm suchen! Niemals! Warn den Großkönig! Ihr dürft ihn nicht zurückbringen! Ihr…«

»Schsch!« Vynsu drückte ihn auf den feuchten Waldboden, die Sonne fiel über dessen Kopf durch das Blätterdach und blendete ihn. »Ruhig. Alles ist gut…«

»Nein … ihr … ihr dürft ihn nicht …« Schwäche suchte Desith heim, alles drehte sich. »Bitte… nicht…«

Ein Schatten trat neben Vynsu, ging in die Hocke. Desith riss noch erschrocken die Augen auf, aber da wurde ihm bereits feines Pulver ins Gesicht gepustet. Eher als ihm lieb war, sank er zurück in einen übermächtigen Schlaf, der wie ein Dämon seine Krallen in ihn schlug und ihn in die Tiefe zog. Es war, als würde er in einem Meer aus öligem, schwarzem Wasser ertrinken, doch immerhin hatte er dort weder Sorgen noch Schmerzen.

*~*~*

Sie stand auf dem Eis im weißen Nebel. Der schneidende Wind wehte die dichten Schwaden über den gefrorenen See, doch die Sicht blieb versperrt. Sie trug ein Nachthemd, das dünn genug war, um ihre rosigen Brustwarzen hervorschimmern zu lassen. Der Stoff war so weiß wie der Dampf, der sie einhüllte, nur ihr flammenrotes Haar leuchtete aus der Kälte hervor, ihre Iriden besaßen die gleiche Farbe wie das frostige Eis, auf dem sie mit nackten Füßen stand.

Sie winkte ihn zu sich.

Vynsu blinzelte. Der Schnee unter seinen Füßen knirschte, als er sich in Bewegung setzte. »Was willst du mir zeigen?«

Sie legte einen zierlichen Finger über ihre blauen Lippen, ihre Wimpern waren eingefroren. Die Antwort blieb sie ihm schuldig, aber sie winkte ihn drängend zu sich. Vorsichtig trat er näher, das Eis, auf dem er ging, war brechend dünn, er hörte es unter seinem Gewicht gefährlich knarren. Furchtvoll blickte er hinab, sein Atem bildete weiße Wolken vor seinem Gesicht. Auf dem Eis lag Blut, es färbte den Frost rosa. Unter Vynsus Stiefeln schwammen Gesichter von Leichen, gefallene Krieger mit offenen, gefrorenen Augen.

Er sah sich auf dem See um, Schwerter steckten im Schnee, gebrochene Schilde lagen daneben. Es war grabesstill. Eine Schlacht hatte hier gewütet, die Lachen dampften noch. Vynsu bemerkte die Waffe in seiner Hand und starrte sie verwundert an. Wo kam sie her? Seine Klinge und sein Arm waren Blut überströmt.

Kalte Hände umfassten sein Gesicht, er wollte zurückzucken, doch sie hielt ihn sanft fest, hob seinen Blick an, bis er ihrem begegnete. Ihre Augen waren leer, ihr Gesicht bleich, kein Leben schien durch ihre Adern zu fließen. Der Wind wehte ihr das rote Haar in die Stirn, es wirkte durch ihre weiße Haut noch röter.

»Was willst du mir zeigen?«, wiederholte er atemlos.

Sie ließ ihn los, trat einen Schritt zurück und zeigte mit einem ausgestreckten Arm in die Mitte des Sees. Vynsus Herz krampfte, er wollte sich nicht umdrehen, aber eine unbesiegbare Macht ergriff von ihm Besitz und drehte seinen Kopf zur Seite.

Dort sah er es, die beiden Krieger. Feinde, wie es schien. Das Bild war eingefroren, nicht mehr als ein lebloses Gemälde. Einer der beiden kniete in Blut, der andere lag sterbend in seinen Armen und starrte ungläubig zu ihm auf. Ein Schwert steckte in der schmalen Brust des Sterbenden, die Faust des Siegers lag noch darum. Vynsu konnte sein Gesicht nicht erkennen, es wurde von blonden Strähnen verhüllt. Doch den Sterbenden erkannte er hingegen mit einer erschreckenden Klarheit.

Es war Desith, aus dem das Leben entschwand.

»Vynsu?«

Ein Rütteln an seiner Schulter, weder sanft noch grob, ließ ihn die Augen aufschlagen. Jori stand über ihm, in der Nacht wurde sein hartes Gesicht angestrahlt vom knisternden Lagerfeuer, an dem Vynsu saß.

»Deine Brühe verkocht«, sagte Jori mit seiner ruhigen, wohltuenden Stimme. Er klopfte Vynsu noch einmal auf die Schulter, bevor er an ihm vorüberging und sich ebenfalls im Schein der Flammen niederließ. Er holte seinen Wasserschlauch hervor und trank davon.

Vynsu öffnete die verschränkten Arme und beugte sich nach vorne, Moos und Rinde von dem umgestürzten Baumstamm, der ihm als Stütze gedient hatte, klebten ihm am Rücken, und als der Dreck abfiel, landete er natürlich in seinem Hosenbund und rutschte in seine Ritze. Grunzend bewegte er das Gesäß hin und her, dann lehnte er sich über das kleine Feuer und starrte in den Kessel, der darüber dampfte. Funken sprühten in der Dunkelheit unter dem geschwärzten Topf hervor, glommen flüchtig wie Glühwürmchen auf, um dann in der schwarzen Nacht zu verglühen. Irgendwo maulte ein Jaguar im Dschungel.

Vynsu rührte ein wenig in der Brühe und wirbelte die Knochen auf. Ein starker, leckerer Duft wehte ihm in die Nase, der ihn umgehend in seine Kindheit entführte.

»Von wem hast du geträumt?« Joris Nachhaken war vorsichtig, wie der Vater, der den Sohn fragte, wovor er sich fürchtete.

Vynsu zuckte mit den Achseln, er wollte nicht seine Träume vor seinen Freunden breittreten. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, wollte er sie einfach so schnell vergessen, wie sie ihn heimsuchten.

»Du hast gewimmert wie ein Lämmchen«, nun lag Belustigung in der Stimme seines Freundes, »hast du von einer Frau geträumt?«

Nicht von irgendeiner, dachte Vynsu bei sich, und wieder hatte er Desiths Tod gesehen. Immer wieder derselbe Traum, das machte ihn unruhig. Er blieb Jori die Antwort aber schuldig. Stattdessen spähte er angestrengt in seinen Kessel und ließ durch stetiges Rühren die Hitze entweichen.

»Wusste nicht, dass du kochen kannst«, wechselte Jori nach einem Moment das Thema. In seiner Miene lag ein wissender und gleichwohl amüsierter Ausdruck.

»Das Rezept meiner Mutter«, verteidigte sich Vynsu und rührte weiter. »Diese Schamanen wissen doch gar nicht, was sie tun.«

»Hm«, brummte Jori und stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Ich denke, dein Schützling hätte längst das Zeitliche gesegnet, verstünde der Schamane sein Handwerk nicht. Aber wenn dich deine Sorge dazu bringt, uns Brühe zu kochen, werde ich dich nicht belehren.«

Vynsu sah nicht auf, als er eine Holzschale vom Boden hob und sie füllte. »Die Suppe ist nicht für euch.«

Jori lachte leise in sich hinein. »Das habe ich befürchtet. Aber wissen das auch die anderen?«

Vynsu sah ihn ernst an. Er hatte nicht den ganzen Abend gekocht, damit seine Männer Desiths Kraftbrühe wegschlurften.

»Geh«, lächelte Jori ihm milde zu, »ich bewache deinen Kessel.«

Vynsu zögerte noch einen Moment, aber wenn er einem seiner Männer vertraute, dann Jori.

Seufzend stand er mit der Brühe in der Hand auf, seine Glieder fühlten sich steif an, seine Beine so schwer wie mit Eisenplatten versehen. Er versuchte, sich seine Erschöpfung nicht anmerken zu lassen, aber der mitleidvolle Blick seines Freundes sagte alles, als er an ihm vorüber ging.

Er hörte Jori noch leise, aber ehrlich sagen: »Hast ein gutes Herz, mein Prinz.«

Ihm lag auf der Zunge, erneut zu betonen, dass er nicht mehr der Prinz war – und er gewiss kein gutes Herz besaß –, tat dann aber der Einfachheitshalber so, als hätte er den Kommentar nicht gehört und ging auf das einzige Zelt in ihrem winzigen Lager zu, das er zusammen mit Jori am frühen Abend aufgebaut hatte, während die anderen jagen und Früchte sammeln waren und der Schamane dem bewusstlosen Desith die Naht an der Stirn wieder zusammengeflickt hatte.

Als er nun das Zelt betrat, war es still im vom Kerzenschein gefluteten Innerem, und so stickig wie in den Schwitzbuden Carapuhrs. Nach seinem Traum kam ihm die Ruhe beinahe beängstigend vor, als würde der Tod über Desith stehen, ihm zuflüstern, ihm zu folgen.

Der Schamane war nicht anwesend, vielleicht holte er Wasser oder verrichtete seine Notdurft.

Trotz Räucherwerk, das in vielen Schalen vor sich hin qualmte, konnte Vynsu den beißenden Geruch von Pisse und Scheiße im Krankenzelt überdeutlich wahrnehmen.

Desith lag mit dem Rücken zu ihm auf einer Pritsche aus Leder und Fellen, nackt und leicht rosig, er war gerade erst gesäubert worden, die Waschschale stand noch an seinem Lager, der Nachttopf war leer. Vynsu schob alles mit seinem Fuß zur Seite, zog mit einer Hand einen Hocker heran und setzte sich dicht neben ihn.

Desith besaß das gleiche rote Haar wie seine Schwester. Kein blasses, farbloses Rot, wie es das Volk aus den südlicheren Fürstentümern Carapuhrs oft besaß, sondern ein lebendiges, feuriges Rot. Es hatte sich über die Jahre nicht verändert, noch immer trug er es lang und zu einem Zopf, wobei der Schamane den Knoten und Desiths rotes Haarband gelöst hatte, sodass sich die struppigen Strähnen nun wie wütende Flammen auf den Fellen ausbreiteten. Doch anders als die Haarpracht seiner Zwillingsschwester Lohna beschrieb Desiths Haar keine fließenden, seidenen Wellen, es wirkte wie abgefressen. Um das Gesicht herum reichten ihm die längsten Strähnen bis zum Kinn, die kürzesten nur bis zur Schläfe, hinten ließ er das Haar länger, dort reichten die Spitzen der längsten Strähnen bis zu der Kuhle seiner Taille, die kürzesten nur bis zu seinem schlanken Nacken.

Er war dünn geworden, stellte Vynsu besorgt fest, beinahe mager.

Mit der freien Hand fuhr er Desiths Rippen nach, die sich unter der warmen, seidenen Haut abzeichneten. »Wann hast du zuletzt gegessen? Was habt ihr nur solange da draußen getrieben?« Vynsu hätte es gerne verstanden, er kannte den Grund für Desiths und Derricks Reise, aber er konnte bis heute nicht verstehen, weshalb sie all die Jahre so verbissen nach einem Toten gesucht hatten, so tief im Dschungel. Warum waren sie nicht nach einem oder nach zwei Jahren heimgekehrt? Es war eine sinnlose Suche gewesen, irrsinnig und gefährlich. Der junge Mann, der nun vor Vynsu lag, war längst nicht mehr der flapsige Bursche von damals, und die Blessuren seines Leibes zeugten von der Hölle, durch die er gegangen sein musste.

»Warum seid ihr nicht nach Hause gekommen?«, flüsterte er Desith drängend zu, erhielt natürlich keine Antwort.

Verbände waren um Desiths Arme, Schultern, Beine und den Kopf gewickelt, eine Salbe roch stark nach scharfen Kräutern und färbte die Binden gelb. Irgendwie schien es Vynsu wie ein verdammtes Wunder, dass der kleine Wildfang noch lebte, die Vergiftungen der Schlangenbisse, die Verbrennungen an seinem Arm, selbst die Kopfwunde hätten tödlich enden können, und doch lag Desith vor ihm, atmete, fühlte sich warm und nicht einmal sonderlich fiebrig an, schimmerte bereits wieder rosig, obwohl er noch vor einer Nacht kurz davor gestanden hatte, in seine Nachwelt einzutreten – wie die Elkanasai ihren Tod nannten.

»Wie kannst du noch am Leben sein?« Vynsus Stimme war nur ein raues Flüstern, natürlich erwartete er von Desith keine Antwort, seine Frage war ohnehin mehr an das Schicksal gerichtet.

Doch auch wenn es schien, als wäre er auf dem Weg der Besserung, fürchtete Vynsu sich davor, dass sie einem Trugschluss aufsaßen. Immerhin konnte Desith nicht so schnell gesunden, das war völlig unmöglich. Und Melecay hatte ihn gewarnt, dass Desith besser nichts zustieß, während er in Vynsus Obhut war. Er konnte es sich schlicht nicht erlauben, einen Fehler zu begehen.

Vorsichtig umfasste er Desiths Schulter und drehte ihn langsam auf den Rücken, das Fell eines Braunbären bettete ihn sanft. Langsam schob Vynsu ihm einen Arm unter den Kopf und stützte ihn leicht auf. Desith brummte schläfrig, er bekam die Augen nicht auf. »Trink, das gibt dir Kraft«, hauchte Vynsu, dann pustete er in die Suppe, bevor er die Schale an Desiths trockene, aufgerissene Lippen führte.

Erst verschluckte er sich, aber dann trank er, halb im Schlaf, gierig wie ein Hund, ohne jeden Anstand, lauthals saufend.

Für einen Moment betrachtete Vynsu Desiths Antlitz. Immer schon hatte er dieses Gesicht mit großer Irritation wahrgenommen. In seiner Heimat bedeutete Männlichkeit Breite, Muskeln, markante Züge. Alles an einem Mann musste mächtig wirken, um einzuschüchtern. Desith war weder breit noch groß, auch seine Züge waren nicht im eigentlichen Wortsinn männlich, jedoch auch nicht hager oder gar weiblich. Etwas schlank, gewiss, das war nicht abzustreiten, das Kinn lang und spitz, die Augen zu groß, die Brauen zu dünn, die Stirn klein und unauffällig und die winzige Nase frech nach oben gebogen, weshalb Vynsu ihn früher oft mit dem Schimpfwort »Sau« betitelt hatte. Zarte Sprenkel überzogen heute zahlreich sein gekrümmtes Nasenbein, doch auch sie konnten nichts daran ändern, dass Vynsu überhaupt nichts Weiches an diesem Gesicht finden konnte, nichts Sanftes. Es war hart und kalt.

Desith war kantig, nicht typisch männlich, aber doch auf eine andere Weise unverkennbar maskulin. Und während er ihn so betrachtete und ihm zu trinken gab, musste er feststellen, dass Desith bis auf die Farbe seines Haars und seiner Augen rein gar nichts mit seiner Zwillingsschwester gemein hatte. Aus einem unbestimmten Grund, enttäuschte das Vynsu. Er hätte sie gern noch einmal gesehen, und sei es nur in der Ähnlichkeit, die sie zu ihrem Bruder gehabt hatte. Doch Desiths fehlende weibliche Züge zerstörten jegliche Illusion.

Desith beendete das Trinken mit einem lauten Schmatzen, gefolgt von einem unsittlichen Grunzen, als er Luft schluckte. Vynsu legte ihn wieder ab und stellte die geleerte Suppenschale auf den Boden. Flüchtig flackerten Desiths Lider, das frostige Blau seiner Iriden blitzte auf, darin erkannte Vynsu unter der tiefen Erschöpfung auch noch den Funken Eiseskälte, den Desiths Blick schon immer besessen hatte.

Manchmal fand er es seltsam, dass ausgerechnet der ruhige und gutherzige Derrick sich in diesen aufmüpfigen Burschen verliebt hatte, sie waren gänzlich gegensätzlich. Vielleicht war auch das schon das ganze Geheimnis ihrer Liebe, außerdem hatte Desith mit Derrick seinen verstockten Vater ärgern können.

Noch ein weiteres Mal zitterten Desiths Lider, Erkennen stand nun in seinem Blick, begleitet von einer tiefen Angst. »S…sucht ihn nicht«, flüsterte er schwach, hob eine Hand, als wollte er Vynsus Arm packen, doch sie fiel nutzlos wieder herab und blieb mit zuckenden Fingern liegen. »I…ihr dür…dürft ihn nicht s…suchen.«

Vynsu runzelte nachdenklich seine Stirn, legte Desith aber beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Schlaf«, trug er ihm auf, »ich wache über dich.«

»N…nein…« Aber seine Erschöpfung ließ ihm keine andere Wahl, außerdem schien er noch unter dem Einfluss des Schlafpulvers zu stehen. Ohne weiteren Protest sackte sein Gesicht zur Seite, und er sabberte auf die Felle.

Eine Weile blieb Vynsu einfach dort sitzen, ertrank in tiefen Grübeleien.

Irgendwann schlug jemand die Zeltplane zurück und streckte den Kopf herein.

»Wie geht es ihm?«

Vynsu winkte Jori näher, zog ein Fell über Desiths Blöße und stand auf. Schulter an Schulter blieben sie vor dem Krankenlager stehen und sahen auf ihren Schützling herab.

»Erstaunlich, er wirkt fast als wäre er über den Berg.«

»Nicht wahr?« Vynsu rieb sich nachdenklich das breite Kinn, seine dichten Stoppeln kratzten. »Dabei wäre er vor nicht einmal einem Tag beinahe sang und klanglos abgekratzt.«

»Stammt sein Vater nicht von Luzianern ab?« Jori legte nachdenklich den Kopf schief. »Vielleicht hat er ihre … Stärke und schnelle Erholung geerbt.«

»Hm«, brummte Vynsu grübelnd. Dabei fiel sein Blick auf Desiths Handgelenke und auf die langen, wulstigen Narben. Als Desith sich damals die Venen aufgeschnitten hatte, hatte er viel länger gebraucht, um zu gesunden. Doch seine Überlegung behielt er für sich, sein Volk – und seine Männer – konnten unglaublich abergläubig sein, und er wollte keine schlafenden Hunde wecken.

»Ich muss dir etwas beichten.« Jori seufzte schwer, als Vynsu ihm erwartungsvoll das Gesicht zuwandte. »Du musst neue Brühe kochen.«

Genervt ließ Vynsu die massigen Schultern hängen. »Wolltest du nicht aufpassen?«

»Das habe ich, Bruder. Rurik und Vala haben den Kessel nicht angerührt, als ich ihnen sagte, für wen er ist, aber…«

»Bragi«, beendete Vynsu Joris Satz und sah zu, wie sein Freund betreten die Augen niederschlug.

»Ich hab gesagt, er soll die Finger davon lassen, aber du kennst ihn … frech wie Dreck. Meinte, wenn du nicht willst, dass er was isst, musst du schneller aufessen.« Jori versuchte, das Thema einfach abzuwinken.

Vynsu schnaubte mit einem amüsierten Lächeln. »Du musst diesen Dieb dringend zähmen, mein Bruder, er tanzt dir ziemlich auf der Nase herum!« Lachend schlug er Jori auf den Rücken.

Dieser brummte etwas Unverständliches und verbarg seine Verlegenheit, indem er sich über den grimmigen Mund rieb.

Erneut wurde die Zeltplane aufgeschlagen, der Schamane kam herein, behangen mit allerlei Schmuck aus Zähnen und Krallen großer Raubtiere, sein Gewand war nicht mehr als Lederfetzen, die einen Lendenschurz und einen Umhang aus Bärenpelz zusammenhielten.

Der kleine, hagere Mann war schon alt, sein langes Haar und sein Bart waren so grau wie ein verblasstes Eisenschwert. »Herr«, sagte er, legte sich kurz die Faust über die Brust und neigte regelrecht beim Vorübergehen sein Haupt. Er wirkte in Eile und tüchtig, als er mit einer leeren Schale um Desiths Lager herumging.

»Wie steht es um sein Wohl?«, hakte Vynsu nach.

Der Schamane stellte sich ihnen gegenüber. »Es ist…«, er schien mit sich zu hadern, und Vynsu tauschte einen unbehaglichen Blick mit Jori.

»Es ist seltsam, Herr«, brachte er schließlich hervor, nahm einen von Desiths schlaffen Armen und hielt die Finger in den Kerzenschein. »Seht Ihr, die Knöchel waren heute Morgen noch gebrochen, jetzt sind sie so verheilt, als wären sie nie gebrochen gewesen.« Er zuckte mit den Schultern und legte den Arm ab. Dann schüttelte er ratlos seinen ergrauten Schopf. »Die Vergiftungen hätten ihn innerhalb weniger Augenblicke töten müssen, selbst meine Kräuter hätten nichts mehr ausrichten können. Ihr kennt die Schlangen in dieser Hölle, Herr, er hätte es nicht überleben dürfen. Aber es scheint, als ob… als ob das Gift ihm nichts hatte anhaben können.«

»Also… er lebt«, schlussfolgerte Vynsu trocken. Neben ihm kratzte sich Jori am Kopf.

»Er lebt«, nickte der Schamane zustimmend und blickte Vynsu entschuldigend in die Augen, »ich kann nur nicht erklären, wie. Es ist, als ob sein Leib viel schneller heilt, als es ein Mensch vermag. Herr, versteht mich nicht falsch, ich bin froh darüber, der Großkönig hat unmissverständlich betont, dass der Junge überleben muss, aber ich muss gestehen, dass er das nicht mir zu verdanken hat. Und ich kann dieses Wunder nicht erklären, er ist ein einfacher Mensch, er dürfte solche Kräfte nicht besitzen.«

»Hm.« Sie verfielen in Schweigen und betrachteten Desith, der von der Unterhaltung überhaupt nichts mitbekam.

»Also kommt er durch«, mutmaßte Jori und warf fragende Blicke in die Runde.

Der Schamane sah auf. »Das vermag nur der Allmächtige zu beantworten. Zwar hat er die Vergiftungen und Brüche wie durch ein Wunder selbst geheilt, aber die Verbrennungen machen mir Sorgen, sie scheinen nicht von normalem Feuer zu stammen und lassen sich schwer behandeln, meine Salben neigen sich dem Ende zu und meine geringe Magie reicht nicht aus.«

Mit anderen Worten, bei dieser Art Verbrennung war die Magie einer echten Hexe gefragt.

»Er wird bis zum Lager im Westen durchhalten müssen«, sagte Vynsu.

Der Schamane nickte reuevoll. »Er wird Schmerzen haben, aber das ist gerade seine geringste Sorge. Herr, ich … ich bräuchte eine helfende Hand.«

Vynsu zog wieder die Stirn kraus. »Wobei?«

»Der Bursche hat sich nicht nur zahlreiche Verletzungen, sondern auch Krankheiten und … Parasiten eingehandelt.«

Jori brummte: »Ich glaube nicht, dass mir gefällt, was gleich folgt…«

»Parasiten?« Vynsus Nachhaken war ihm bereits über die Lippen, eher er sich auf die Zunge hatte beißen können.

»Parasiten«, bestätigte der Schamane. »Sie haben bereits Eier gelegt, die kann ich mit ein paar Kräuteraufgüssen bekämpfen, aber die geschlüpften Larven… Nun ja, Herr, wären wir in einem Lager, würde ich Knechte damit beauftragen, aber wir reisen nur mit … Nun, jemand muss mir zur Hand gehen.«

Vynsu schüttelte leicht den Kopf. »Wobei zur Hand gehen?«

»Wir müssen ihn auf Würmer untersuchen und ihn davon befreien.«

Es dauerte einen Herzschlag lang, bis Vynsu begriff, was der Schamane von ihm verlangte. Mit offenem Mund sah er Jori an.

»Oh… Ihr meint…?« Jori wurde feuerrot. »Wir müssen … sein … seinen …«

»Fabelhaft«, schnaubte Vynsu und befreite Jori von seinem Stottern, als er ihm ins Wort fiel. »Wir sollen ihm Würmer aus dem Hintern puhlen.« Er beugte sich über Desiths schlafendes Gesicht und sagte zu ihm: »Du schuldest mir etwas dafür, Kaisersöhnchen. `Ne ganze Menge, würd ich sagen.« Dann blickte er auf und nickte dem Schamanen zu. »Drehen wir ihn um.«

*~*~*

Als er das nächste Mal aufwachte, fühlte sich sein Verstand um einiges freier an als beim letzten Mal. Es kam ihm zumindest nicht mehr so vor, als ob ein Drache auf ihm säße, sondern als läge nur noch ein Flusspferd auf seiner Brust. Seine Lider ließen sich leichter heben und blieben nach einigem Blinzeln sogar offen. Die Trockenheit seiner Augen schmerzte, ließ sich aber durch ein kräftiges Reiben mit seinen Handballen vertreiben.

Desith erkannte die dunklen Lederwände, die ihn umgaben. Er lag in einem Zelt, ohne jeden Zweifel. Sein Untergrund war weich und hüllte ihn in Geborgenheit, es war stickig, heiß und feucht, ein paar Kerzen schimmerten vor sich hin und warfen große Schatten an die Zeltwände. Er schwitzte, ein Feuer brannte in ihm, seine Beine und Arme zitterten unkontrolliert, er fühlte nur Schmerz, ein Brennen im Rachen, ein Stechen in jedem Muskel, Schwindel herrschte in seinem Kopf.

Als er aufwachte, wollte er sofort wieder einschlafen, das Leben erschien ihm unter diesen Umständen nicht mehr erstrebenswert, der Tod war die süße Aussicht auf Schmerzlosigkeit.

Aber sein Körper schien sich zu weigern, einfach aufzugeben, er kämpfte – und das schmerzte.

Stöhnend rollte Desith sich herum. Ein Geräusch hatte ihn geweckt, ein fremder und doch vertrauter Laut…

Er rollte sich unter sengenden Qualen auf die andere Seite und suchte den Geräuschverursacher. Dieser saß neben seinem Bett auf einem knorrigen, alten Stuhl, der unter seinem Gewicht einzustürzen drohte. Vynsu. Die Arme waren vor der breiten Brust verschränkt, er hing schlaff im Stuhl, die langen Beine ausgestreckt und den Kopf nach vorn gesunken, sodass er unfreiwillig ein Doppelkinn zur Schau trug. Er schlief tief und fest und schnarchte wie ein alter Köter.

Im ersten Augenblick war Desith versucht, irgendetwas nach ihm zu werfen, damit er still war. Er konnte sich nicht daran erinnern, ob Derrick je geschnarcht hatte, und wenn doch, niemals so laut, auch nicht als Drache. Das mag etwas heißen…

Aber noch bevor er seinen schwachen Körper dazu bewegen konnte, nach etwas Werfbarem zu greifen, legte sich das Schnarchen wie ein Wiegenlied über ihn und machte ihn schläfrig.

Vielleicht würde Vynsus Schnarchen alle Drachen der Welt von diesem Zelt fernhalten. Mit diesem beruhigenden Gedanken schlummerte er wieder ein.

Geliebtes Carapuhr

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